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Was bedeuten Bombenabwürfe in Echtzeit für die Dekonstruktion der Präsenzmetaphysik? Kann man Hollywood mit Quotenregeln bekämpfen? Warum kann eine Kamera kein Zeuge sein? Was ist, wenn wir nicht mehr glauben können, was wir sehen? Welche Sendungen sieht Derrida sonntagmorgens?Ende 1993 führt Derrida in seinem Haus in Ris-Orangis - von Scheinwerfern, Kabeln und Kameras eingekreist - mit dem Medientheoretiker Bernard Stiegler ein langes Gespräch. Im Mittelpunkt stehen medientechnische Entwicklungen, die damals ihren Durchbruch feiern: die Direktübertragung und das digitale Bild. Mit der…mehr

Produktbeschreibung
Was bedeuten Bombenabwürfe in Echtzeit für die Dekonstruktion der Präsenzmetaphysik? Kann man Hollywood mit Quotenregeln bekämpfen? Warum kann eine Kamera kein Zeuge sein? Was ist, wenn wir nicht mehr glauben können, was wir sehen? Welche Sendungen sieht Derrida sonntagmorgens?Ende 1993 führt Derrida in seinem Haus in Ris-Orangis - von Scheinwerfern, Kabeln und Kameras eingekreist - mit dem Medientheoretiker Bernard Stiegler ein langes Gespräch. Im Mittelpunkt stehen medientechnische Entwicklungen, die damals ihren Durchbruch feiern: die Direktübertragung und das digitale Bild. Mit der gespenstischen CNN-Übertragung der Bombenabwürfe auf Bagdad in Echtzeit zielt das Fernsehen auf ein Plusquampräsens, das alle Selektions- und Manipulationsmöglichkeiten bei der Produktion der Bilder hinter einer vermeintlich objektiven Aktualität verschwinden lässt. Und mit der Ersetzung der analogen Fotografie durch das digitale Bild wankt der Realitätseffekt, den das analoge Bild - Roland Barthes
zufolge - immer erzeugt, weil das Dargestellte ja einmal so vor der Kamera gewesen sein muss. Welche Folgen haben solche Entwicklungen für unsere Wahrnehmung, für unser Verhältnis zur Realität, zu Vergangenheit und Zukunft?
Autorenporträt
Jacques Derrida (1930-2004) lehrte Philosophie in Paris und den USA.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2007

Im Fernsehen auf die Nase fallen
Jacques Derrida setzt auf die Erfahrung des Ereignisses
Der französische Philosoph Jacques Derrida galt als notorischer Vielschreiber. Dieser Eindruck konnte entstehen, weil er neben seinen gewichtigen Studien „Grammatologie” und „Glas” immer auch Vorträge und Interviews veröffentlichte. Deutschsprachige Kleinst- und Großverlage waren dem Meister dekonstruktivistischen Philosophierens stets auf den Fersen und publizierten flugs alles mehr oder minder Bedeutsame. Unter den neueren Derrida-Titeln befindet sich der Sammelband „Maschinen Papier”, ein kleiner Wälzer von 432 Seiten, dessen französische Ausgabe den Leser darauf hinweist, dass mit diesem Buch nun schon das 93. Werk des Pariser Dekonstruktivisten vorliegt. Bei der Lektüre von „Maschinen Papier” und „Echographien” – die Vorträge, Manifeste, Zeitungsartikel und Interviews aus den neunziger Jahren versammeln – fragt man sich, ob von diesen facettenreichen Texten neue Erkenntnisse ausgehen.
Doch vielleicht ist dies die falsche Erwartungshaltung. Derrida geht es nicht darum, eine Großtheorie à la Kant zu entwickeln, sondern sich zu aktuellen philosophischen Debatten sowie politischen und medientheoretischen Themen zu äußern. In unterschiedlichen Theoriefeldern erprobt er seine dekonstruktivistische Arbeitsweise. So zeigen beide Bücher wiederum, wie er in verschiedenen Kontexten der Produktion von Bedeutungen und Systemen nachspürt und Bruchstellen in vermeintlich kohärenten Zusammenhängen aufdeckt.
Die Dekonstruktion sollte sich ja als ein kritisches Denken bewähren, als ein Denken, das nicht nur in Frage stellt, sondern gleichsam auf die Praxis übergreift und die Herausbildung neuer institutioneller Formen begünstigt. Wenn „Maschinen Papier” neben einem Vortrag über Paul de Mans Rousseau-Lektüre auch einen offenen Brief an den US-Präsidenten Bill Clinton enthält, in dem sich der Philosoph im Auftrag des Internationalen Schriftstellerparlaments gegen die Todesstrafe für den schwarzen Bürgerrechtler und Journalisten Mumia-Abu Jamal ausspricht, dann hat dies einen plausiblen Grund: In der eigenen Theorie waren immer auch die politischen Implikationen lesbar, während die politische Praxis die aufklärerischen Ideen von Demokratie und Gerechtigkeit transparent machen sollte.
Derridas Ausführungen zu kulturellen und politischen Entwicklungen lassen sich niemals als einfache These resümieren, da er stets die widersprüchlichen, ja aporetischen Potentiale bedenkt, die ihnen innewohnen. In einem Vortrag, der einige Motive aus der „Grammatologie” von 1967 wieder aufgreift, bemerkt Derrida, die Vorstellung vom Buch als einem geschlossenen Medium sei wesentlich durch die digitalen Techniken aufgelöst: Während das Internet das traditionelle Medium desakralisiert und demokratisiert, gebe es gleichzeitig eine Gegenbewegung, die das Buch resakralisiert und fetischisiert. Die erste Tendenz ereignet sich derzeit in den nicht-demokratischen arabischen Staaten. Die zweite in Ländern, die sich gerade anschicken, ganze Bibliotheken zu digitalisieren.
Was alles zum Schweigen bringt
Als Derrida in den frühen neunziger Jahren mit dem Philosophen Bernard Stiegler einige Fernsehgespräche führte, wollte er wissen, ob die neuen Medien eine „kritische Kultur” eher behindern oder befördern. Ob das Internet, gerade auch in totalitären Staaten, die demokratische Kultur verstärkt oder rechtlose Zustände heraufbeschwört. Und ob die Medien zusehends auf gnadenlose Aktualität pochen oder vielleicht doch das Unvorhergesehene begünstigen können, mit einem Wort: das Ereignis. Derridas Ausführungen erinnern streckenweise an die Technologiekritik Martin Heideggers, besonders wenn er sich gegen den Medienlärm angesichts einer fetischisierten Aktualität wendet, „die alles zum Schweigen bringt, was spricht und handelt.”
Allerdings lässt Derrida keinen Zweifel daran, dass er Heideggers Kulturpessimismus strikt ablehnt, da die neuen Medien, wie es in einem Brief an die Zeitschrift Lignes heißt, stets auch die Möglichkeit bieten, neue Inhalte und Techniken auszuprobieren. Deswegen privilegiert der Pariser Kosmopolit gegenüber dem Todtnauberger Provinzler die „Erfahrung des Ereignisses”, nicht das „Denken des Seins”.
Bernard Stiegler fragte Derrida 1993, wo er angesichts der Kommerzialisierung des Fernsehens noch schöpferisches Potential erblicke. Derrida verwies auf den Kulturkanal Arte. Jenseits von Quoten- und Kommerzdruck erhoffte er sich, dass der deutsch-französische Sender
„eine Vielfalt von Idiomen entwickelt, die einander nicht ausschließen und nicht in einer homogenisierenden Übersetzung verschwimmen.” Gegen Ende des Interviews wandte er sich gegen den ökonomischen Common Sense der Programmmacher und beharrte darauf, die neuen medialen Möglichkeiten voll auszuschöpfen: „Man muß das scheinbar Unmögliche möglich machen. Man muß versuchen, im Fernsehen Dinge zu machen, mit denen man auf die Nase fallen kann.” KLAUS ENGLERT
JACQUES DERRIDA: Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Passagen-Verlag, Wien 2006, 432 S., 49 Euro.
JACQUES DERRIDA: Echographien: Fernsehgespräche. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Passagen-Verlag, Wien 2006. 188 S., 28 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dieser Band ist die Wiedergabe von Fernsehgesprächen, die der Philosoph Jacques Derrida mit seinem Kollegen Bernard Stiegler führte. Es geht darin um die alten und neuen Medien, die Rolle, die sie im demokratischen Gemeinwesen spielen können - ob sie etwa im Dienst des Vorhersehbaren stehen, oder doch in den Dienst des Unerwarteten, des "Ereignisses", gestellt werden könnten. Rezensent Klaus Englert fühlt sich in Derridas Argumentationen an Martin Heideggers "Technikkritik" erinnert, allerdings neige Derrida nicht zum "Kulturpessimismus" des deutschen Philosophen. Als es sehr konkret um das Fernsehen geht, sieht Derrida im Kultursender "Arte" einen Hoffnungsträger, der dem Anspruch genügen könnte, das Richtige zu tun, nämlich "Dinge zu machen, mit denen man auf die Nase fallen kann".

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