Produktdetails
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • ISBN-13: 9783832172381
  • ISBN-10: 3832172386
  • Artikelnr.: 11216457
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2003

Schauen wie am ersten Tag
Das Prinzip Arche Noah: Patrick Mauriès' "Kuriositätenkabinett"

Das Titelkupfer zu Francis Bacons "Instauratio Magna" (1630) faßt vielleicht am besten zusammen, was hinter der Passion steckt, von der dieser Band kündet. Vorn auf dem Blatt markieren die Säulen des Herkules die Grenze der bekannten Welt. Im Hintergrund lauert das unendliche Meer. Ein Schiff läuft aus, es geht auf Entdeckungsfahrt in die unerforschte Weite.

Bekanntes und Unbekanntes sind in den Kuriositätenkabinetten aufeinander angewiesen. Denn das Geheimnisvolle braucht das Banale und Erklärbare als Repoussoir. Es ist ein großartiges Thema, dem sich dieser splendid ausgestattete Band von Patrick Mauriès zuwendet: Alles Besitzbare und Benennbare einer Zeit wurde in den Kunst- und Wunderkammern zusammengetragen. Eine breitgefächerte Welt en miniature tritt uns entgegen. Das polyphone Spiel mit Form und Bedeutung, zu dem sich Mineralien, technische Bravourstücke, anatomische Präparate, Pflanzen, Nautilusmuscheln, Korallen, Meraviglia der Welt, kunstfertig erstellte Objekte, Mißgestalten und konstruierte Fabelwesen zusammenfinden, versetzt das Auge in einen Schwindelzustand. Auch die Erklärungen gehören hierher, mit denen das Unfaßliche präsentiert wurde. Patrick Mauriès, der in seinem Buch eine Fülle von Material bereithält, zitiert Ulisse Aldrovandi. Dieser notiert im sechzehnten Jahrhundert über den Stachelrochen, den er in seiner spektakulären Sammlung präsentiert: "Er verletzt jeden, der ihn zu fangen trachtet, und spritzt ihm ein starkes Gift ein. Er liebt Musik, Tanz und geistreiche Bemerkungen."

Um ihr Material überschaubar und erkennbar zu halten, greifen bereits die ersten Arrangeure der Kuriositätenkabinette - unter ihnen finden wir mit Imperato, Calzolari oder Besler eine Reihe von Ärzten und Apothekern - zu einem perspektivischen Trick. Sie unterwerfen das, was sie eingesammelt haben, der Symmetrie. Die Architektur, die diese Kunstkammern zusammenhält, sorgt dafür, daß die zentrifugale Energie, die die Diskrepanz der Dinge freisetzt, gebündelt bleibt. Denn die Vitrinen, Kästen und Schubladen spielen von früh an mit dem vertrautesten Ordnungssystem, demjenigen, das die Arche Noah anbietet. Nicht von ungefähr hatte einer der prominentesten Protagonisten der Kunstkammer, der Jesuit Athanasius Kircher, 1675 unter Bezug auf zeitgenössische Technik, Systematik und Hygiene eine nach Gattungen getrennte Verpackung und Verladung der Tierwelt vorgeschlagen. Er läßt wie der Zeitgenosse Johann Caspar Neickel in seinem Traktat "Museographia" die Geschichte der Naturalienkammern mit dem Hinweis auf das Inventarisieren beginnen, zu dem Noah griff.

Die Klassifikation unterstreicht die Affinität zwischen Formen und Inhalten. Korrespondenzen, die dabei zustande kommen, verweisen auf die Ganzheit der Welt. Eine Welt von gestern tritt vor unsere Augen. Nur wenig ist fotografierbar, fast das gesamte Material, von dem die Rede ist, wird in Stichen und Gemälden überliefert. Als vor bald hundert Jahren Julius von Schlossers Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens "Die Kunst-und Wunderkammern der Spätrenaissance" erschien, galt diese Publikation einem Genre, das damals weitgehend der Vergessenheit und der Verachtung anheimgefallen war. Die Ablehnung der Stilmischung und des Formeninventars, auf die sich der Historismus stützte, wurde in der Zeit, die das Ornament zum Verbrechen erklärte, überall spürbar. Die Avantgarde konnte sich auf den Purismus berufen, der die Präsentation im Museum zu dominieren begann. Der Geist der Vereinzelung, der einzog, sorgte dafür, daß die Wunderkammern unwiederbringlich auseinandergerissen und aufgelöst wurden.

Schlosser ging in seinem Buch, das Mauriès nicht einmal in seiner Bibliographie erwähnt, von dieser Demontage aus. Einzelne Objekte, die zuvor in Schloß Ambras bei Innsbruck oder am rudolfinischen Hof in Prag einem formal und inhaltlich stimmigen Ensemble angehört hatten, waren zu der Zeit, da sich der Autor an die Redaktion seines Buches machte, von einem wissenschaftlichen, aufgeklärten Zeitalter isoliert und, zeitgemäßer Systematik folgend, auf Spezialsammlungen verteilt worden. So wanderte, um nur ein Beispiel zu nennen, der indianische Federschmuck aus der Kunstkammer Ambras in die ethnographische Sammlung des Naturhistorischen Museums in Wien. Die neue Ordnung verzichtete auf das Spiel mit der Assoziation und auf die Gewalt der Analogie. Die Modernität und der Rationalismus standen diesen Mustern des Sehens und Erkennens entgegen.

Spätestens die Aufklärung, Diderots Tafelbände zur Encyclopédie hatten dieses Sehen, das mit den Mitteln der Analogie arbeitet, durch eine systematische Erkundung der Welt ersetzt. Linné, Cuvier und Buffon, die großen Namen der neuen Erkundung der Erscheinungen, suchten nicht den visuellen Schock, den Nachweis des Wunderbaren, des Natura stupet, ihnen geht es um den gleitenden, lückenlosen Beleg einer natura naturans. Es beginnt die Zeit des Sortierens und Klassifizierens. Hier bleibt kein Raum für Ausnahmen und für das Monströse. Das Wunderbare und das Bizarre, das die Kuriositätenkabinette dem Bekannten eingliederten, wurde jetzt Indiz für Ignoranz und Aberglauben.

Ein Ort wie Horace Walpoles Strawberry Hill in Twickenham oder Samuel Rush Meyricks Goodrich Court zeigt an, daß für die Passion, die sich der Wunderkammer zuwandte, nicht das Verstehen, sondern das Rätsel im Vordergrund stand. Die großen Sammlungen des Manierismus hatten ihre epistemologische Funktion verloren, und der Blick, den das zwanzigste Jahrhundert auf Objekt und Objektkult werfen sollte, war noch verhangen. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Thema heute seine ungemeine Brisanz. Unser Interesse hat sich auf eine andere Ebene verlagert, es gilt der ästhetischen und moralischen Aussage dieser Anstrengung, die Sichtbarkeit von Welt vorzuführen.

Im Rückblick erscheint so besehen das Buch Schlossers, das genau zu der Zeit verfaßt wurde, da Picasso seine "Demoiselles d'Avignon" malte, als eine hellhörige und folgenreiche ästhetische Stellungnahme. Denn die Begegnung mit dem Rätselhaften und Alogischen, die die Wunderkammern privilegierten, entsprach dem Schock, den bei Picasso der Besuch des ethnologischen Museums im Pariser Trocadéro hervorrief: Ein Sehen kam zustande, das an ein Auge im "Zustand der Wildheit" appelliert. Hier liegt der Beginn des Verzichts auf das eurozentrische Sehen.

Das Thema Kunst- und Wunderkammern hat in den letzten Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Blick auf die Praktik in den heutigen Ateliers verrät, daß die Kontamination von Dingen und Stimmungen ihre Stunde erlebt. So ist auch verständlich, daß sich die Tafeln, die den vorliegenden Band beschließen, dem aktuellen Kunstbetrieb zuwenden. Diesem Verlangen nach Mischung von Stilen und Techniken läßt sich entnehmen, daß der Glaube an eine geradlinige Entwicklung der Moderne, die sich souverän ein Terrain der Formzuspitzung nach der anderen erarbeitet, abgewirtschaftet hat.

Die Ideologie, die hinter dem nostalgischen Blick auf das Kuriositätenkabinett steckt, bedeutet Sehnsucht nach einem Denken, das mit Symbolen arbeiten und mit magischen Formeln spielen darf. Gegen den Fortschrittsglauben setzt die Wiederentdeckung des Kuriositätenkabinetts die Melancholie, das "saturnische Temperament" des auf sich selbst zurückgeworfenen Künstlers. Der horror vacui in diesen Räumen ruft zu dieser Kritik an der Erfaßbarkeit der Welt auf. Geschichtlich betrachtet, war es die surrealistische Auflehnung gegen Erklärbarkeit, die dem Labyrinthischen und dem Überraschenden den Weg ebnete. Mit dem Hinweis auf die Begrenztheit einer pragmatischen Sicht unterminierten diese Künstler und Dichter den Gebrauchswert der Dinge. Der Trubel, der in den letzten Wochen in Paris um André Bretons reichbestücktes Kabinett individueller Leidenschaft entbrannte, zeigte an, daß in diesem Umkreis Kategorien des Erlebens in den Vordergrund treten konnten, die die museale Vereinzelung des datierbaren Stücks nicht mehr ertragen. Die Lebensspur, das Heteroklite, das Veraltete und Nutzlose dominieren.

Der logische Kurzschluß, der bei der Annäherung unvereinbarer Gegenstände und Konzepte zustande kommt, liefert dem emotionalen Sehen, das der Surrealismus privilegiert, die Energie. Nicht alles, was sich heute auf die Kunst- und Wunderkammer beruft, hat Bedeutung. Einigen der neueren Sammlungen, die im vorliegenden Band erwähnt werden, kommt rein volkskundlicher Charakter zu. Uns interessiert, was sich in der Nachfolge des Surrealismus darum kümmert, die einfache Verständlichkeit der Dinge zu diskreditieren. Denn dank diesem Auftrag bleibt der Umgang Bretons und der Surrealisten mit den Objekten so spannend. Er bleibt nicht nur an den Blick, der das Kuriose sucht, gebunden. Er ist auf den Kommentar angewiesen. Und diesen Kommentar, das zeigen Bücher wie "Nadja", "Le Paysan de Paris" oder "La femme 100 têtes", liefert die Poesie.

Patrick Mauriès: "Das Kuriositätenkabinett". DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 256 S., geb., 72,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Ein "wunderbares Buch", schwärmt Thomas Fechner Smarsly, das selbst wie eine Wunderkammer wirke, angefüllt mit Exzentrischem und Sonderbaren der vergangenen Jahrhunderte. Von den ersten fürstlichen Sammlern der Renaissance über die Gelehrten der Aufklärung bis hin zu den Surrealisten, die Ende des 20. Jahrhunderts die willkürliche Zusammenstellung von Objekten wiederentdeckten: alles drin, eine Hommage an das Kuriositätenkabinett, das in seiner Vielfalt und auch in seiner persönlichen Harmonie die gottgegebene Ordnung der Welt repräsentiere. Allerdings hätte sich der Rezensent neben all der "Opulenz" von Patrick Mauries Band eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den spezifischen Wissenskulturen und den daraus entstandenen Unterschieden in der Art des Sammelns gewünscht, die "diskursiven Bezüge und epistemischen Brüche" kommen ihm zu kurz. Und auch die Literaturhinweise, tadelt Smarsly, sind leider von "geradezu ärgerlicher Bedürftigkeit".

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