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Wie Leopardi zu dem Ruf eines eher harmlosen Klassikers gekommen ist, dem allenfalls ein paar schöne, wehmütige Gedichte zu verdanken sind - das ist einigermaßen schleierhaft. Er war, darin Schopenhauer ebenbürtig, einer der radikalsten Pessimisten des neunzehnten Jahrhunderts, und seine Kritik der Zivilisation erinnert an Nietzsche. Nur, daß er kein philosophisches "Hauptwerk" hinterlassen hat, sondern ein immenses Sudelheft, den berühmten Zibaldone. Aus diesem dreitausendseitigen Konvolut hat Mario Rigoni die historischen und politischen Reflexionen Leopardis ausgezogen, eine Operation,…mehr

Produktbeschreibung
Wie Leopardi zu dem Ruf eines eher harmlosen Klassikers gekommen ist, dem allenfalls ein paar schöne, wehmütige Gedichte zu verdanken sind - das ist einigermaßen schleierhaft. Er war, darin Schopenhauer ebenbürtig, einer der radikalsten Pessimisten des neunzehnten Jahrhunderts, und seine Kritik der Zivilisation erinnert an Nietzsche.
Nur, daß er kein philosophisches "Hauptwerk" hinterlassen hat, sondern ein immenses Sudelheft, den berühmten Zibaldone. Aus diesem dreitausendseitigen Konvolut hat Mario Rigoni die historischen und politischen Reflexionen Leopardis ausgezogen, eine Operation, durch die dessen subversive Kraft mit verblüffender Schärfe hervortritt. Ohne jede Rücksicht auf die Konventionen seiner Zeit, fern von rationalistischen Illusionen und utopischen Versuchungen, nimmt Leopardi Revolution und Reaktion, Demokratie und Diktatur, Fortschritt und Konservativismus ins Visier und führt unbarmherzig ihre Widersprüche vor. Einerseits erweist dieser Autor sich als genui ner Erbe Machiavellis und Guicciardinis, andererseits greift er den Problemen unserer Tage vor. Er besteht darauf, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Das unterscheidet ihn von allen Ideologen, damals wie heute.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002

Das grade Holzbein der Inhumanität
Endlich ist er auch bei uns zu entdecken: Giacomo Leopardi, der kälteste Schriftsteller Italiens
Die besseren Kenner wussten es schon immer: Italien ist das kälteste Land der Welt – so hat es Martin Mosebach zusammengefasst –, und seine Bewohner sind, nach einer berühmten Formulierung Rudolf Borchardts, „zähe und rechnerische, kalte, überlegene und klare Kinder einer seit unvordenklicher Zeit festgewordenen Rasse, so fein von Kopf, wie deutlich, ja grob von Seele, im ausgeträumten Innern schwunglos und streng bei der Sache”. Wer das kalte Herz Italiens kennenlernen will, der muss sich an seine Staatsschriftsteller halten, an Machiavelli, Baldassare Castiglione oder den Grafen Giacomo Leopardi.
Leopardi, ein Kleinadliger aus dem Nest Recanati in einer gottverlassenen nördlichen Provinz des Kirchenstaates, lebte von 1798 bis 1837, in der Zeit, als Italien erst von den Heeren Napoleons aufgestört und danach, durch den Wiener Kongress, zu einem Bündel schlecht regierter Satellitenstaaten Österreichs „restauriert” wurde. Die Deutschen kennen Leopardi meist nur als romantischen Dichter, genauer des einen von Rilke übersetzten – und jüngst von Durs Grünbein parodierten – Poems über das Unendliche (L'Infinito), ein Mondscheinstück, durch welches metaphysische Angst schauert wie das Windesbrausen in einer Baumkrone. Eine sehr gelungene neue Auswahlübersetzung von Leopardis „Canti” durch Michael Engelhard liegt seit 1990 vor.
Durcheinanderei
Dass Leopardi auch ein philosophierender Prosa-Autor war, blieb nicht unbekannt. Seit 1817 führte er ein Sudelheft, den von ihm selbst so genannten „Zibaldone” („Durcheinanderei” könnte man übersetzen), in das er fortlaufend datiert Lektürefrüchte, Beobachtungen und längere Gedankenketten eintrug. Bis 1832 erreichten diese Kladden den Gesamtumfang von 4526 engbeschriebenen Seiten, eine Ziffer, die Leopardi-Verehrer auswendig können, weil selbst sie es nur selten schaffen, diese ungeheure Masse zu durchdringen.
Leopardi war ein sehr unglücklicher Mensch, ein vor allem philologisch Höchstbegabter, der sich beim Erlernen seiner vielen Sprachen und bei der rastlosen Lektüre in der zwölftausend Bände umfassenden Bibliothek seines Vaters frühzeitig die Augen verdarb und schon als junger Mann bucklig wurde. Der bebrillte Schwächling fand keine Frau, denn in der Liebe galt der Satz, dass nur die inneren Werte zählen, natürlich auch damals nicht. Leopardi wurde zu einem furchterregend konsequenten pessimistischen Denker, weniger systematisch als Schopenhauer, aber in den Konklusionen dem deutschen Denker, der ihn nach seinem Tod zustimmend zur Kenntnis nahm, erstaunlich nah.
Benedetto Croce, der große liberale Geschichtsphilosoph, wollte Leopardis Pessimismus nicht gelten lassen, schließlich handele es sich nur um systematisierte Affekte, nicht um Argumente. Doch auch Croce mochte sich dem Reiz dieser Prosa nicht ganz verschließen. Sie ist, jedenfalls im „Zibaldone”, der nicht für die Publikation bestimmt war, sondern als Materialsammlung dienen sollte, nicht eigentlich schön. Doch hat das scharfsinnige Kreisen dieser oft ellenlangen, die Argumente um- und umwälzenden Perioden eine ganz eigene expressive Qualität: Leopardi schreibt atemlose, jeden Gegeneinwand schon vorwegnehmende und dann zermalmende Tiraden, so dass der Fluss der Sätze, hat man sich erst an ihn gewöhnt, eine dringliche, überredende Kraft gewinnt, deren seelisches Äquivalent freilich erschreckend ist: ein Gefühl von Ausweglosigkeit. Leopardi notiert nicht nur, dass und inwiefern die Welt fürchterlich ist, sondern er beweist sich selbst mit kältester Logik jeden Tag von neuem, warum es gar nicht anders sein kann und in Ewigkeit nie anders sein wird. Diese Tausende von Seiten sind ein tintenschwarzes, labyrinthisches Gefängnis.
Das „Massaker der Illusionen”, das nun in der „Anderen Bibliothek” herauskommt, bietet daraus einen Auszug (weniger als ein Zwanzigstel der Gesamtmasse), der sich auf Leopardis Philosophie der geschichtlich-politischen Welt konzentriert und vorwiegend den Aufzeichnungen der Jahre zwischen 1820 und 1823 entnommen ist. Es handelt sich um die Übersetzung einer kommentierten Anthologie, die 1992 im Mailänder Adelphi-Verlag erschien und den „politischen Leopardi” mit unverkennbarem Seitenblick auf die italienische Gegenwart präsentieren sollte. Der Kommentar Mario Andrea Rigonis ist reichhaltig und verschafft so dem Leser nebenbei einen präzisen Eindruck von den Lektüremöglichkeiten im Italien jener Zeit. Zurecht zitiert Rigoni ausführlich Parallelstellen von Rousseau, Montesquieu, Madame de Stael oder Hobbes (er hätte noch mehr Vico heranziehen und dafür auf die modischen Carl-Schmitt- Verweise verzichten können). Bezeichnend ist, dass die Engländer der Zeit, vor allem Adam Smith, ganz fehlen.
Der Dreh- und Angelpunkt von Leopardis Geschichtsphilosophie ist der Begriff der „Illusion”. Er bezeichnet alle idealen Qualitäten, die dem Menschen eigen sein können, Tugend, Glaube, Altruismus – das, was man mit einem alten Wort Lebensmut nennen könnte. Im Lauf der Geschichte sterben die Illusionen, und die Welt wird kalt. Der Gegenbegriff von „Illusion” ist „Vernunft”. Vernunft zeigt dem Menschen, wie die Welt wirklich ist, nämlich dass Tugend oder Nächstenliebe Einbildungen sind und vom eigenen Vorteil ablenken. Das Zerfallsprodukt der Vernunft ist der Egoismus. Wer die Welt ohne Illusionen betrachtet, wird ernüchtert nur noch seine Interessen verfolgen. Anders als Adam Smith glaubt Leopardi allerdings nicht, dass das Zusammenspiel zahlloser Egoismen am Ende in einem höheren Zweck übereinkomme und ungeplant das Gemeinwohl hervorbringe.
Diese eher beiläufig vorausgesetzte Grunddogmatik speist Leopardi in mehrfach ansetzende Kulturkreislauflehren ein, die sich deutlich auf die Antike – den Verfassungskreislauf des Polybios – und die barocke Geschichtsphilosophie Gianbattista Vicos beziehen. Die Idealverfassung sei eigentlich die Monarchie, sagt Leopardi, denn der Zweck der Gesellschaft sei Einklang, und solchen Einklang kann am besten ein einzelner Herrscher herstellen. Doch sowie die Menschen sich in Gesellschaft versammeln, beginnen sie ihre Interessengegensätze zu spüren (der Beginn von Gesellschaft fällt für Leopardi sogar mit dem Entstehen von Barbarei zusammen, die Natur selbst sei gar nicht barbarisch) und gegeneinander zu arbeiten. Der Monarch muss, um den Zerfall, der hier droht, abzuwenden, Tyrann werden. Also wird er gestürzt, und die Republik entsteht. Doch aus der Republik wird, weil die Stärkeren sich in der herrenlosen Gesellschaft durchsetzen, eine Herrschaft der Wenigen, aus der nur neue Tyrannis retten kann – und so immer fort. Es kann gar keine gute Regierungsform geben, beweist Leopardi sich immer von neuem.
Tugend sei Illusion, hinter der sich die Eigenliebe verberge, doch immerhin gibt es Abstufungen der Eigenliebe: Sie kann sich auf ein Kollektiv beziehen oder nur auf das Individuum. Den kollektiven Egoismus nennt man Vaterlandsliebe – keine große Tugend, aber immer noch besser, als der nackte Einzelegoismus. Solche Vaterlandsliebe erkennt Leopardi aber nur in den besten Zeiten der Antike, in Athen und in der Frühzeit Roms. Sie war gepaart mit einer robusten Fremdenfeindlichkeit, ohne die Vaterlandsliebe gar nicht denkbar sei. Als dann die Vaterlandsliebe schwand, wurde die Welt gleichzeitig kosmopolitisch und vollends egoistisch.
Auch hier entwickelt Leopardi eine böse Dialektik: Solange es die Vaterlandsliebe gab, kämpften ganze Völker miteinander; dann schwand der Patriotismus und nur noch Regierungen führten gegeneinander Krieg. Erst in diesem Moment, als es die Völker schon gar nicht mehr gab, entstand das Völkerrecht, der Versuch, den Krieg einzudämmen. Vergebens: Weil die Völker mangels Vaterlandsliebe nicht mehr selbst Krieg führen wollen, mussten ihre Regierungen sie immer schärfer dazu zwingen, die widerspenstigen Gesellschaften immer vollständiger heranziehen.
Nun wurden Volkskriege ohne die dazugehörigen Leidenschaften in Gang gesetzt, kalt geplante und von oben befohlene Katastrophen: „Mit den modernen Katastrophen verstärken sich Stumpfheit, Kälte und Trägheit, Laster und Feigheit, Eintönigkeit, Langeweile und Leblosigkeit für den einzelnen wie für die Nationen allgemein. So sehen sie aus, die Vorteile der Zivilisation, des philosophischen Geistes und der Menschlichkeit, der Schaffung des Völkerrechts und der Erfindung der universellen Liebe, der Zerstörung des gegenseitigen Hasses und der Abschaffung der einstigen Barbarei.”
Das ist eine jener Stellen, wo Leopardi aus seiner etwas retrograden, eigentlich spätbarocken Gelehrsamkeit ein Fenster aufreißt in die Zukunft. Er hat kommende Dinge am Grund der Menschennatur gefunden, von denen zu seiner Zeit erst Andeutungen zu Tage getreten waren. Je enger eine Gesellschaft zusammenrücke, lautet eine andere dieser Ahnungen, desto mehr zerfalle sie innerlich. Die Menschen können allenfalls in gewissen Abständen voneinander existieren, und je mehr die Gesellschaft sich vernetzt und durchdringt – Leopardi spricht von der „società stretta”, was man vielleicht besser als „dichte” denn als „festgefügte” Gesellschaft (wie es die sonst sehr lobenswerte Sigrid Vagt tut) übersetzen sollte – desto konfliktuöser wird sie, weil dann auch die Interessengegensätze viel brisanter wirken. Eine hochvergesellschaftete Gesellschaft von monadischen Vorteilsjägern: Das meinen wir zu kennen.
Falsche Tugenden
Aber wenn Leopardi das schon 1823 kommen sah, was ist dann in der Zeit zwischen ihm und uns passiert? Daran, die sozialen Zerfallsprozesse zu geradlinig zu konstruieren, hindern Leopardi die alteuropäischen Kulturkreislauflehren. Die Illusionen sterben unwiederbringlich, doch erwächst ihnen fürchterlicher Ersatz. Durch Leopardis Gedankenbuch geistert der Ausdruck „mezza filosofia”, Halbphilosophie, dem die Philologie noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hat. Er bezeichnet etwas, was Leopardi im restaurativ ernüchterten Italien seiner Zeit eigentlich noch gar nicht in den Blick bekommen konnte, aber doch ferndiagnostisch erahnte: die modernen Ideologien. Es handelt sich um Ersatzillusionen, eigentlich unphilosophische Pseudophilosophien (denn wahre Philosophie zertört Illusionen), Bastarde aus Affekten und Philosophien, falsche Tugenden. Leopardi schrieb,unmittelbar bevor in Italien der Risorgimento-Nationalismus über die uralte italienische Ernüchterung einen modernen Gefühlsschwung legte. Das Zeitalter der Halbphilosophie begann so richtig erst nach seinem Tod.
Dann freilich raste es über anderthalb Jahrhunderte, ließ auf den Nationalismus den Faschismus und den Kommunismus folgen, säkulare Illusionen, die zwar den anthropologischen Egoismus auf höhere Stufen hoben, sich aber umso zerstörerischer auswirkten. Die Halbphilosophie ist für Leopardi ebenso ein künstlicher Ersatz für naturhafte Illusionen wie eine moderne Verfassung es für die ursrpüngliche Bürgertugend der Antike bestenfalls sein kann. Leopardi nennt solche Surrogate „Holzbeine”: hässliche Hilfsmittel, ohne die es aber nicht mehr geht, hat man erst seine natürlichen Beine verloren.
Wir sind es gewohnt, auf die Geschichte zurückzublicken. Mit Leopardi können wir auch einmal vorausblicken: von 1820 auf das zwanzigste Jahrhundert. Es war das Jahrhundert der kalten Katastrophen, der Halbphilosophien, der Armeen holzbeiniger Schlächter.
GUSTAV SEIBT
GIACOMO LEOPARDI: Das Massaker der Illusionen. Ausgewählt und kommentiert von Mario Andrea Rigoni. Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt. Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 309 S., 27,50 Euro.
Thanatos und Markuslöwe: Ausschnitt aus Antonio Canovas Grabmal in Venedig
Foto: AKG
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gustav Seibt rezensiert ein Buch, dass eine Auswahl von Notizen zu historisch-politischen Themen von dem Philosophen Giacomo Leopardi enthält. An den Stil des italienischen Autors, der zwischen 1798 und 1837 gelebt hat und der einer breiteren Leserschaft eher als Lyriker bekannt ist, müsse man sich erst "gewöhnen", warnt der Rezensent. Er weist auf den Hang Leopardis zu "zermalmenden Tiraden" hin, meint aber, dass daraus der Prosa auch eine "dringliche, überredende Kraft" zukommt. Der jeden Gedanken durchdringende Pessimismus schafft allerdings laut Seibt ein "tintenschwarzes, labyrinthisches Gefängnis", dessen Ausweglosigkeit durchaus erschreckenden Charakter habe. Besonders die Stellen, an denen Leopardi sich mit gesellschaftlich-politischen Illusionen beschäftigt, sieht der Rezensent als einen überraschenden Vorausblick in das 20. Jahrhundert mit seinen Katastrophen. Mario A. Rigonis Kommentar zu Leopaldi findet die fast uneingeschränkte Zustimmung des Rezensenten: Er lobt ihn als "reichhaltig " und "präzise". Nur der Hinweis auf Carl Schmitt statt auf den italienischen Philosophen Vico ist für Seibt eine unnötige Konzession an den Zeitgeschmack.

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