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Wer den gesamten Kanon lyrischer Formensprache derart beherrscht und sich seiner mit nonchalanter Virtuosität bedient wie Jan Wagner, steht leicht unter Elfenbeinturmverdacht. Wie schön, dass Jan Wagner schon im Titel seines neuen Lyrikbandes diesem Verdacht die Grundlage entzieht: Australien zeigt diesen Ausnahmelyriker als Reisenden, rund um den Kompass und ans andere Ende der Welt, quer durch Raum und Zeit, zeigt ihn als Entdecker, Landschaftsmaler, Spiritisten und immer als Brennmeister hochprozentigen Geschichtendestillats. Man ist glücklich in Australien, / sofern man nicht dorthin…mehr

Produktbeschreibung
Wer den gesamten Kanon lyrischer Formensprache derart beherrscht und sich seiner mit nonchalanter Virtuosität bedient wie Jan Wagner, steht leicht unter Elfenbeinturmverdacht. Wie schön, dass Jan Wagner schon im Titel seines neuen Lyrikbandes diesem Verdacht die Grundlage entzieht: Australien zeigt diesen Ausnahmelyriker als Reisenden, rund um den Kompass und ans andere Ende der Welt, quer durch Raum und Zeit, zeigt ihn als Entdecker, Landschaftsmaler, Spiritisten und immer als Brennmeister hochprozentigen Geschichtendestillats.
Man ist glücklich in Australien, / sofern man nicht dorthin fährt" - diese Verse von Alvaro de Campos hat Jan Wagner seinem Band vorangestellt und zum poetischen Programm einer Weltreise umgemünzt. Er durchstreift alle Himmelsrichtungen und Kontinente, reale wie imaginäre, und egal, ob er einen Gecko betrachtet, den Lake Michigan besingt oder doch noch nach Australien gelangt - wo immer Jan Wagner uns hinführt, fördert er Überraschendes zu Tage, Seite um Seite beglückende Poesie.
Autorenporträt
Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt seit 1995 in Berlin. Er ist Lyriker, Übersetzer englischsprachiger Lyrik, freier Rezensent (Frankfurter Rundschau u.a.) sowie bis 2003 Mitherausgeber der internationalen Literaturschachtel Die Aussenseite des Elementes. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften.
2009 erhielt er das Stipendium des Lessing-Preises, 2011 wurde er mit dem "Kranichsteiner Literaturpreis" und dem "Friedrich-Hölderlin-Preis" ausgezeichnet und 2013 mit dem "Paul Scheerbart-Preis" für seine sprachliche Präzision und sein Feingefühl für den hintersinnigen Witz der Lyrik des Briten Simon Armitage. 2014 erhielt Jan Wagner den "Mörike-Preis" für seinen "Nie versiegenden Einfallsreichtum" und 2016 den "Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2011

Die Auferstehung des Wracks als Fossil

Sich die Welt erschließen mit Lyrik? Und auch in wüsteste Gegenden vordringen? Das geht. Mit Jan Wagner ist das Dasein überall zu ertragen. Selbst in Australien.

Natürlich landet man am Ende in Australien. Dabei ist die Warnung, die Jan Wagner seinem Gedichtband voranstellt, eindeutig. Man sei glücklich in Australien, erklären die Verse Álvaro de Campos' (das ist eines der Pseudonyme von Fernando Pessoa), sofern man nicht dorthin fahre. Auch wenn das in seiner paradoxen Rätselhaftigkeit nicht recht aufzulösen ist, klingt es nur allzu wahr, zumindest angesichts des letzten Gedichts in diesem Band. Denn was sich unter dem Titel ebenjenes Kontinents offenbart, sind nur noch die Abwässer und verrotteten Hinterlassenschaften der Zivilisation: "ein kaleidoskop zerbroche-//ner flaschen", "das paläon-//tologische autowrack, wie ein fossil / vom lehm verschluckt". Nicht eben ein glückverheißender Ort.

Womöglich aber ist das noch gar nicht Australien. Die beiden Jungen jedenfalls, die das "wir" in diesem Gedicht bilden, wähnen sich noch nicht am Ziel. Sie graben sich durch den Abfall hindurch in nachgerade feierlicher Erwartung von "kohle-/flözen / und erz", um schließlich zu verschwinden "in dem mythischen, dem most-//richgelben abend, wo am rand / ein spaten steckte wie ein fahnenmast". Etwas sonderbar Friedliches hat dieses Graben und Eintauchen, gleichsam etwas Triumphierendes durch den wie ein Banner in die Erde gerammten Spaten, das gar nicht recht zu der trübseligen Endzeitstimmung der Umgebung passen mag.

Es passt dann aber wiederum doch. Liest man dieses Gedicht - und mit ihm die übrigen, die Wagner in diesem abschließenden von insgesamt fünf Zyklen versammelt - auch als poetologisches Statement, dann sind es eben dieses Suchen und dieses Vordringen, die mehr als das Ankommen selbst Grund und Wesen des Daseins und Glücks ausmachen. Und damit natürlich auch das Wesen des Schreibens. Wagner schaut, indem er diesen Bewegungen nachspürt, auf die vermeintlich wenig bedeutsamen Erscheinungen der Natur wie auf eine Schnecke, "deren fuß ihr bauch ist: / sie bewältigt ihren weg nicht, / sie verzehrt ihn". Und unvermutet erkennt Wagner in diesem unspektakulären kleinen Tier etwas hinreißend Schönes, ein "kleines grasschiff, immer in schräglage", "zieht sie einen silberschweif / hinter sich her, ähnlich den fallenden / sternen - nur langsamer, / langsamer".

Aber auch auf das Getriebensein schaut Wagner, auf die hässliche Seite des Suchens, dem etwas Zerstörerisches innewohnt. Von dem Abenteurer Michel Vieuchange, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts darauf brannte, Smara, die verbotene Wüstenstadt, zu sehen und deshalb "die endlosen wochen im tragekorb / als schmutziges, gottloses bündel" ertrug, immer in Erwartung des tödlichen Skorpionbisses oder der Ruhr, die im verschmutzten Wasser lauerte, erzählt eines der Gedichte. Eine animalische, gleichsam gruselige Studie des Suchens gilt einem Pitbull, der sich in sein Opfer verbeißt und nicht von ihm lassen kann: "das fell / zu klein für das, was sich unter ihm bündelt, / die batterie von muskeln, erschütternd / in seiner häßlichkeit: durch eine brille / aus blut vor den unterlaufenen augen / starrt er dich an, während ein tropfen / speichel sich von seinen lefzen abseilt."

Gleichermaßen in alle vier Himmelsrichtungen bereist Wagner die Welt in den ersten vier Zyklen von "Australien" - so heißt auch der ganze Band, der vierte des 1971 Geborenen - und bringt Bilder mit, die von erstaunlicher Einprägsamkeit und Tiefenschärfe sind. Mit einer ruhigen, durch alle Zeit- und Bewusstseinsschichten dringenden Aufmerksamkeit nimmt Wagner seine Umgebung wahr und lässt sie verschmelzen zu Gedichten, die immer in der Balance bleiben zwischen dem Nichtselbstverständlichen und dem Selbstverständlichen, zwischen Beobachtung und dem ins Imaginäre Ver- und Weitergesponnenen. Sei es der Traum des Murmeltiers unter der Veranda, sei es die Variation auf Paul Gerhardts Gedichtzeile "der mann wird dem baume gleich", die man noch so oft lesen kann und nicht den Moment wird fixieren können, in dem aus dem Mann, der eben noch "rauschen / von laub im ohr" hatte, ein Baum wird, der "seinem sturm entgegen" wächst.

Womöglich ist das auch deshalb so herrlich unmöglich, weil Wagners Verse selbst irgendwo dazwischen schweben, zwischen vom Wind durchrauschter Leichtigkeit und im Untergrund Verwurzeltem. Ist es einerseits immer das Besondere, das Überraschende einer Beobachtung oder eines Gedankens, das in seinen Gedichten plötzlich mit umwerfender Klarheit aufblitzt, dann ist dieses Besondere doch stets aufgehoben in der Selbstverständlichkeit der Welt.

Dieses Aufgehobensein, ohne sich zu einem diffusen Einerlei zu vermengen, vollzieht auch die Sprache Wagners, die ruhig ist wie der Blick des Weltreisenden. Das Prinzip, dass die Verse sich unmerklich reimen, als würde die Welt just an dieser Stelle für einen Moment beinahe harmonisch zusammenklingen, beherrscht Wagner wie kaum ein anderer. Poetologisch wie das abschließende kann man deshalb auch das erste Gedicht dieses Bandes lesen: "ein astronom / mit einem blick am himmel und dem andern / am boden - so wahrt es den abstand / zu beiden", heißt es über das Chamäleon, das hoch auf einem Ast sitzt, als würde es dort schon seit Jahrhunderten verweilen. "Komm herunter, rufen wir. doch es regt / sich nicht, verschwindet langsam zwischen / den farben."

WIEBKE POROMBKA.

Jan Wagner: "Australien". Gedichte.

Berlin Verlag, Berlin 2010. 106 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2011

Auf der Gorch Fock zu lesen
Wind und Weite: Jan Wagners Gedichtband „Australien“
Im letzten Gedicht scheint Jan Wagners neuer Band „Australien“ sein Ziel erreicht zu haben: Es heißt „australien“. Aber wo sind wir? In einer Brache, fern einer Autobahn, bei einem Abwasserrohr und Autowracks, in einem Niemandsland also, mutmaßlich am Großstadtrand. Natürlich sagt der Dichter das schöner, das Abwasserrohr überrascht „mit seinem biblischem dunkel und dem schlichten rinnsal, das es predigte“, das Autowrack ist „paläontologisch . . . wie ein fossil / vom lehm verschluckt“. Ein Metaphernkünstler entwirft eine Jeff-Wall-Szenerie. Sie könnte überall auf der Welt sein, aber nicht notwendig in Australien.
In diesem unmarkierten Gelände fangen zwei Jungen zu buddeln an und fragen sich, wie lange sie graben müssen „bis wir es mit felsen / zu tun bekommen würden, kohle-/ flözen/ und erz? wie lange, bis irgendwo ein koala// die erde sich bewegen spürte,/ um etwas seltsames zu sehen:/ ein loch im boden, zwei verschmierte/ jungen, die bis zehn// zu zählen versuchten . . . “.
Erst jetzt scheint „Australien“ erreicht, indem man nach einer Grabung durch den ganzen Erdball auf der anderen Seite heraussteigt. So sind Kinderträume, und sie beginnen an irgendeinem Stadtrand, den man sich in eine mythische Abenteuerfremde zurechtfantasiert, obwohl man eigentlich nur hinter die eigene Wohnsiedlung gelaufen ist.
Jan Wagners Band hat fünf Kapitel, erst nach den vier Himmelsrichtungen benannt, das letzte dann „Australien“. Eine poetische Heimat- und Weltkunde also, die in vielen Gedichten konkrete Orte erkennen lässt, von den Hopfenfeldern in Franken bis zu amerikanischen Ebenen; manche tragen Orts- oder Ländernamen – Nicosia, Frombork, Ohio –, andere sind nach Pflanzen, Tieren, Dingen, ja nach Dichtern und Personen benannt.
Überall spricht nicht ein ausgebuffter, globalisierter Globetrotter, sondern ein neugierig-weltfreundlicher, jungenhafter Abenteurer, dem das Allernächste so aufregend schön wird wie die Welt auf der anderen Seite des Planeten.
Im Gedicht „zwetschgen“, dem wunderbaren Lobpreis spätsommerlicher Fruchtfülle, steht der Dichter „im zentrum eines ganzen baumes/ wie leonardos mann im kreis“, und er bringt den Baum so ins Zittern, dass die ganze Fruchtfülle hinabprasseln kann. Der Leonardo-Mann zeigt in alle vier Weltgegenden, die ihm ihre Schönheitsfrüchte abwerfen. Ohio: „die holzhäuser in blau und grau, / aufgewärmt von der sonne./ die grillenmaschine, die langsamer schnurrt, // und ein himmel, der für nichts wirbt als sich selbst . . . im norden liegen die großen seen, / und der wind geht durch bis nach chile.“
Mit dem Wind hat es Jan Wagner überhaupt, denn der Wind zeigt „die riesenhafte Weite der Welt an, in der nur einzelne Flecken vorübergehend Heimat werden können: „die ganze nacht lang tobte der sturm / ums weiße holzhaus, zusammengehalten/ von nichts als dem dünnen lampenschein/ seiner zimmer.“ („vom lake michigan“).
Das Hopfengedicht erzählt vom Wachsen und Blühen über die vier Jahreszeiten, es endet in winterlicher Kahlheit und zugleich in einem Akzent von altmodischer Gemütlichkeit, erzeugt von dem Saft, den man mit dem geernteten Hopfen macht: „nur fahnenstangen bleiben./ die mondluft in den nackten dörfern/ trägt das gedröhn der schenken über land.“
Natürlich zeigt Jan Wagner, der junge Meister, der soeben mit dem Hölderlin-Preis 2011 ausgezeichnet wurde, auch diesmal, was er als Dichter kann, wie viele Tonfälle, Versklänge und Formen ihm zur Hand sind. Balladen zum Beispiel, im Gedicht „tätowierungen“: „die erste machte ihm ein maat,/ als er auf einer matte/ aus bast lag, stunden vorm beschuß/ der spanischen armada . . . “ – übrigens gern auf der „Gorch Fock“ zu lesen: „und knatternd überm fockmasttop / die knochen der piraten –, / mit einem satz ins meer hinab/ die nackte haut zu retten“. Wagner liebt Wörter wie „Fockmasttop“, „Dommel“ oder „Quecke“, handfeste, aber etwas entlegene, gegenständliche Ausdrücke, die sympathisch uncool sind.
Wer sich in diesen durch die Kontinente ziehenden Band vertieft – warum nicht beim Herumsitzen auf den überall gleichen Flughäfen im Warten während irgendeiner Verkehrskatastrophe? –, bekommt unweigerlich gute Laune, was nicht nur am Bilderreichtum, der Klangfülle, der schieren Wortschönheit eigentlich jeden Gedichts liegt, sondern auch an der Beigabe eines reizenden Humors, der sich am ehesten zeigt, wenn man sich die Gedichte laut vorliest.
Man mache die Probe beim Gedicht auf eine Schnecke: „die schnecke betrachten, während sie uns/ kaum wahrnehmen kann, zu eilige schemen/ jenseits der bühne, flüchtiges am rande/ eines anderen größeren dramas,/ und das heißt: schnecke.“ Und als wolle Wagner zeigen, dass er alles kann, gilt gleich das nächste Gedicht dem Hagel: „hagel- // körner, aus denen nichts wachsen wird. / bis auf die kostbare stille danach,/ das kühle hagelfeld der stille.“
Das größere Drama, das Schnecke heißt, und die Stille nach dem Hagel: Wann hat es das in der deutschen Lyrik seit Barthold Heinrich Brockes’ „Irdischem Vergnügen in Gott“ aus dem 18. Jahrhundert gegeben? Gewiss, immer wieder, hie und da. Jan Wagner bietet seine poetische Schöpfungsseligkeitschlanker als der voluminöse Brockes, biedermeierfrei, bubenhaft überraschend, mit begeisternder Könnerschaft. Er ist einer unserer Besten.
GUSTAV SEIBT
JAN WAGNER: Australien. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2010. 102 Seiten, 18 Euro.
Wer sich in diesen durch
die Kontinente ziehenden
Band vertieft, bekommt
unweigerlich gute Laune
Hölderlinpreisträger des Jahres 2011: Jan Wagner. Foto: Isolde Ohlbaum
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gustav Seibt muss vor diesem Gedichtband warnen: Beim Lesen stelle sich "unweigerlich gute Laune" ein. Jan Wagner nämlich, meint Seibt sei einfach ein Könner, "einer unserer Besten", ein Meister. Unschlagbar der Reichtum seiner Bilder, die Schönheit seiner Worte, sympathisch uncool seine Vorliebe für das handfeste Abseitige("Fockmasttop, Dommel, Quecke). In fünf Kapiteln bereist Wagner die Welt, oder besser gesagt: in den ersten vier bereist er alle Himmelsrichtungen, erzählt von Franken und Ohio, Frombork und Nicosia, im fünften Kapitel erkundet er "Australien", dies allerdings eher als Sehnsuchtsort denn als tatsächlichen Kontinent. Sehr sympathisch ist dem Rezensenten vor allem, dass sich Wagner nie als abgeklärter Globetrotter präsentiert, sondern als neugieriger, "weltenfreundlicher" Abenteurer, und auch die Frechheit, mit der Wagner zeigt, was er alles kann, wie viele Formen und Klänge er beherrscht, findet Seibt großartig.

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