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Produktdetails
  • Verlag: Molden
  • Seitenzahl: 166
  • Erscheinungstermin: September 2006
  • Deutsch
  • Abmessung: 215mm
  • Gewicht: 328g
  • ISBN-13: 9783854851769
  • ISBN-10: 3854851766
  • Artikelnr.: 20852805
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2006

Die ungarische Katastrophe
Vor 50 Jahren begann der Volksaufstand – In neuen Monografien wird deutlich, dass es auf beiden Seiten Verbrechen und Schuld gab
Als vor genau 50 Jahren, am 23. Oktober 1956, in Ungarn der antistalinistische Sturm losbrach und sich binnen kurzem zu einem nationalen Befreiungskampf auswuchs, hatte Paul Lendvai gerade mehrere Monate Haft und ein dreijähriges Berufsverbot hinter sich. In den folgenden Tagen hielt sich der damals 27-jährige, regimekritische Budapester Journalist im Zentrum des revolutionären Geschehens auf – doch dies eher zufällig und ohne aktiv beteiligt zu sein. Denn sein Elternhaus stand in unmittelbarer Nähe der Kilian-Kaserne und der Corvin-Passage, also dort, wo die Kämpfe sowohl in den ersten Tagen der Revolution als auch nach der brachialen zweiten sowjetischen Invasion des 4. November besonders heftig tobten. Am Ende war Lendvais Elternhaus ein Trümmerhaufen; er selbst hat in schützenden Kellern ausgeharrt und mit Glück überlebt.
1957 ist Lendvai nach Österreich emigriert. Die ungarische Revolution hat den profilierten Publizisten tief geprägt. Die Ausläufer seiner damaligen Erschütterung sind auch 50 Jahre später, in seiner großen Bilanz des Aufstands, noch spürbar: Lendvai ergreift Partei, versteckt seine Gefühle nicht. Er lässt die dramatischen Herbsttage des Jahres 1956 wieder lebendig werden, erzeugt eine mitunter atemlose Spannung. Doch ungeachtet allen Engagements hält er stets die Balance, ist er immer auch der souveräne, nüchterne, historisch und politikwissenschaftlich bestens informierte Analytiker, der zwar oft hart, doch niemals unfair oder leichtfertig urteilt, der ebenso pointiert wie differenziert zu argumentieren versteht.
In Lendvais Deutung gewinnt die ungarische Revolution Züge einer Tragödie. Schein und Wirklichkeit waren für die Beteiligten nur schwer zu trennen, die Frontlinien befanden sich in ständiger Bewegung. Auch auf Seiten der Aufständischen gab es Verbrechen und Schuld. Allzu pauschale Etikettierungen – „hier die bösen Kommunisten, dort die strahlenden Freiheitskämpfer” – sind daher fehl am Platz.
Anders als Lendvai war der heute in Berlin lebende Schriftsteller György Dalos 1956 noch ein halbes Kind, erst 13 Jahre alt. Zudem hat er seine Haltung zum Aufstand im Laufe der Jahre mehrmals geändert. Am Anfang, so bekennt er, war er traurig über die Niederlage. Als Jungkommunist in den sechziger Jahren sah er in den Ereignissen hingegen eine „Konterrevolution”. In den Siebzigern entwickelte er zunehmend Verständnis für die Anliegen der Aufständischen, doch erst seit den frühen achtziger Jahren erarbeitete er sich dann, wie er es heute nennt, „einen kühleren Blick auf die Historie”.
Vielleicht ist dieser kühlere, wenngleich alles andere als unbeteiligte Blick ursächlich dafür, dass Dalos in seiner Gesamtdarstellung der Revolution zwar zu substanziell ähnlichen Ergebnissen gelangt wie Lendvai, doch insgesamt einen anderen Ton anschlägt. Er schreibt distanzierter, skeptischer, gelegentlich mit feiner Ironie oder aphoristisch zugespitzt, auf eine eigentümliche Weise hintergründig. Ein Beispiel: Während Lendvai ein ganzes Kapitel der unrühmlichen Haltung des Westens, insbesondere der fatalen Rolle des amerikanischen Propagandasenders „Radio Free Europe”, in der Ungarnkrise widmet und mit harscher Kritik nicht spart, wendet Dalos die seinerzeit bitter enttäuschten Hoffnungen der Ungarn auf Hilfe aus der freien Welt in eine sarkastische Selbstkritik: „Wir Ungarn hingen am Weltempfänger, ließen uns von dem magischen grünen Auge verzaubern und erwarteten von den Radiowellen jenseits aller Störsender nicht einfach nur Nachrichten, sondern Trost, Erlösung und Rettung. Wir wurden betrogen, aber wir haben uns auch selbst betrogen. (. . .) Das war das Unreife, Halbgare, Romantische unseres damaligen Bewusstseinsstands.” Dalos hat ein kluges, reflektiertes Buch geschrieben, dessen besondere Qualitäten sich vielleicht erst auf den zweiten Blick erschließen.
Tödliche Konfrontation
Die Tragik, oder neutraler, die Ambivalenz der ungarischen Revolution veranschaulichen Lendvai und Dalos nicht zuletzt in plastischen Porträts der beteiligten Personen. Ihr Hauptaugenmerk gilt selbstverständlich Imre Nagy und János Kádár. Beide Politiker hatten unter dem Stalinismus gelitten und sahen die Notwendigkeit von Reformen – der eine mehr, der andere weniger. Ende Oktober 1956 regierten sie für kurze Zeit zusammen, Nagy als Ministerpräsident, Kádár als Parteichef. Wäre diese personelle Konstellation, so die Autoren übereinstimmend, einige Monate früher eingetreten, hätte sich die ungarische Katastrophe vielleicht verhindern lassen. So aber kam es zwischen den beiden Männern und den von ihnen repräsentierten Strömungen zur tödlichen Konfrontation.
János Kádár erscheint beiden Autoren als durchaus zwiedeutige Figur. Kaum hatte er sich am 1. November öffentlich mit den Zielen des Aufstands solidarisiert und sogar den von der Regierung proklamierten Austritt aus dem Warschauer Pakt gutgeheißen, verschwand er von der ungarischen Bildfläche und kehrte erst im Gefolge der sowjetischen Panzer wieder nach Budapest zurück – mit dem Kainsmal der Verrats auf der Stirn. Ein halbes Jahrzehnt währte der fürchterliche Rachefeldzug des neuen Herrschers von Moskaus Gnaden; in den sechziger und siebziger Jahren erwarb er sich dann jedoch jenen landesväterlichen Nimbus, der ihm noch heute, im demokratischen Ungarn, die Sympathien großer Bevölkerungsteile sichert. Auch Paul Lendvai zögert am Ende, ohne Weiteres den Stab über Kádár zu brechen. Für ein ausgewogenes Urteil über diesen „ungewöhnlichen Menschen” sei die Zeit vielleicht noch nicht reif.
Ähnliches gilt für Kádárs Gegenspieler Imre Nagy. Sein Weg „vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstands”, wie es im Untertitel von János Rainers großer Biografie dieses Mannes heißt, war lang und keineswegs geradlinig. Loyalitätskonflikte, innere Widersprüche und Skrupel kennzeichneten sein Handeln, das auf seine Umgebung oft zögerlich und unentschlossen wirkte. Nagy war, wie Rainer zeigt, an vielen Wendemarken und neuralgischen Punkten seines Lebens kein Mann schneller Entschlüsse, sondern langwieriger Entscheidungsprozesse. Als er in der Ungarnkrise endlich seinen „toten Punkt” überwunden hatte, handelte er als ungarischer Patriot und nicht als proletarischer Internationalist – und geriet damit in einen Widerspruch, den er später in seinen Gefängnisschriften zwar zu harmonisieren versuchte, doch nach Ansicht seines Biografen letztlich nicht auflösen konnte.
Zu den bedeutenden Würdigungen der ungarischen Revolution und ihrer Protagonisten gehört auch ein großformatiger, repräsentativ gestalteter Bildband, der die legendären Fotos des „Magnum”-Mitarbeiters Erich Lessing versammelt. Lessings Schwarz-Weiß-Aufnahmen spiegeln nicht allein die existenzielle Konfrontation jener Tage wider, sie erzählen auch vom Alltagsleben in einer Ausnahmesituation, vom Kampf um Symbole, sie zeigen Menschen, Gesichter, bilden Gefühlszustände ab – Glück und Leid, Hoffnung und Verzweiflung.
Viele dieser Menschen standen angesichts der heranrückenden sowjetischen Militärwalze vor der Frage, ob sie ihr Land verlassen oder dort ausharren sollten. Die aus Ungarn stammende Journalistin Marta Halpert hat einige von ihnen, prominente wie unbekannte, aufgesucht und erzählt in einem kleinen, einfühlsamen Porträtband von ihren Beweggründen und Schicksalen. Etwa 200 000 Menschen haben damals Ungarn den Rücken gekehrt, die meisten zunächst in Richtung Österreich. Ein verdienstvoller, von österreichischen und ungarischen Wissenschaftlern gemeinsam gestalteter Sammelband erinnert umfassend an die damalige – im wahren Sinn des Wortes – uneingeschränkte Solidarität der Österreicher mit ihren entwurzelten Nachbarn. Diese Welle der Hilfsbereitschaft, so Paul Lendvai, „war und ist ein Ruhmesblatt der neueren österreichischen Geschichte”. In der Stunde ungarischer Not hat die gerade erst in die Unabhängigkeit und Neutralität entlassene Alpenrepublik westlicher gehandelt als der Westen.
ULRICH TEUSCH
PAUL LENDVAI: Der Ungarnaufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen. C. Bertelsmann Verlag, München 2006. 320 Seiten, 22,95 Euro.
GYÖRGY DALOS: 1956. Der Aufstand in Ungarn. Verlag C.H. Beck, München 2006. 247 Seiten, 19,90 Euro.
JÁNOS M. RAINER: Imre Nagy. Vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen Volksaufstands. Eine politische Biographie 1896-1958. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 282 Seiten, 29,90 Euro.
BUDAPEST 1956. Die Ungarische Revolution. Fotografien von Erich Lessing. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2006. 250 Seiten, 39,90 Euro.
MARTA S. HALPERT: Gegangen und geblieben. Ungarn 1956 – Lebensläufe nach dem ungarischen Volksaufstand. Molden Verlag, Wien 2006. 220 S., 19,90 Euro.
IBOLYA MURBER/ZOLTÁN FÓNAGY: Die Ungarische Revolution und Österreich 1956. Czernin Verlag, Wien 2006. 544 Seiten, 26 Euro.
Zerstörte sowjetische T-54-Panzer vor der im Oktober und November 1956 schwer umkämpften Kilian-Kaserne in Budapest. Der ungarische Aufstand begann am 23. Oktober 1956, breitete sich im ganzen Land aus und wurde am 4. November von der sowjetischen Armee niedergeschlagen. Mindestens 2500 Menschen wurden während des Aufstands getötet, etwa 200 000 flohen ins Exil, die meisten zunächst nach Österreich. Foto: epd
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