Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 27,69 €
Produktdetails
  • Verlag: Edition Isele
  • 1999.
  • Seitenzahl: 741
  • Deutsch
  • Abmessung: 50mm x 222mm x 305mm
  • Gewicht: 2098g
  • ISBN-13: 9783861421023
  • ISBN-10: 386142102X
  • Artikelnr.: 07003826
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.06.2000

Die Zerstäubung des Zeitalters
Wolfgang Rohner-Radegasts Riesenroman „Kinderblitz, Jambudvipa” – ein Versuch, das Chaos des 20. Jahrhunderts abzubilden
Der Anspruch, so meint man, könne nur Totalität sein. Mehrere Jahrzehnte hat Wolfgang Rohner-Radegast an seinem Riesenroman Kinderblitz, Jambudvipa geschrieben, der dabei auf ein 3300-Seiten-Manuskript angewachsen ist. Was darin erzählt wird, erstreckt sich von 1924 bis 1994, von Mecklenburg bis Mallorca, von der Ukraine bis Teneriffa, vom geteilten Berlin bis ins vielgestaltige Bombay. Dies ist ein Jahrhundertroman; ganz unbescheiden lesen wir darin: „unser Zeitalter ist das Thema, unser Thema ist immer der Tod”.
Knapp die Hälfte des Romans wird uns von der Edition Isele in einem großformatigen Band vorgelegt, der alle erdenklichen drucktechnischen Tricks anwendet, um das Gegen-, Mit- und Nebeneinander der Erzähl- und Bewusstseinsschichten zur Darstellung zu bringen. Passagenweise zerfällt der Text in zwei oder drei Spalten, die im Idealfall parallel zu lesen wären; einzelne Seiten sind grafisch gestaltet, etwa mit trichterförmig sich zuspitzendem Text; diverse Schrifttypen und -größen, variierende Groß- oder Kleinschreibung, Kursive und Unterstreichungen markieren den Abstand von der Erzählgegenwart. Riesige Textstrecken nämlich sind Erinnnerungs- und Traumaufzeichnungen, die ein Einst und ein Anderswo oder auch ein Nirgends ins Hier und Jetzt hereinholen. Nicht linear läuft das Jahrhundert ab, sondern in kreiselnden, suchenden, assoziativ übereinander gelegten Zeitsprüngen. Alles ist gleichzeitig präsent, ist „durchscheinende Zeit”, „regendurchnässt von der Vergangenheit”, „Zeitlichkeit ist zerblitzt”: „überall ist Gegenwart von früherem Damals, heraufgeschleudert in das was ich schreibe”. So bildet sich in den Textmassen das „Chaos unseres Jahrhunderts” ab.
Andeuten, nur andeuten
Und doch haben wir es mit einer Totalität zu tun, die sich selbst ständig verwirft. Totalität hat zu viel mit Totalitarismus zu tun, mit den Prinzipien von Erstarrung und Festschreibung, und dem setzt Wolfgang Rohner-Radegast seine spezielle Ästhetik des Widerstands entgegen. Bei aller Riesenfülle des Erzählens hat er sich in Kinderblitz, Jambudvipa doch auf die Kunst der Aussparung verlegt, auf die Kunst des nicht-gleich-ganz-zu-Ende-Erzählens. Schon auf der ersten Seite gibt der Erzähler die Parole aus: „andeuten, nur andeuten, alles in Tupfen von Ideen, von Bildern, mehr brauchen wir nicht. ” Aller Erzählstoff ist „zerstäubt, zerknallt” zu Bruchstücken, die sich nicht lückenlos zu einem Ganzen runden, sondern in ihrer Splittergestalt, in immer wieder gleichen Formulierungen durch das Buch schwirren. Das sorgt für eine nie komplett erlöste Spannung bei der Lektüre, und das sorgt auch für ständige Bewegung in einer Prosa, in der es ums Überschreiten von Grenzen, ums Reisen und gelegentlich auch ums Ankommen geht.
Das Grundgerüst stellt ganz offensichtlich die Lebensreise des Autors zur Verfügung. „Verfasser versichert, dass von geringen Ausnahmen abgesehen keine der in diesem Buch dargestellten Personen, Vorkommnisse, Örtlichkeiten und Zustände erfunden sind. ” Im nächsten Atemzug freilich wird „der abendländische Sinn für Fakten” schon eingeschränkt durch den Entwurf der „Epiphanie von etwas grundsätzlich Anderm”. Ohnehin ist für uns Leser unerheblich, was vom Autor womöglich selbst erlebt und was imaginiert wurde. Erheblich ist nur, wie die geschilderten Geschehnisse vom Ich-Erzähler verarbeitet werden und welche ästhetischen Folgen sie zeitigen.
Dieser Erzähler, der in Ostberlin als „der Grenzüberzitterer” und in Indien als „der Ankömmling” auftritt, nennt sich in den Kriegs- und Vorkriegspassagen Kasper (oft als K. abgekürzt und damit Querverbindungen zu Kafka stiftend, dessen Leben und Werk in Randexkursen ausführlich zitiert und kommentiert wird). Ganz im Sinne eines Bildungsromans wächst dieser Kasper aus dem Elternhaus im mecklenburgisch-holsteinischen Grenzgebiet heraus („die Phantasie war seine Grundbegabung”) und hinein in die Welt der fremden Gelüste. In ausführlichen Rückblenden werden die sexuelle und die kulturelle Identitätsfindung geschildert. Freilich steht das alles unter dem aufgehenden Stern der „Nasenfliege” Hitler; die Freiheit der zwanziger Jahre, an deren Echo (Joyce und Claudel, Adler und Freud, „Expressionismus und Klassenkampf”) sich Kasper labt, zergeht, und auch die Lehranalyse bei C. G. Jung in Zürich ist nur ein Zwischenspiel. „Was ist unser Leben unsere Reise ein Gefängnis Versuche zu Ausbrüchen” – und der erste Ausbruch endet unrühmlich, als Kasper der literarisch desorientierten Carlotta wegen ins Nazideutschland zurückgeht.
Aus dem Krieg erinnert Kasper vor allem die Folter verheißenden „Mäuseschreie” („vorläufig immer nur mal andeuten”) und eine visionär geschaute „schwebende Kugel aus Licht”, deren Bild der „Ankömmling” noch in Indien mit sich herumträgt, wohin ihn zwanzig Jahre später die Flucht vor „Repräsentation, Scheißbundesrepublik, Arschabendland, Querbinder, Kultur” verschlägt. Von hier verlaufen Erzählstränge bis in unsere Tage, nehmen unterwegs so ephemere Figuren wie Rosi Mittermaier und Elke Sommer, aber auch den „militanten Onkel Helmut vom Brahmsee” und die RAF-Attentäter auf. Und: „im Untergrund hängt alles mit allem zusammen”, die Gegenwart der Bundesrepublik durchaus auch mit der faschistischen Vergangenheit.
Zeitgeschichtliche Befunde interessieren hier freilich nur am Rande, denn dies ist Literatur und als solche auf Ästhetisierung aus. Der Freiheitsbegriff von Kinderblitz, Jambudvipa ist dementsprechend kein politischer, sondern ein utopischer: „wen suchst du, die Freiheit, das ist dort hinter der Grenze, die niemand findet”. Dem Romanerzähler gilt Indien seit der Kindheit als „Heimat meiner Träume”, doch am Ende gerinnt es zum wahren „Gegenspieler”, das „Land, von dem man sich ein Bild gemacht hatte, zuvor”. Utopien zerbrechen an der fatalen Neigung, ihnen reale Existenz zu verleihen: „Idealland, Scheißland, Schießland. ” Der Hitlerismus holt unsern Erzähler auch in Indien ein: in Gestalt der Herren Banerjee und Svapnesvaran, die in der „Indischen Legion” gedient haben. Hat es damit zu tun, dass Svapnesvaran nach überlieferter Würgermethode umgebracht wird? Das wiederkehrende Rätsel dieses Krimis wird in den vorliegenden Romanteilen nicht gelöst.
Ohnehin geht es weniger um Lösungen als um Sehnsüchte. Auch um die Sucht nach der „Daheimat”, eine Sucht, die immer neue Reisen durch Raum und Zeit zur Folge hat. „Karl Roßmann verglich alles mit der Heimat”, erfahren wir aus einer der Kafka-Marginalien; auch Rohner-Radegasts Erzähler hängt einer Heimat nach, die freilich erst noch zu entdecken wäre. Dass er in Indien die einigende „Heimat des Zusammen” finden könnte, erweist sich als Illusion, denn „das war das Enttäuschende gewesen: dass Indien nicht anders war als zu Haus”. Und eben um das Anders-Sein geht’s ja; der Erzähler will „ausbrechen aus dieser immer gleichen Existenz, in das immer noch einmal Gegebene ein Loch geschlagen, eine Explosion, ein Schuss, alles andere”. Gerade das ist das Erregende, als der junge Kasper zum ersten Mal mit einer Frau schläft: „auf einmal sind alle Grenzen hinweg, die mir seit Jahren verschlossen”. Der Geschlechtsverkehrs als eine Möglichkeit, Grenzen aufzubrechen, gerät in den Strudel des gleichsam mystischen Verlangens, alle Disparatheit der Existenz möge sich auflösen zu einer All-Einheit: „meine Gegenwart wird hereingeholt in den weltallmachtvollen Mutterschoß, die Große, die Mutter, der uns alle erbrach”.
Das Unmögliche ermöglichen
Lösungen gibt es nicht; Kinderblitz, Jambudvipa verharrt in der „Situation des Ungelösten, des unausgebrochenen Monsuns, der Spannung, die nach einer Lösung verlangte”. Der Monsun soll den großen Knall bringen, den Blitz, in dem Gegenwart und Vergangenheit zusammenfallen, soll alles „zerstäuben” und „zerknallen”.
Kinderblitz, Jambudvipa ist, gottlob, kein mystischer, sondern ein literarischer Text, und als solcher kann er das Unmögliche möglich machen: „die Geschichte brennt / die Literatur brennt”. Wolfgang Rohner-Radegast hat es auf eindrucksvolle Weise geschafft, äußerste Partikularisierung und Ganzheitsentwurf in eins fallen zu lassen. Er zertrümmert die Syntax, zerstäubt seine Stoffe – und erreicht es, dass die wahren Erinnerungsprozesse im Kopf des Lesers ablaufen. Indem sprachliche Einheiten repetiert, variiert und perpetuiert werden, laden sie sich mit kontextuellen Energien auf, die nach Entladung geradezu schreien. „gerade wollte er, der Ankömmling, den Strom seiner Erinnerung, Erinnerung woran, weshalb erinnert man sich denn noch”: klingt das unverständlich? Für den, der sich ein wenig eingelesen hat, ist es ein glasklare Passage. Arno Schmidt versöhnt sich mit Gertrude Stein, mit Proust, mit Musil – und mit Joyce sowieso. Wolfgang Rohner-Radegast hat den Roman des 20. Jahrhunderts neu erfunden.
FRIEDHELM RATHJEN
WOLFGANG ROHNER-RADEGAST: Kinderblitz, Jambudvipa – aus dem Großen Sutra Kinderblitz (Weltumsegler) – (1924–1994). Band I (Erstes und zweites Buch). Edition Isele, Eggingen 2000. 742 Seiten, 128 Mark.
Wolfgang Rohner-Radegast ist seit seinem vor zwanzig Jahren erschienenen Roman Semplicità ein Spezialist für gigantische Prosa-Unternehmen.
Foto: Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die erste Hälfte dieses "Riesenromans" von 3300 Seiten, so Friedhelm Rathjen, ist hier in einer ersten Lieferung erschienen. Der Autor hat Jahrzehnte an diesem "Jahrhundertroman" geschrieben; ob er davor schon etwas veröffentlicht hat, erfährt der Leser der Besprechung nicht. Rathjen gibt sich alle Mühe, Erzählstränge und -motive aus diesem dicken Klops von Buch herauszufiltern, das mit allen "erdenklichen drucktechnischen Tricks" das "Gegen-, Mit- und Nebeneinander der Erzähl- und Bewusstseinsgeschichten" zu verdeutlichen sucht. Hilfreich sind jedoch meist nur Zusammenfassungen wie: "was darin erzählt wird erstreckt sich von 1924 bis 1994 von Mecklenburg bis Mallorca, von der Ukraine bis Teneriffa, vom geteilten Berlin bis ins vielgestaltige Bombay" oder "Arno Schmidt versöhnt sich mit Gertrude Stein, mit Proust, mit Musil und mit Joyce sowieso". Auf diese Weise zeichnet Rathjen ein Bild, dem zu entnehmen ist: es geht vor allem um die Biografie, die "Lebensreise" von Rohner-Radegast selbst. Der Expressionismus und die Psychoanalyse, sexuelle Initiation, Krieg, Nachkrieg und Flucht nach Indien sind ebenso Gerüst und werden zu Versatzstücken wie alles Gelesene (Kafka vor allem) und die sich aus allem zusammen ergebenden Fragen nach Ich, Welt und Sinn. Rathjen versichert, dies sei kein mystischer, sondern ein literarischer Text, die "spezielle Ästhetik des Widerstands" von Rohner-Radegast, dessen "eindrucksvoller" Text nach ein wenig Einlesen sogar "glasklar" wird. Die wenigen kurzen Zitate - Hitler als "Nasenfliege", der "weltallmachtvolle Mutterschoß", das "Arschabendland", die "Scheißbundesrepublik" - wirken allerdings sprachlich eher hilflos und man fragt sich, ob die drucktechnischen Spielereien und das gewiss interessante Leben und Denken dieses Autors ausreichen, sein Werk als "Neuerfindung des Romans des 20.Jahrhunderts" zu apostrophieren, wie Rathjen es tut.

© Perlentaucher Medien GmbH
…mehr