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Produktdetails
  • Verlag: Picus
  • ISBN-13: 9783854524960
  • ISBN-10: 385452496X
  • Artikelnr.: 20772535
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2006

Korruption des öffentlichen Lebens
Simon Ganahl untersucht die Pressekritik von Karl Kraus
Ein Buch mit dem Titel „Ich gegen Babylon” wird man neugierig in die Hand nehmen, sofern man an der Zeit um 1900, an der Rolle der Presse in eben dieser Zeit und vor allem an Karl Kraus interessiert ist. Wenn man dieses Buch nach knapp 200 Seiten irritiert aus der Hand legt, müssen indes Erwartungen enttäuscht worden sein. Simon Ganahl, laut Klappentext 25 Jahre alt und Doktorand am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien, hat sich mit seiner Publikation viel vorgenommen, nämlich die Pressekritik des Karl Kraus in der Epoche des Fin de siècle zu untersuchen. Dieser mythenumwaberte Zeitraum schnurrt bei Ganahl allerdings letztlich auf eine knappe Woche zusammen, genauer gesagt auf die Tage vom 2. bis 6. Januar 1900, auf fünf Tage also und auf zehn Zeitungsnummern, denn der Gegenstand der, wie der Autor meint, repräsentativen Erhebung sind die Wiener „Neue Freie Presse” und die ebenfalls in Wien erscheinende „Arbeiterzeitung” in eben diesem Zeitraum.
Die Wahl der beiden Blätter ist zunächst einsichtig, denn die „Neue Freie Presse” war der zentrale Punkt der Pressekritik von Kraus, und die „Arbeiterzeitung”, mit deren Chefredakteur Friedrich Austerlitz Kraus später befreundet war, blieb von seiner Kritik über längere Zeit ausgespart. Nicht einsichtig ist die Wahl des untersuchten Zeitraums. Es mag Publizistikwissenschaftlern überlassen bleiben, zu überprüfen, ob jeweils fünf Nummern einer Tageszeitung genügend Basis für eine Inhalts- und Stilanalyse des ganzen Blattes bieten. Eindeutig aber ist, dass die Wahl dieses engen Zeitraums vom Datum des 1. Januar 1900 bestimmt ist und nicht von der Perspektive von Kraus auf die Presse allgemein und auf diese beiden Blätter speziell.
Unter dieser Perspektive nämlich ist die Wahl unglücklich zu nennen: Kraus‘ Pressekritik nimmt erst deutlich später ihre endgültigen Konturen an, etwa ab 1908, seine Sympathie für die AZ und für Austerlitz entfaltet sich so recht erst mit Kriegsbeginn 1914. Um 1900 ist die Korruption des öffentlichen Lebens sein Hauptthema, in diesem Rahmen ist es dann auch die Presse.
Schaut man näher hin, dann teilt sich das Buch Ganahls in zwei Hälften. In der ersten wird versucht, die Gestalt des frühen Karl Kraus zu umreißen, indem vor allem die beiden Pamphlete „Die demolierte Literatur” und „Eine Krone für Zion” aus der Vor-„Fackel”-Zeit mehr paraphrasiert als analysiert werden, mit einem besonders scharfen Blick auf Hermann Bahr und Theodor Herzl. Auch wenn Herzl erst Korrespondent, dann Redakteur der NFP war, so ist er hier doch vornehmlich als Begründer des Zionismus von Interesse, während Bahr nicht als Journalist wichtig war, sondern als Essayist und vifer Zeitgeisterschnupperer. Die Presse ist jedenfalls nur am Rande Thema der beiden hier untersuchten Kraus-Texte.
Das schickt sich nicht
Ganz folgerichtig bleibt sie, die Presse, in diesem Abschnitt Randerscheinung. Sie tritt dafür dann in der Themen- und Sprachstilanalyse des zweiten Teils in den Vordergrund, nur dass hier nun Kraus über weite Strecken unsichtbar wird, denn er hat sich Anfang des Jahres 1900 zur NFP nur am Rande, zur AZ überhaupt nicht geäußert, warum also gerade diese Auswahl? Ganahl versucht wenig überzeugend die Verbindung zwischen seiner publizistikwissenschaftlichen Analyse der beiden Blätter und Kraus über Moriz Benedikt herzustellen, den Mitherausgeber, dann auch Chefredakteur der NFP und hauptsächlichen Leitartikler. Bedenklich ist die durchgehende Apostrophierung dieses Leitartiklers als „Antichrist”, beim ersten Mal mit Anführungszeichen, dann durchgehend ohne. Dieses befremdende Vorgehen wird zwar dadurch begründet, dass es nicht um den Leitartikler Benedikt als Person gehe, sondern um seine Funktion im Kraus’schen Werk, aber es bleibt befremdlich. Ganahl übernimmt hier die Stilisierung Benedikts durch Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit”, die in der „Fackel” zum ersten Mal erst im Oktober 1918 auftaucht, und denunziert damit den Leitartikler des Januars 1900, ganz zu schweigen von der offensichtlichen Verkennung des antijüdischen Untertons bei Kraus, denn der Gegner Christi, der Antichrist, ist den Christen auch der von den Juden erwartete Messias gewesen. Man mag von Benedikt halten, was man will, oder auch Kraus‘ suggestive Perspektive überzeugend finden, aber das schickt sich dann doch nicht.
Die vergleichende Inhaltsanalyse beider Zeitungen kommt zu dem verblüffenden Ergebnis, dass die NFP, das bevorzugte Blatt des österreichischen liberalen (auch jüdischen) Bürgertums in ihren Artikeln deutlich weniger soziales und demokratisches Engagement zeigt als die AZ, das „Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie”, wie der Untertitel lautete, während dort die Kapitalismuskritik deutlich ausgeprägter ist. Passagenweise kann Ganahls Buch als Talentprobe eines jungen Wissenschaftlers überzeugen, der sprachlich flexibel ist, in Methode und Darstellung jedoch hätte es einer gründlichen Überarbeitung bedurft. Als Versuch, die Pressekritik des Karl Kraus darzustellen, dürfte es Schwierigkeiten haben, seinen Platz zu finden.
JENS MALTE FISCHER
SIMON GANAHL: Ich gegen Babylon. Karl Kraus und die Presse im Fin de siècle. Picus Verlag, Wien 2006. 199 Seiten, 19, 90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Keineswegs überzeugt ist Jens Malte Fischer von Simon Ganahls Untersuchung von Karl Kraus? Pressekritik im Wien der Jahrhundertwende. Gerade weil ihm das Thema überaus interessant erscheint, ist die Enttäuschung nach der Lektüre groß. Zwar lässt er einige Passagen als "Talentprobe" eines Nachwuchswissenschaftlers durchgehen. Dem Thema aber wird das Buch nicht gerecht. Schon die Wahl des knapp bemessenen Zeitraums für die Untersuchung von Kraus? Kritik an der "Neuen Freie Presse" und der "Arbeiterzeitung" hält Fischer für missglückt, da Kraus? Pressekritik erst später ihre endgültigen Konturen annahm. Kritisch äußert er sich auch über die Zweiteilung der Arbeit: Während im ersten Teil Karl Kraus vorkommt, die Presse aber Randthema bleibt, dominiert das Thema Presse im zweiten Teil, während Kraus weitgehend unsichtbar bleibt. Nach Ansicht Fischers hätte die Arbeit einer umfassenden Revision in Methode und Darstellung bedurft.

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