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Eine «neue Geschichte» schwebte dem Schweizer Kunsthistoriker und Herold der modernen Architektur Sigfried Giedion (1888-1968) vor, als er 1929 die Arbeit an einem ambitionierten Buchprojekt aufnahm. Es behandelte die historische Spanne zwischen etwa 1750 und dem unmittelbaren Jetzt der 1930er Jahre. Mehrbändig angelegt und multidisziplinär ausgerichtet sollte es als zeitdiagnostisches Dokument und als Orientierungshilfe innerhalb einer als chaotisch empfundenen Gegenwart dienen. Aus verschiedenen Gründen wurde es 1938 unterbrochen und blieb unvollendet. Das zurückgelassene Material - eine…mehr

Produktbeschreibung
Eine «neue Geschichte» schwebte dem Schweizer Kunsthistoriker und Herold der modernen Architektur Sigfried Giedion (1888-1968) vor, als er 1929 die Arbeit an einem ambitionierten Buchprojekt aufnahm. Es behandelte die historische Spanne zwischen etwa 1750 und dem unmittelbaren Jetzt der 1930er Jahre. Mehrbändig angelegt und multidisziplinär ausgerichtet sollte es als zeitdiagnostisches Dokument und als Orientierungshilfe innerhalb einer als chaotisch empfundenen Gegenwart dienen. Aus verschiedenen Gründen wurde es 1938 unterbrochen und blieb unvollendet. Das zurückgelassene Material - eine Fülle von Texten, Bildern und Aufzeichnungen - gruppiert sich um drei grosse zivilisatorische Themen: Industrialisierung, soziale Fürsorge, moderner Kunstbetrieb. Das heterogene Konvolut wurde in einem handlichen Buch ediert. Es gewährt neue, oft unerwartete Einsichten in Giedions historische Agenda jenseits seiner bekannten Publikationen und einen faszinierenden Einblick in sein Geschichtslabor
Autorenporträt
Sokratis Georgiadis ist Architekturhistoriker, Verfasser von Sigfried Giedion. Eine intellektuelle Biographie (1989) sowie Herausgeber kommentierter Neuausgaben von Giedions Bauen in Frankreich (1995; 2000

Almut Grunewald ist Kunsthistorikerin, Mitarbeiterin des gta Archivs an der ETH Zürich und Herausgeberin von Die Welt der Giedions. Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker im Dialog (2019).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein erstaunliches Buchprojekt liegt Rezensent Bernd Stiegler mit dieser Edition der Fragment-gebliebenen Aufzeichnungen Sigfried Giedions vor. In einem geradezu "titanischen" Forschungsprojekt wollte Giedion in den Jahren 1929-1938 eine Geschichte der "Formung des heutigen Menschen" schreiben, so der Kritiker. Ähnlich dem Passagen-Projekt Walter Benjamins ging es ihm darum, erläutert Stiegler, bereits existierendes Material in einer Zitatmontage neu anzuordnen, um anhand der Bereiche Technik, Ethik und Ästhetik die "Basis des modernen Menschen" zu ergründen. Die Neuedition versammelt nur einen Teil der riesigen Textauswahl Giedions, der das Projekt nach seinem Ruf an die Harvard-Uni nicht weiterverfolgte. Der Rest wird in kenntnisreichen Texten von den Editoren zusammengefasst, freut sich Stiegler, auch die Entstehung und Gestaltung des Projekts werden umfassend erläutert. Giedions kulturkritische Hauptthese, die Einheit von "Gefühl und Denken" sei seit der Industrialisierung entzweit, ist zwar nicht sehr originell, meint Stiegler, um so interessanter sind die "eigenwillige" Materialauswahl und ihr Arrangement.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2023

Wie die Unordnung ins menschliche Gefüge kam
Mit den Mitteln der Montage: Eine Teiledition von Siegfried Giedions liegen gelassenem Großprojekt, die Formung des modernen Menschen einsichtig zu machen

Sigfried Giedion hatte sich bereits mit seinen Büchern "Bauen in Frankreich" und "Befreites Wohnen", das Teil der legendären Fotobuchreihe "Schaubücher" bei Orell & Füssli war, einen Namen gemacht, als er 1929 ein nachgerade titanisches Forschungs- und Publikationsprojekt in Angriff nahm: Er wollte eine mehrbändige Geschichte der "Formung des heutigen Menschen" schreiben, die mitunter bis zur Antike zurückging und dabei sehr unterschiedliche Bereiche umfassen sollte, die von Technik und Erfindungen über den sozialen Wohnungsbau bis hin zur Frage nach dem guten Geschmack reichten.

Giedion schwebte dabei eine Art "anonyme Geschichte" vor, die ihren Ausgang von den Verästelungen konkreter Erfahrungen und den verschiedenen Formen des Alltags nehmen sollte. Das klingt nach einem deutschsprachigen Pendant der Annales-Schule, die ebenfalls Ende der Zwanzigerjahre gegründet wurde, hat mit dieser aber wenig zu tun. Giedion arbeitet nicht wie diese mit historischen Quellen aus Archiven und ihrer Interpretation, sondern durchweg mit bereits publiziertem Material, das er dann neu montiert und arrangiert.

Mit einem solchen Ansatz stand er in dieser Zeit nicht allein. Benjamins Passagen-Werk, in dem die Überlegungen Giedions zur Geschichte des Eisenbaus eine nicht unwichtige Rolle spielen, ist das vermutlich berühmteste Projekt, das ähnlich breit angelegt war und auf die Montage von Zitaten setzt.

Giedion wollte "die Basis des modernen Menschen in ihre Ursprünge zurückverfolgen" und konzentrierte sich dabei auf drei tragende Säulen, die für unterschiedliche Wertsphären standen: Die Geschichte von technischen Erfindungen repräsentierte den Bereich der Wissenschaft und Technik, der soziale Wohnungsbau jenen der Ethik und die Frage nach dem guten beziehungsweise vor allem schlechten Geschmack stand für die Ästhetik. Die Hauptthese des Buchs ist, dass Gefühl und Denken, die ursprünglich eine Einheit gebildet hätten, im Zeitalter der Industrialisierung auseinanderbrechen und es damit auch zu einem Auseinanderdriften der drei Bereiche komme.

Das Auseinanderfallen des Schönen, Wahren und Guten ist nun beim besten Willen keine wirklich originelle These, sondern eher Common Sense der Kulturkritik dieser Zeit. Giedion versteckt sie zudem tief im Dickicht des Materials, das die vorliegende Edition in Hülle und Fülle ausbreitet. Das Interessante an diesem Projekt ist daher weniger die holzschnittartige Hauptthese, sondern die eigenwillige Art und Weise der Auswahl und das suggestiv zugespitzte Arrangement des Materials. In dieses werden die Leser ohnehin rasch hineinversetzt, ja geworfen.

Da das Projekt von Giedion nach seinem Ruf 1938 an die Harvard University nicht weiterverfolgt wurde, blieb es ein riesiger Torso von mehreren Tausend Dokumenten, die nun auch nur in ausgewählten Teilen in Gestalt einer Studienedition vorgelegt werden. Von den drei geplanten Büchern war nur das erste so weit fertiggestellt, dass kein Geringerer als László Moholy-Nagy es gerne für seine Reihe des New Bauhaus in Chicago gehabt hätte, wozu es dann aber nicht kam.

In der Edition wird nur dieses - offenkundig unfertige - Manuskript editiert, das aber immerhin dreihundert Seiten und zahlreiche Abbildungen umfasst. Bei den beiden weiteren Teilen muss man sich dem Editoren-Team anvertrauen, das detailliert Inhalte und Gestalt der verschiedenen Manuskripte und Materialien zusammenfasst und referiert. Ebenso umfassend wie kundig werden weiterhin in einer langen Einleitung die Genese und die Gestalt des Projekts dargelegt. Als Ganzes hat es eine Art Scharnierfunktion zwischen den frühen "modernistischen" Büchern und dem späteren ähnlich breit angelegten Buch "Herrschaft der Mechanisierung", das auf Englisch 1948 erschien. Mit ersteren teilt es die Überzeugung, dass Wissenschaft und Technik eine an sich wertneutrale Zone bilden, die sie zwar im Zuge ihrer Aneignung durch andere Felder verlassen, deren Potential aber erhalten bleibt, mit letzterem einen kulturwissenschaftlich-kulturkritischen Ansatz einer "anonymen Geschichte", der sich zwar vom Material treiben lässt, aber für dieses ein Narrativ entwirft.

Was Giedion vorschwebte, lässt sich in Gestalt von zwei Aufnahmen, eine im Zeitraffer und eine im Close-up, verdeutlichen. Hinsichtlich der technischen Erfindungen nimmt Giedion an, dass in der Antike und bis weit ins achtzehnte Jahrhundert Maschinen auch dazu da waren zu bezaubern. Sie berührten so auch das Gefühl. Man stand staunend vor ihnen und war von ihnen eingenommen. Das sollte sich im Zuge der Industrialisierung dramatisch ändern. Während die Automaten von Pierre-Jaquet Droz noch mit der Illusion des Schreibens oder Musizierens verzauberten, vollzog sich mit der Spinning Jenny oder der Flügelspinnmaschine eine Rationalisierung, die tief in das Sozialwesen eingriff und massive Konsequenzen zeitigte: "Die Erfindungen haben eine neue Realität geschaffen, die Unordnung in das menschliche Gefüge bringt."

Solche Zeitraffermontagen sind der eine Gestus des Buchs. Der andere ist eine Vergrößerung einzelner Figuren, die mitunter zu regelrechten Helden werden. So etwa Henry Cole, der nicht nur hauptverantwortlich für die Londoner Weltausstellung im Crystal Palace 1851 war, sondern durch sein "Museum of false principles", das negativ vorbildliche Geschmacksverirrungen zusammentrug, und mittels künstlerisch gestalteter Alltagsprodukte das Auseinanderdriften von Gefühl und Denken zu verhindern suchte. Das Schöne und Gute kann im Funktionalen zusammengehen. Hätte es mehr solcher visionären Helden gegeben, wären uns, meint Giedion, vielleicht Katastrophen erspart geblieben. BERND STIEGLER

Sigfried Giedion: "Die Entstehung des heutigen Menschen". Ein unvollendetes Buchprojekt 1929-1938.

Hrsg. von S. Georgiadis in Zusammenarbeit mit Almut Grunewald.

gta Verlag, Zürich 2023. 666 S., Abb., br., 65,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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