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Der Ungarnaufstand von 1956 und der Prager Frühling von 1968 gelten als umfassend erforscht, allerdings vor allem aus nationalhistorischer und großmachtbezogener Perspektive. Eine systematische und multiperspektivische Untersuchung der Zusammenhänge zwischen den zwei Reformbewegungen stand dagegen noch aus. Diese verflechtungsgeschichtliche Studie will diese Lücke schließen: Sie löst die Reformversuche aus ihrem nationalen und großmachtpolitischen Kontext und erweitert die bisherige Sichtweise auf die Krisen des Sozialismus. Gleichzeitig komparativ und transferanalytisch verknüpft sie die…mehr

Produktbeschreibung
Der Ungarnaufstand von 1956 und der Prager Frühling von 1968 gelten als umfassend erforscht, allerdings vor allem aus nationalhistorischer und großmachtbezogener Perspektive. Eine systematische und multiperspektivische Untersuchung der Zusammenhänge zwischen den zwei Reformbewegungen stand dagegen noch aus. Diese verflechtungsgeschichtliche Studie will diese Lücke schließen: Sie löst die Reformversuche aus ihrem nationalen und großmachtpolitischen Kontext und erweitert die bisherige Sichtweise auf die Krisen des Sozialismus. Gleichzeitig komparativ und transferanalytisch verknüpft sie die beiden prominenten Reformversuche und legt transnationale und sozialgeschichtliche Einflussfaktoren offen. Diese liefern neue Erkenntnisse darüber, wie staatssozialistische Herrschaftssysteme ins Wanken geraten oder auch relativ stabil bleiben konnten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2018

Gefährlicher Flirt mit der Freiheit
Eine erhellende Analyse über den Ungarn-Aufstand und den kurzlebigen "Prager Frühling"

Im Westen Europas glaubten die meisten Menschen auch nach dem Ende des Kommunismus noch, die Länder Ostmitteleuropas hätten einem monolithischen Block angehört, der von der Sowjetunion mit eiserner Faust zusammengehalten worden sei. Wie konnte es dann geschehen, dass 1956 Aufstände in Ungarn und in Polen ausbrachen, aber nicht in der DDR und in der Tschechoslowakei? Warum sprachen Kommunisten in der Tschechoslowakei 1968 von Sozialismus mit menschlichem Antlitz, nicht aber in Ungarn und in der DDR? Offenbar waren die Länder des sozialistischen Lagers einander gar nicht so ähnlich gewesen, wie der Begriff unterstellte. Das ist nun das Thema Hannes Lachmanns, der zeigen möchte, dass die kommunistische Herrschaft in Ungarn und in der Tschechoslowakei nicht allein dem Diktat Moskaus gehorchte, sondern auch Zwängen folgte, die sich aus Augenblicken und historischen Möglichkeiten ergaben.

Am Anfang war das Wort. Im Februar 1956 konfrontierte Nikita Chruschtschow die Delegierten des XX. Parteitages der KPdSU mit den Verbrechen Stalins. Chruschtschows Rede war ein Dammbruch. Denn die Kritik, die aus ihr sprach, produzierte überhaupt erst die Krise, die sie überwinden wollte. Wenn die Partei Fehler beging, welchen Grund konnte es dann noch geben, ihr blind zu folgen? So sahen es nicht nur die Bürger der Sowjetunion, die hörten und lasen, was Chruschtschow in die Welt hinausgerufen hatte. Auch in den Ländern Ostmitteleuropas wurde die Rede als Signal verstanden, den Stalinismus vergangener Tage hinter sich zu lassen.

Warum aber führte die Kritik in Ungarn in den Aufstand, in der Tschechoslowakei aber nicht? Lachmann gibt darauf eine überzeugende Antwort. Autoritäre Ordnungen beruhen auf ihrer Fähigkeit, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Sobald ihre Repräsentanten Schwäche zeigen, ist es mit der Allmacht der Diktatur vorbei. Als die ungarischen Kommunisten ihren innerparteilichen Streit über das Erbe des Stalinismus öffentlich aufführten und im Oktober 1956 den Reformer Imre Nagy zum Ministerpräsidenten erhoben, war der Damm gebrochen. Nagy gab dem Druck der Straße nach, er öffnete den politischen Raum für Kritik und Widerspruch, ohne freilich zu bedenken, dass die Kommunisten in solchen Debatten nichts zu gewinnen hatten. Denn das sowjetische System wurde in Ungarn als Fremdherrschaft wahrgenommen. Gegen sie mobilisierten Studenten und Intellektuelle die nationale Leidenschaft. Nicht einmal auf Militär und Polizei konnte sich das Regime in seiner schwersten Stunde noch verlassen. Am Ende beugte sich Nagy dem Verlangen nach nationaler Unabhängigkeit und der Zulassung eines Mehrparteiensystems.

In Moskau wurde der ungarische Weg als Bedrohung empfunden. Die sowjetische Regierung befürchtete, Ungarn könne aus dem sozialistischen Lager ausscheiden und sich dem westlichen Militärbündnis anschließen. Deshalb entschied sie, Truppen nach Budapest zu entsenden. Die Entschlossenheit der sowjetischen Regierung ergab sich aber auch aus dem Wissen, dass der Aufstand auf Ungarn beschränkt bleiben würde. Fast alle Staaten in Ostmitteleuropa lagen mit Ungarn im Streit um Territorien und Gebietsansprüche. Noch war in Prag und Warschau nicht vergessen, dass Ungarn an der Seite Deutschlands Krieg geführt hatte. Ungarns Kommunisten zogen aus den Ereignissen des Jahres 1956 nützliche Lehren. Sie mehrten den Wohlstand der Bürger, ließen ihnen Freiheiten, die es in anderen Ostblockstaaten nicht gab, und sie wahrten Distanz zur Sowjetunion, ohne aber ihre Vormacht in Frage zu stellen. Nun konnte man sich mit dem Regime immerhin arrangieren.

In der Tschechoslowakei hatte es keine Entstalinisierung gegeben. Als Chruschtschow seinen Stab über Stalin brach, mochten die Kommunisten in Prag ihm nicht folgen. Sie schoben die Verantwortung für die Exzesse der Vergangenheit auf Rudolf Slansky ab, der von 1945 bis 1951 Generalsekretär gewesen, dann aber selbst dem Terror zum Opfer gefallen und hingerichtet worden war. Die Partei unterband Kritik und Dissens und gab zu verstehen, dass es sinnlos sei, sich gegen sie zu erheben. Nur fanden die tschechoslowakischen Kommunisten aber auch Zuspruch, weil sich die Lebensverhältnisse verbessert und weil sich Kommunisten im Widerstand gegen die deutschen Besatzer Ansehen erworben hatten. Als der ungarische Aufstand ausbrach, verhielten sich die Kommunisten in der Tschechoslowakei neutral, auch deshalb, weil es im Streit um nationale Gebietsansprüche keine Solidarität mit Ungarn geben konnte.

Kritik und Dissens brachten sich am Ende der sechziger Jahre auch in der Tschechoslowakei zu Wort, als Reformkommunisten einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz entdeckten. Nun ereignete sich in Prag, was 1956 in Budapest schon geschehen war. Die Partei öffnete einen Raum, den sie nicht beherrschte. Auch hier intervenierten sowjetische Truppen erst, als die Systemfrage gestellt wurde. Auf Unterstützung aus den Nachbarländern konnten die tschechischen Kommunisten nicht hoffen. In Ungarn hatten sich die meisten Bürger mit dem Status quo arrangiert, auch hatten sie noch in Erinnerung, wohin Widerstand und Widerspruch führen würden. Warum hätten sie ihre kleinen Freiheiten aufs Spiel setzen sollen?

Was lässt sich aus solchem Vergleich lernen? Man erfährt, dass Diktaturen, die mit der Freiheit flirten, ihre Macht aufs Spiel setzen, dass Menschen ein Leben in Sicherheit vorziehen, wenn sie zwischen Krieg und Frieden wählen müssen. In beiden Fällen konnten sich die kommunistischen Reformer auf die Unterstützung der Bevölkerung verlassen, aber in beiden Fällen wurde das Experiment mit der Freiheit gewaltsam beendet. Lachmann zeigt, was eine Geschichtsschreibung vermag, die den Anspruch, transnational zu sein, auch erfüllt. Der "Prager Frühling" scheiterte, weil in den Nachbarländern die Ereignisse des Jahres 1956 zu Bewusstsein kamen. Man mag es bedauern oder beklagen. Aber die politische Stabilität einer Ordnung hängt offenbar gar nicht von den Freiheitsversprechen ab, die sie macht, sondern davon, ob sie sie sich behaupten und die Sicherheit und Wohlfahrt ihrer Bürger garantieren kann.

JÖRG BABEROWSKI

Hannes Lachmann: Die "ungarische Revolution" und der "Prager Frühling". Eine Verflechtungsgeschichte zweier Reformbewegungen zwischen 1956 und 1968.

Klartext Verlag, Essen 2018. 571 S., 49,95 [Euro].

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