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»Was ich möchte? Ich will meine Frau wieder zurückhaben, die unschuldig im Ghetto leidet!« Edwin Geist, 10. Juni 1942Ein ergreifendes Zeugnis aus der Schreckenszeit der Massenmorde an den Juden.Wir werden Leser von intimen Tagebuchblättern, die nie für fremde Augen bestimmt waren; von Zwiegesprächen, die Edwin Geist mit der im gar nicht fernen Ghetto internierten, aber doch unerreichbaren, geliebten Frau führt - mit Lyda. Der als 'Halbjude' von den Nationalsozialisten mit Berufsverbot bestrafte Komponist Edwin Geist war 1938 von Berlin ins litauische Kaunas gegangen, wo er sich in Lyda…mehr

Produktbeschreibung
»Was ich möchte? Ich will meine Frau wieder zurückhaben, die unschuldig im Ghetto leidet!« Edwin Geist, 10. Juni 1942Ein ergreifendes Zeugnis aus der Schreckenszeit der Massenmorde an den Juden.Wir werden Leser von intimen Tagebuchblättern, die nie für fremde Augen bestimmt waren; von Zwiegesprächen, die Edwin Geist mit der im gar nicht fernen Ghetto internierten, aber doch unerreichbaren, geliebten Frau führt - mit Lyda. Der als 'Halbjude' von den Nationalsozialisten mit Berufsverbot bestrafte Komponist Edwin Geist war 1938 von Berlin ins litauische Kaunas gegangen, wo er sich in Lyda verliebte und sie heiratete.Reinhard Kaiser ist vor Jahren auf diese atemberaubenden fünf Hefte gestoßen - und hat sie nun neu ediert und kommentiert. Sie zeugen von dem Mut und der List, mit der Edwin Geist bei den Nazi-Behörden die Freilassung seiner geliebten Lyda erreicht - nachdem es ihm selbst schon glücklich gelungen war, dem Ghetto zu entkommen. Edwin Geists Alltagschronik aus sechs Monatenerzählt von seiner Hoffnung und seiner Verzweiflung, von seinen Kompositionen und Lektüren - beim Warten auf Lyda.Das »Tagebuch für Lyda« ist aber nicht nur ein Dokument der - wenn auch leider nur kurzzeitigen - Rettung dieses wundersamen Paares. Zur Geschichte dieses Tagebuchs gehören auch seine Odyssee - aus dem Kaunas der Nachkriegszeit bis zu Reinhard Kaiser - und die abenteuerlichen Wege des musikalischen Werkes eines Komponisten, der nun auch anhand von zwei Stücken auf einer Compact Disc wiederentdeckt werden kann.
Autorenporträt
Reinhard Kaiser, geb. 1950 in Viersen. 1968 Beginn des Studiums der Germanistik, Romanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie. Seit 1975 Übersetzer und Lektor für verschiedene Verlage. Seit 1989 Arbeit als freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen und Rundfunkanstalten. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. Ernst Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis 1993, Deutscher Jugendliteraturpreis 1997, Geschwister-Scholl-Preis 2000. Der Autor lebt mit seiner Familie in Frankfurt/Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2012

Ich bin bei Dir, Geliebte, denn ich lebe in Dir wie Du in mir

Jahrelang hat Reinhard Kaiser das Leben des Berliner Komponisten Edwin Geist rekonstruiert. Es ist die Geschichte einer großen Liebe, die tragisch endete.

Als Autor bleibt Reinhard Kaiser im Hintergrund. Der in Frankfurt lebende Schriftsteller, Übersetzer und Privatgelehrte tritt nur als Verfasser eines "Vorberichts" auf, von dem das "Tagebuch für Lyda" nur "vorgestellt" wird: eine Geste der Bescheidenheit, hinter der eine mehr als zehnjährige Forschungsarbeit steckt, Kaisers historiographisch-biographischer Versuch, das Leben des Berliner Komponisten Edwin Geist, wenigstens dessen letzten Lebensjahre, so detailliert als möglich zu rekonstruieren.

Schon 2004 war eine erste "Suche nach Edwin Geist" mit dem Titel "Unerhörte Rettung" erschienen. Damals stand Kaisers Spurensuche nach einem Unbekannten im Zentrum. Der Band ist das Ergebnis einer noch intensiveren Recherche. Mehr Licht ins biographische Dunkel Edwin Geists bringend, rückt er Dokumentarisches und damit die Person des Protagonisten in den Vordergrund. Vor allem aber erinnert eine dem Buch beiliegende CD an Geists musikalisches Werk.

Der Komponist Edwin Geist wollte vor allem eines, für seine Musik leben. 1902 in Berlin geboren, ging er in den zwanziger Jahren als Korrepetitor nach Stettin, war Kapellmeister am Schauspielhaus Zürich, komponierte, schrieb Libretti. 1937 endete seine Karriere. Die Reichsmusikkammer verbot ihm jede kompositorische Tätigkeit, Geist, dessen Vater jüdisch war, galt als "Halbjude". Edwin, von vitalem Eigensinn, emigrierte nicht nach Frankreich, England oder nach Amerika, sondern nach Litauen, bis zum Hitler-Stalin-Pakt unabhängige Republik.

In der damaligen litauischen Hauptstadt Kaunas verliebte er sich in Lyda Bagrianski, heiratete sie 1939 kurz vor Kriegsbeginn. Lyda war Jüdin, aus bildungsbürgerlichem Hause, ihren Beruf als Pianistin hatte sie aufgegeben. Mit der Ehe nicht einverstanden, entzog ihr der Vater eine Mitgift, ihm missfiel der mittellose Musiker, der Urberliner, der keinerlei Beziehungen zur jüdischen Tradition hatte. Dann überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion, und Litauen und Kaunas wurden besetzt. Im August 1941 wurden Edwin und Lyda ins Getto der litauischen Kapitale deportiert. Zu diesem Zeitpunkt war Lydas Vater bereits bei dem berüchtigten Pogrom kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Kaunas auf offener Straße ermordet worden, auch die Mutter wurde deportiert und kehrte nie wieder zurück. Nach mehr als sieben Monaten gelang es Geist, aus dem Getto entlassen zu werden. Lyda blieb zurück, vorerst.

Die unwahrscheinliche und doch wahre Geschichte der Befreiung des Ehepaars Geist bildet den Mittelpunkt des Buchs. Kaum aus dem Getto entlassen, setzte der halbverhungerte Edwin alle seine verbliebenen spärlichen Kräfte daran, auch seine Frau aus dem "toten Dorf" herauszuholen. Während der fünf Monate langen Wartezeit schrieb er sein "Tagebuch für Lyda", ein eindrucksvolles, von Kaiser in vollem Wortlaut wiedergegebenes Zeugnis.

Zwar waren die Aufzeichnungen schon 2002 auf Deutsch in einem litauischen Verlag veröffentlicht worden, bei uns hatten sie aber kaum Resonanz gefunden. Man kann nur hoffen, dass Kaisers sorgsamer Edition jetzt die gebührende Aufmerksamkeit widerfährt.

Der "ganz und gar private Text" des zwischen März und August 1942 verfassten Tagebuchs war Geists Überlebensmittel. Der imaginäre Dialog mit Lyda half die Wartezeit bis zu deren ungewisser Entlassung zu überbrücken und den Ehemann vor der schlimmsten Verzweiflung seines Lebens, ohne seine Frau auskommen zu müssen, zu bewahren. "Ich bin bei Dir, Geliebte, denn ich lebe in Dir wie Du in mir!", so oder so ähnlich klingt es an vielen Stellen. Das Tagebuch ist so sehr Dokument einer selbstlosen Liebe wie einer schier unglaublichen Rettungsaktion. Geist war aus dem Getto freigekommen, weil es ihm gelungen war, von Helmut Rauca, Mitglied des Einsatzkommandos 3 und mitverantwortlich für die Ermordung der litauischen Juden, wenigstens zeitweise als "Sonderfall" behandelt zu werden.

Entlassen werden und den gelben Stern ablegen konnte er, weil er Rauca versprochen hatte, sich von Lyda scheiden zu lassen. Diese bekam er frei, weil es der erschöpfte, an Skorbut Leidende schaffte, einen Arzt aufzutreiben, der ihm schriftlich bestätigte, Lydas Mutter habe ihm bei der Geburt ihrer Tochter gestanden, der eigentliche Vater sei ein nichtjüdischer Pole. Der Dialog mit Rauca, im Tagebuch detailliert wiedergegeben, ist das erschütternde Dokument des verzweifelten Kampfes, den Geist führte, um den "rassischen" Status Lydas zu verändern, sie zur "Halbjüdin" oder gar "Dreiviertelarierin" erklären zu lassen - die Bedingung für ihre Entlassung. Leider geht Kaiser in seinen Anmerkungen, die einzige Kritik, die an diesem Band zu üben wäre, nicht darauf ein, dass Geist, wie dieser notiert, die "Nürnberger Gesetze . . . mit all ihren Klauseln und Kautschuk-Paragraphen" auszunutzen versuchte. Seine wie auch Lydas Befreiung wird aber nur auf dem - zugegebenermaßen komplizierten - Hintergrund der NS-Rassengesetzgebung verständlich.

Die von der absoluten Macht des Täters dem absoluten Opfer gewährte Gnade war nur von kurzer Dauer. Geist hatte Rauca nicht nur versprochen, sich scheiden zu lassen, Lyda sollte sich zudem, wie er notiert, einer "wahnwitzigen Verstümmelung" unterziehen - ihrer Sterilisation. Das Paar erfüllte jedoch keine der Auflagen. Edwin und Lyda lebten, trotz des Rates von Freunden, sich vorübergehend zu trennen und sich auf dem Lande zu verstecken, weiter in Kaunas zusammen, als ob es weder Vernichtungskrieg noch Judenmord gebe.

Im Dezember 1942 wurde der gerade von einer Lungenentzündung genesene Geist erneut ins Getto deportiert und wenige Tage später erschossen. Trotz der Ermordung ihres Mannes hielt Rauca daran fest, Lyda müsse sich sterilisieren lassen, Hinweis darauf, dass er die auf der Wannseekonferenz von der SS erhobene, aber nicht realisierte Maßnahme gegen "Halbjuden" fern der Berliner Mordzentrale als eigenmächtiger Täter anwandte. Anfang Januar 1943 vergiftete sich die erst 32 Jahre alte Lyda, ein letzter Akt der Selbstbestimmung. Die in Kaunas entstandenen Partituren und Papiere Edwin Geists konnten in Sicherheit gebracht werden, bis heute ist keine der Kompositionen im Druck erschienen.

Es ist müßig, den Schrecken, den das Buch hervorruft, in Worte fassen zu wollen, den Schrecken darüber, dass Edwin und Lyda Geists banaler Lebenswunsch, nichts anderes als Mann und Frau, als ein Liebespaar sein zu dürfen, eine tödliche Illusion war. Stattdessen lese man das erschütternde Buch dieses tief in der deutschen Musiktradition - Wagner, Schumann sowie "Bach, Bach und abermals Bach" - verwurzelten Mannes, höre vor allem seine Kompositionen. Mit dem auf der CD enthaltenen, im Juli 1942 entstandenen "Kosmischen Frühling" hatten Edwin und einige mit ihm musizierende Freunde Lyda zu Hause begrüßt, als sie aus dem Getto in der Hoffnung zurückkehrte, das Leben könne in wiedergewonnener intimer Zweisamkeit einfach weitergehen.

THOMAS MEDICUS

Edwin Geist: "Stündlich zähle ich die Tage . . ."

Vorgestellt von Reinhard Kaiser. Die Andere Bibliothek, Berlin 2012. 282 S., 1 CD, geb., 32,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dass der verdienstvolle Rechercheur und Herausgeber dieser zum Teil privatesten Dokumente, Reinhard Kaiser, hinter seinem Forschungsobjekt in den Hintergrund tritt, findet den Zuspruch des Rezensenten Thomas Medicus. Die so in den Fokus gerückte Person des litauischen Komponisten Edwin Geist und seine Geschichte, haben es Medicus angetan. Gerührt ob der Liebesgeschichte zwischen Geist und Lyda Bagrianski, zutiefst erschrocken durch die Verfolgung und Ermordung beider im Holocaust, greift Medicus zu der dem Band beigegebenen CD mit Kompositionen Geists und lauscht ergriffen.

© Perlentaucher Medien GmbH