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Die Organisation Gehlen übernahm mit dem Personal aus Gestapo und anderen NS-Behörden einige ihrer Feindbilder. Neu formiert unter den Vorzeichen des Kalten Krieges, führte sie bis in die sechziger Jahre hinein ausgedehnte Ermittlungen gegen eine nicht existierende kommunistische Spionageorganisation: die neu erstandene »Rote Kapelle«. Tatsächlich ermittelte sie gegen Überlebende aus dem Widerstand, die aus den Lagern und Zuchthäusern der Nationalsozialisten oder dem Exil zurückgekehrt waren und es ernst meinten mit dem demokratischen Neuanfang. Den Männern, die sich aus verantwortlichen…mehr

Produktbeschreibung
Die Organisation Gehlen übernahm mit dem Personal aus Gestapo und anderen NS-Behörden einige ihrer Feindbilder. Neu formiert unter den Vorzeichen des Kalten Krieges, führte sie bis in die sechziger Jahre hinein ausgedehnte Ermittlungen gegen eine nicht existierende kommunistische Spionageorganisation: die neu erstandene »Rote Kapelle«. Tatsächlich ermittelte sie gegen Überlebende aus dem Widerstand, die aus den Lagern und Zuchthäusern der Nationalsozialisten oder dem Exil zurückgekehrt waren und es ernst meinten mit dem demokratischen Neuanfang. Den Männern, die sich aus verantwortlichen Positionen des NS-Regimes in den Gehlen-Dienst gerettet hatten, diente die Wiederbelebung des Gestapo-Mythos dazu, die NS-Gegner zu denunzieren, um sie vom öffentlichen Leben fernzuhalten und die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung zu schüren, um so ihr eigenes institutionelles Überleben abzusichern.(Band 2 der Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968)
Autorenporträt
Sälter, Gerhard§Jahrgang 1962, promovierter Historiker, Leiter der Abteilung Forschung und Dokumentation in der Stiftung Berliner Mauer, von 2012 bis 2015 Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND; zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. zur Geschichte der DDR und zur Berliner Mauer, zur Geschichte der Geheimdienste und des BND.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Auf satte 13 Bände ist die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundesnachrichtendienstes angelegt. Die ersten drei davon bescheren dem rezensierenden Potsdamer Geschichtsprofessor Frank Bösch jede Menge aufschlussreiche Fakten. Ganz besonders spannend findet der Rezensent Gerhard Sälters Band über die "Phantome des Kalten Krieges", der das antikommunistische Weltbild des Nachrichtendienstes in den Fünfzigerjahren beleuchtet. Selbst der Springer-Verlag und diverse christdemokratische Politiker wurden so zum Gegenstand der Überwachung, erfährt Bösch. Gerne hätte er noch etwas über die Konsequenzen für die Verfolgten erfahren und ob der Geheimdienst sich nur in "Phantomjagden verstrickte" oder auch reale DDR-Spione aufdecken konnte. Es bleiben noch viele Fragen für die nächsten zehn Bände, die Bösch schon gespannt erwartet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2016

Fadenkreuz, Feuerwerk, Futtertrog
Der Gehlen-Dienst pflegte das Gestapo-Feindbild "Rote Kapelle" und unterschätzte die DDR-Staatssicherheit

Die seit 1946 unter amerikanischer Oberaufsicht operierende Organisation Gehlen avancierte just am 1. April 1956 zum Bundesnachrichtendienst. An der Spitze verblieb der frühere Leiter der "Abteilung Fremde Heere Ost" in Hitlers Heeres-Generalstab, Reinhard Gehlen. Jetzt durfte er sich Präsident nennen, was ihn kaum darüber hinwegtröstete, dass er sich mehr Kompetenzen - in Form eines Bundessicherheitshauptamtes, zuständig für Inland und Ausland - gewünscht hatte. In seinen Memoiren "Der Dienst" gab er allerdings 1971 vor, dass er sich stets auf Gefahren aus der großen weiten Welt konzentriert habe, was ihm Eingeweihte und halbwegs Informierte nie glaubten.

Immerhin nutzte "Dr. Schneider" - so der bevorzugte Deckname - seine Erinnerungen dazu, Kostproben nicht nur konspirativer Operationen, sondern auch geheimdienstlicher Obstipationen zu liefern. Beispielsweise habe Martin Bormann "als prominentester Informant und Berater" des Kremls "für den Gegner schon zu Beginn des Russlandfeldzuges" 1941 gearbeitet. Unabhängig voneinander hätten Abwehr-Chef Wilhelm Canaris (der später hingerichtete Hitler-Gegner) und er selbst "die Tatsache" ermittelt, "dass Bormann über die einzige unkontrollierte Funkstation verfügte". Ein "gezielter Ansatz zur Überwachung des neben Hitler mächtigsten Mannes in der nationalsozialistischen Hierarchie" sei ausgeschlossen gewesen. Gehlen prahlte damit, durch "zwei zuverlässige Informationen" seit den 50er Jahren Gewissheit zu haben, dass Bormann "perfekt abgeschirmt in der Sowjetunion lebte": Er "war bei der Besetzung Berlins durch die Rote Armee übergetreten und ist inzwischen in Russland gestorben".

Solche Märchen waren für die Sensationspresse ein gefundenes Fressen. Ohne seine Memoiren wäre der 1979 verstorbene Gehlen vielleicht längst der Vergessenheit anheimgefallen. Die 40 Jahre nach dem Erscheinen von "Der Dienst" berufene Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945 bis 1968 (UHK), ausgestattet mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln, legte Anfang Oktober erste Monographien zu einer Gesamtgeschichte der Ära Gehlen vor. Diese soll auf dreizehn Bände mit gigantischen 7000 Seiten anschwellen. Es wird nicht gekleckert, sondern geklotzt, um Pullacher Mythen und Legenden zu zerstören, "braune Wurzeln" freizulegen und die Kontinuität in den Feindbildern über 1945 hinaus herauszukristallisieren.

Die UHK und ihr Forscherteam haben "freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungsraumes", sind aber verpflichtet, "die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen". Die UHK ist "bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen", heißt es im Vorwort.

Wie nationalsozialistische Feindbilder fortwirkten, arbeitet Gerhard Sälter in dem Buch "Phantome des Kalten Krieges" eindrucksvoll und detailverliebt heraus. Der Gestapo-Mythos von der "Roten Kapelle" - ein merkwürdiger Name, entstanden 1942, als sich die deutsche Abwehr im besetzten Belgien auf der Spur eines weitverzweigten Spionage-Netztes wähnte: ein "Konzert" der von Moskau aus dirigierten Funkstellen mit "Pianisten" in ganz Westeuropa - erlebte Ende der vierziger Jahre eine Neuauflage und hielt sich bis weit in die fünfziger Jahre hinein. Polizeiliche und juristische Verfolger von einst standen mit Rat und Tat dem Gehlen-Dienst zur Verfügung oder wenigstens zur Seite, um überlebende Hitler-Gegner aus dem Umfeld der "Roten Kapelle", aber auch aus dem konservativen Widerstand zu diskreditieren und als kommunistische Gefahr für die Bonner Republik hinzustellen. Bei der Operation "Fadenkreuz" wurden Dutzende Verdächtige in Karteien ohne konkrete Anhaltspunkte erfasst und ausführliche Analysen erdichtet. 1953 standen 249 Personen unter Verdacht, darunter Abgeordnete, Politiker sowie der NWDR-Intendant Adolf Grimme und die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann. Zwei Jahre danach lagen gegen niemanden unter den über Jahre ausgeforschten Zielpersonen "gerichtsfeste Beweise vor, dass er ein Spion sei".

Als der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Otto John Ende Juli 1954 plötzlich in Ost-Berlin auftauchte, stand für die Pullacher fest, dass es sich im Falle dieses früheren Widerstandskämpfers nicht um Entführung, sondern um freiwilligen Seitenwechsel gehandelt habe. Schnell wurde behauptet, "John habe einer ,Oppositionsgruppe gegen die Bundesregierung' angehört"; zu dieser gehörten angeblich der britische Journalist Sefton Delmer, der aus dem Widerstand kommende Axel von dem Bussche sowie die Abgeordneten Hans Schütz (CSU) und Paul Leverkuehn (CDU).

Gehlen übernahm die Vorstellung seines Mitarbeiters Wilhelm Oxenius, dass die "Rote Kapelle" zu "einer weltumspannenden und den Westen in seinen Grundfesten gefährdenden Geheimorganisation ausgewachsen" sei - ohne sich Gedanken darüber zu machen, warum es nicht gelang, "diese Netze in Westdeutschland zu entlarven". Sälter nennt als Gründe für das Festhalten an "Fadenkreuz": Antikommunismus, personelle Kontinuitäten und die Möglichkeit der Instrumentalisierung, weil "mit der Propagierung dieser Feindbilder die Verstetigung und dauerhafte Finanzierung der einmal errungenen Position angestrebt wurde". Letzteres - der Rezensent stellt sich, vom Geheimdienstjargon infiziert, eine nirgendwo ausformulierte, aber still stets betriebene Operation "Futtertrog" vor - hätte der Autor vertiefen dürfen: Es ging vor allem um Festanstellungen, Höhergruppierungen, Renten- und Pensionsansprüche und anderes. Die Gehlen-Truppe schürte laut Sälter eine kommunistische Unterwanderungshysterie in Bonn und agierte als "eine Art Gesinnungspolizei". Im Endeffekt war "Fadenkreuz" ein Erfolg, weil die "behauptete Bedrohung der staatlichen Stabilität und die angenommene Identität von äußerem und innerem Feind" als ein starkes Argument für die Übernahme in den Bundesdienst diente.

1953 gab es einen "Zweikampf" zwischen Gehlen und dem Chef der ostdeutschen Staatssicherheit: Ernst Wollenweber gelang es durch Informationen eines Überläufers, im Rahmen der Aktion "Feuerwerk" Ende 1953 mindestens 218 Personen auf dem DDR-Territorium zu verhaften und damit "die Organisation Gehlen in ihren Grundfesten zu erschüttern". Dies betonen die Autoren Ronny Heidenreich, Daniela Münkel und Elke Stadelmann-Wenz, die alle bei der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen tätig sind, in dem sehr überzeugenden Kooperationsprojekt mit der UHK über "Geheimdienstkrieg in Deutschland": Ihr Ziel ist eine "vergleichende Analyse des Agierens von Staatssicherheit und Organisation Gehlen". Durch Abgleich der Aktenüberlieferung grenzen sie die Zahl der durch die Stasi "verhafteten tatsächlichen V-Männer und V-Frauen der Organisation Gehlen" auf 93 ein; sie waren "überwiegend jünger" als 35 Jahre, so dass auch "jugendliche Abenteuerlust" vermutet wird: "Die Einkommensverhältnisse der 93 V-Leute zeigen deutlich, dass die Bereitschaft zur Spionage durchaus auch monetäre Aspekte haben konnte." Nur elf V-Leute waren übrigens NSDAP-Mitglieder gewesen. Generell könne das Handeln der "Gehlen-Spione" angesichts des Herrschafts-Regimes in der DDR als "politischer Akt" gewertet werden.

Die Staatssicherheit führte einen regelrechten Propagandakrieg: "In zahlreichen Artikeln wurden Namen von Verhafteten, Klar- und Decknamen von hauptamtlichen Gehlen-Mitarbeitern sowie Informationen über die Arbeitsweise der Organisation Gehlen veröffentlicht." Dieses Vorgehen war nach innen zur Abschreckung bei Anwerbungen und nach außen zur Diskreditierung des Gehlen-Dienstes gerichtet, der "als von den Nazis durchsetzte Organisation" charakterisiert wurde. Im Januar 1954 nahm Gehlen vor Parlamentariern Stellung zu dem SED-Vorwurf vom "faschistischen Apparat" in Pullach. Er bestritt nicht, dass frühere Angehörige von SA, SS und SD bei ihm eine neue Aufgabe gefunden hätten. Durch Vorlage von Grafiken sedierte er seine Zuhörer mit der dreisten Behauptung, von den mehr als 1100 hauptamtlichen Angehörigen seines Dienstes wiesen "nur 51 eine solche Vergangenheit" auf und seien "nur an der Peripherie eingesetzt".

Die ostdeutsche Propaganda griff die Organisation Gehlen als eine "der gefährlichsten amerikanischen Verbrecherorganisationen in Westdeutschland und West-Berlin" an. Dies konnte in Bonn "auch als Empfehlungsschreiben für den Gehlen-Dienst gelesen werden". Pullach konterte mit den Aktionen "Brutus" und "Fanfare": "Die im medialen Begleitfeuer dieser Auseinandersetzungen geschürten wechselseitigen Unterwanderungs- und Bedrohungsängste prägten die Nachkriegsgesellschaften in Ost und West." Grundlage für den Erfolg der Organisation Gehlen bei der Rekrutierung von V-Leuten in der DDR war "zweifellos in erster Linie die mangelnde Loyalität der Bevölkerung gegenüber ihrer Regierung". Ein Trost für Ost-Berliner Tschekisten dürfte vielleicht gewesen sein, dass wohl nicht einmal Bormann loyal zu Hitler stand - wenn man denn dem höchst gerissenen Hochstapler, Glücksritter und Rufmörder Gehlen Glauben schenken möchte.

RAINER BLASIUS

Gerhard Sälter: Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes "Rote Kapelle". Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 554 S., 50,- [Euro].

Ronny Heidenreich/Daniela Münkel/Elke Stadelmann-Wenz: Geheimdienstkrieg in Deutschland. Die Konfrontation von DDR-Staatssicherheit und Organisation Gehlen 1953. Ch. Links Verlag, Berlin 2016. 464 S., 45,- [Euro].

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