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l Wir laufen über die Erde, springen von einer Straßenbahn in die andere, jagen in Zügen dahin, und wozu das alles? Um unser Unglück beim Schopf zu packen. Der eine bekommt es in Form eines äußerst vergänglichen Wesens zu fassen, mit der Stimme eines murmelnden Bächleins und Spiegeln der Seele im Gesicht, daß man sich hinsetzen und Gedichte verfassen möchte. Der andere - in der heimtückischen Annehmlichkeit eines verantwortungsvollen Postens. Ein dritter - in Gestalt eines Freundes mit einem großen Herzen, in das man restlos hineinpaßt. Nicht etwa zusammengerollt wie ein Kringel, gekrümmt wie…mehr

Produktbeschreibung
l Wir laufen über die Erde, springen von einer Straßenbahn in die andere, jagen in Zügen dahin, und wozu das alles? Um unser Unglück beim Schopf zu packen. Der eine bekommt es in Form eines äußerst vergänglichen Wesens zu fassen, mit der Stimme eines murmelnden Bächleins und Spiegeln der Seele im Gesicht, daß man sich hinsetzen und Gedichte verfassen möchte. Der andere - in der heimtückischen Annehmlichkeit eines verantwortungsvollen Postens. Ein dritter - in Gestalt eines Freundes mit einem großen Herzen, in das man restlos hineinpaßt. Nicht etwa zusammengerollt wie ein Kringel, gekrümmt wie eine Brezel oder der Griff eines Spazierstocks. Nichts dergleichen. Selbst wenn man sich gerade macht wie ein Pfeil und die Gelenke knacken läßt. Mein Unglück habe ich an einem räudigen Herbsttag in Pensa erwischt. Passiert ist es vor fünfzehn Jahren. Skovoroda sagte von Moses, er habe die unsichtbare Gestalt Gottes 'gezeichnet, als entwerfe er einen Plan, einfach und grob, mit den allernotwendigsten Linien, und darauf die Gemeinschaft der Jidden gegründet'. Ich schreibe ein Buch über mein Unglück, welches vielleicht noch unsichtbarer ist. Ich möchte es Moses gleichtun. 2 Unser privates Pustarjov-Gymnasium war in einem abgewirtschafteten Gebäude aus schmuddeligem Backstein untergebracht. Das Gebäude erschien den Pen-saern riesig. Bei uns sagte man: 'Und wo wohnen Sie, bester Vasilij Petrovic?' 'Ich wohne am Springbrunnen, in dem großen zweistöckigen Haus, Pjotr Vasiljevic.' Es versteht sich, daß das Gebäude mit den vier Stockwerken der Stolz der Stadt war. Man zeigte es Fremden. Man erwähnte es in Familienchroniken. Mit ihm brüsteten sich die Pensaer Patrioten, wenn ihr uralter Streit mit den Tambover Patrioten aufflammte. Das Haus stand an der Hauptstraße. Die Straße war krumm, bucklig. Schwer und kurzatmig kroch sie den Berg hinauf, mühsam die höckrigen, löchrigen, schlecht und nachlässig gepflasterten Sohlen des Fahrdamms voranschiebend. Auf dem Berg hockte ein Zaun. Welk. Mit Galle gestrichen. Auseinandergefallen wie ein Haufen Bretter. Einem Gefängnis ähnlich. Aber auch Oberst Botkin, dem Kommandeur des Primorsker Dragonerregiments, das in Pensa Quartier bezogen hatte. Der Glockenturm der Kirche hatte Ähnlichkeit mit dem Pensaer Gouverneur von Lilienfeld-Toile, einem akkuraten Fünfziger mit nie lächelndem Mund.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2001

Der Mitesser war das Motiv
Anatolij Marienhof serviert seinen Weltekel auf dem Tablett

Anatolij Marienhof ist einer jener russischen Autoren aus der zweiten Reihe, deren sporadische Rezeption fast als paradigmatisch für das deutsche Interesse an russischer Literatur gelten kann. Seit nunmehr zehn Jahren taucht er regelmäßig in kleineren Auflagen auf dem deutschen Buchmarkt auf, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Marienhofs Roman "Zyniker", der 1928 erschien und ein Jahr später zusammen mit Samjatins "Wir" verboten wurde, galt 1991 als besonders aparte Trouvaille, die Reclam Leipzig aus der Konkursmasse der Sowjetunion geborgen hatte. Mitte der neunziger Jahre firmierte dann der Aufbau-Verlag noch mal als Marienhof-Reanimateur; "Roman ohne Lüge" und "Roman mit Freunden" wurden damals als Neuentdeckungen gefeiert.

Der Eichborn Verlag darf sich zu Recht auf das schlechte Gedächtnis der Leseöffentlichkeit verlassen, wenn er nun abermals dem "lange vergessenen" Autor vierzig Jahre nach seinem Tod endlich das Publikum wünscht, "das er verdient". Zugleich täuscht er geschickt darüber hinweg, daß Marienhof auch in seiner produktivsten Phase Anfang der zwanziger Jahre nie so bekannt war wie seine Zeitgenossen Majakowskij und Jessenin. Marienhof war einer, der den ganz Großen seiner Zeit sehr nahe und daher zugleich in ihrem Schatten stand. Mit Sergej Jessenin hat er, bis dieser sich Mitte der zwanziger Jahre in Isadora Duncan verliebte, sogar zusammengelebt.

Anders als der verehrte Freund nicht sonderlich schön, nicht ganz so wortgewaltig und dem Skandal wenig zugeneigt, hatte er in jener turbulenten Epoche nicht das Zeug zum Helden seiner Zeit. Sohn eines baltischen Adeligen, aufgewachsen in der gemütlichen Provinzstadt Pensa, konnte er sich nicht so leicht berauschen an der naturgewaltigen Zerstörungskraft der Revolution. Seine anfängliche Euphorie schlug bald in Skepsis um, und Skeptiker sehen nun einmal besser als Claqueure. Viele seiner Romane lesen sich heute wie präzise Chroniken der frühen Sowjetunion.

Die Geschichte vom "Zyniker" beginnt 1918, im ersten Jahr der Revolution, und endet 1924 mit dem Selbstmord der Geliebten des Ich-Erzählers Wladimir. "Und auf der Erde war alles so, als ob gar nichts geschehen wäre", lautet der letzte Satz, der die Essenz der Erzählung hochkonzentriert enthält. Nichts war in diesen schweren sechs Jahren den Aufwand wert, der getrieben wurde, nicht die Liebe und nicht die Revolution. Alle haben gelitten, haben Opfer gebracht, und am Ende ist es so, "als ob nichts geschehen wäre".

"Zyniker" ist kein politischer Roman, in dem jemand seiner Enttäuschung über die ausgebliebene Verwirklichung einer großen sozialen Utopie Ausdruck gibt, hier rechnet vielmehr ein Ästhet und Dandy mit einer Revolution ab, die allen Menschen Reisen im Erste-Klasse-Sessel versprochen, ihnen dann aber sämtlich die Holzklasse beschert hat. Was bleibt, ist Ekel. "Zyniker" ist vor allem ein Roman über den Dreck der neuen Zeit: "Zwischen den Zehen, so kurz und dick wie Zigarettenstummel, lagerte Schmutz in schweißdurchtränkten schwarzen Klümpchen."

Die Stärke von Marienhofs Text liegt in solchen unkommentierten und darum um so eindringlicheren Details, die wie die Wochenschaubilder dieser Jahre in die Liebesgeschichte von Olga und Wladimir montiert wurden. Er fällt dort ab, wo er frontal Mißstände angreifen will ("Können Sie denn etwas?"- "Natürlich nicht." - "Dann wird man Sie auf einem verantwortlichen Posten unterbringen müssen"), und scheitert, wo er poetisch sein will und etwa eine Frühlingsstraße "atmen" läßt "wie ein Mädchen, das man auf den Mund küßt". Solche Süßigkeiten harmonieren nicht mit dem Kompositionsprinzip des Romans als bitter-lakonisches Kaleidoskop von Episoden, Eindrücken und Ereignissen.

Auch die Romanze, um die die zeitdiagnostischen Passagen drapiert sind, trägt als solche nicht. Man spürt sofort, daß sie als Parallele zu den politischen Ereignissen entworfen und damit von vornherein zum Scheitern verurteilt wurde: Revolutionäre Zeiten dulden kein privates Glück. Olga, die grausame Schöne, die Wladimir sich für ein trautes Leben zu zweit auserwählt hatte, kämpft verzweifelt gegen ihren sozialen Abstieg. Sie liebt Bolschewiken, korrupte NEP-Männer, speist köstlich, während das Volk hungert - und unterliegt doch.

Nicht das Ende - ein bühnenreifer Selbstmord - läßt den Leser schaudern, sondern die Eiseskälte, die von Marienhofs widerspruchsvoller Bruchstückdichtung auszugehen scheint. Eine Kälte, die der Autor zwei Jahre später in "Der rasierte Mann" (1930) zu reproduzieren wußte, ohne daß er diesmal die verheerenden Zeitumstände zu Hilfe nehmen müßte. Gewiß könnte man auch die verhängnisvolle Bekanntschaft zwischen Mischka und Leo als Parabel lesen auf das angespannte, von Neid und Nachahmungswillen geprägte Verhältnis der Erniedrigten und Beleidigten zu den Schönen und Reichen, das sich nach der Revolution so verhängnisvoll entlud. Aber man muß es nicht. "Der rasierte Mann" ist ein raffinierter Zwitter zwischen einem Abschiedsbrief an einen verehrten Freund und einer Anklageschrift gegen einen widerwärtigen Zeitgenossen. Es geht hier nicht mehr um die Vereinzelung in Zeiten des kollektiven Wahns, sondern um die ins Groteske übersteigerte Emanzipation eines häßlichen und schwachen Individuums vom eigenen Über-Ich.

Mischka, der Ich-Erzähler, ist gleichzeitig der Mörder. Er erhängt seinen Freund Leo mit einer Portierenschnur. In dem lakonischen, sporadischen Erzählstil, der auch "Zyniker" kennzeichnet, sucht er nach einer Erklärung für die eigene Tat. Er will sich nicht rechtfertigen, er will verstehen. Tat er, was er tat, weil Leo schöner, weil er klüger oder weil er grausamer war als er? Weil er ihn, Mischka, ins Fußballtor gestellt hatte, obwohl er wußte, daß er ein schlechter Torwart war, oder weil er ihm die Geliebten ausgespannt und nach genüßlichem Gebrauch zurückgegeben hatte?

Der Anlaß jedenfalls für die bestialische Ermordung, die Marienhof mit der ihm eigenen Vorliebe fürs unappetitliche Detail erzählt, ist reichlich banal. Leo, der ihn fünfzehn Jahre unentwegt gequält hat, drückt ihm eines schönen Abends wollüstig einige widerliche Mitesser aus der Nase. Das ist schlimm. Noch schlimmer ist, wie er sie anschließend dem Freund zum Hohn "in Reih und Glied auf ein Fayence-Tellerchen" legt und so Mischa seine Häßlichkeit wie ein Gentleman präsentiert. Ein Grund für einen Mord ist das nicht. Der Grund ist der Selbsthaß, den die Liebe zum unnahbaren Freund mit sich brachte. Mit unerreichbaren Vorbildern kann man dauerhaft kein würdevolles Leben führen, so der in höchstem Maße individualistische Subtext dieser Erzählung. "Jeder Glaube", so hieß es in "Zyniker", "wird einem schließlich zuwider wie gehackte Koteletts und Nudelsuppe."

STEFANIE FLAMM

Anatolij Marienhof: "Der rasierte Mann. Zyniker". Zwei Romane. Aus dem Russischen von Brigitte van Kann und Gregor Jarcho. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2001. 291 S., geb., 54,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Anatolij Marienhof war ein Freund Sergej Jessenins, der ihn entdeckte und förderte; dafür blieb aber Marienhof, informiert uns Olga Martynova, als Biograf Jessenins "in den Fußnoten stecken". Obwohl Marienhof seinen Freund und Förderer wie auch die stalinistischen Säuberungen überlebte. Er zog nach Leningrad, was ihm, mutmaßt Martynova, das Leben gerettet haben könnte. Die Rezensentin begrüßt ausdrücklich die Neuübersetzungen der beiden Romane, die aus den 20er Jahren stammen, aus einer Zeit also, bevor sich der Autor in ein möglichst unauffälliges Leben und Wirken im Rahmen des sowjetischen Schriftstellerverbandes fügte. "Der rasierte Mann" spielt in Moskau - eine Liebesgeschichte vor revolutionärem Hintergrund -, während "Zyniker" in der Provinz angesiedelt ist, so Martynova. Beiden Romanen sei jedoch ein ähnlicher "Tonfall zwischen Dandytum und Futurismus" zu eigen, beide zeugten von Marienhofs "paradoxem, dynamischen Stil". Vor etwa zehn Jahren wurde Marienhof in Russland wiederentdeckt, erzählt Martynova und hofft auf ein Übersetzung von Marienhofs wichtigsten Roman über "Katharina die Große".

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