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Ein bizarrer Brief schreckt die in Wien lebende Musikwissenschaftlerin Antonietta Riccoli aus ihrem ruhigen Leben. Er ist halb auf latein, halb auf altfranzösisch geschrieben, der Text ist ein Rätsel, Teile scheinen liturgischen Formeln zu entstammen - doch eine Zeile droht dem Empfänger: "Mal heur me bat" - Eine schlechte Stunde hat mir geschlagen. Gut, daß sie einen Bekannten hat, der sich mit der Zeit beschäftigt, aus der der Drohbrief inspiriert zu sein scheint: der deutsche Altphilologe Wernfried Hübschmann. Er hat mit Antonietta gewettet, das verschollene erste Requiem der…mehr

Produktbeschreibung
Ein bizarrer Brief schreckt die in Wien lebende Musikwissenschaftlerin Antonietta Riccoli aus ihrem ruhigen Leben. Er ist halb auf latein, halb auf altfranzösisch geschrieben, der Text ist ein Rätsel, Teile scheinen liturgischen Formeln zu entstammen - doch eine Zeile droht dem Empfänger: "Mal heur me bat" - Eine schlechte Stunde hat mir geschlagen. Gut, daß sie einen Bekannten hat, der sich mit der Zeit beschäftigt, aus der der Drohbrief inspiriert zu sein scheint: der deutsche Altphilologe Wernfried Hübschmann. Er hat mit Antonietta gewettet, das verschollene erste Requiem der Musikgeschichte aufzuspüren. Ein Werk, das Guillaume Dufay, der genialste Komponist zwischen Mittelalter und Frührenaissance, für seine eigene Beerdigung geschrieben hat. Je weiter Hübschmann den Spuren des Requiems bis in die Gegenwart folgt, je tiefer er in die tönende Welt der alten Musik und die Beziehungen zwischen Musik und Tod eintaucht, desto klarer wird, daß zwischen Requiem und Drohbrief ein Zusammenhang besteht ... Kunstvoll verwebt Wolfgang Schlüter die Handlungsebenen seines Romans - das Tagebuch Hübschmanns, das Leben Antoniettas und Kapitel, in denen die großen Genies der frühen Musik, ihre Zeit und schließlich auch die Musikgeschichte Wiens lebendig werden. Ihm ist ein großer Roman über die Musik, über Genie und Handwerk, über die Liebe zum Vergangenen und das Ungenügen an der Gegenwart gelungen. Ein faszinierendes literarisches Panorama der Tonkunst und ein wortmächtiges polyphones Sprachgewebe.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2001

Bollwerk gegen den Lärm
Polyphon: Wolfgang Schlüter sucht Dufays Requiem

Daß Musik sich nicht nur durch den Äther bewegt, sondern auch wie Regen auf die Erde niedergehen kann, ist bislang weitgehend unbemerkt geblieben. Das könnte daran liegen, daß die Befähigung zu dieser Art der Wahrnehmung entweder mit einem besonders verfeinerten oder aber mit einem fundamental irritierten Sensorium für die Tonkunst einhergeht.

In Wolfgang Schlüters Roman "Dufays Requiem" regnet es jedenfalls ständig Akkorde - und meist in prekären Situationen, denn fünfhundert Jahre Musikgeschichte, die Seelenlandschaft eines bundesdeutschen Oberstudienrates und die etwas bohemeartige Existenz zweier junger Wiener Künstlerseelen werden in einer mäandernden Handlung zu einem fatalen Knoten geschürzt.

Vordergründig ranken sich die verschiedenen Handlungsstränge um eine verlorene Komposition, um die mutmaßlich erste vollständige und mehrstimmige Vertonung der Totenmesse, des Requiems, die im späten fünfzehnten Jahrhundert angeblich von Guillaume Dufay vorgelegt worden ist. Musikgeschichtlich wäre sie von unermeßlicher Bedeutung, wenn sie nicht als verschollen gelten müßte. Dufay, der von 1400 bis 1474 vor allem in Cambrai lebte und arbeitete, war zu seiner Zeit ein angesehener Künstler und erwähnt das Werk in seinem Testament - viel mehr oder Genaueres ist der Nachwelt darüber nicht bekannt.

So ist dieses Requiem eine leere Stelle in der Geschichte der Tonkunst, eine Projektionsfläche für die Nachgeborenen - und vielleicht um so interessanter, je weiter diese sich historisch von der Umbruchzeit zwischen Spätmittelalter und Neuzeit entfernt haben. Aus diesem Punkt heraus entwickelt sich denn auch der Roman, der mal in den Gefilden der hohen Kunst und dann wieder in den Niederungen des alltäglichen Begleitgedudels angesiedelt ist, der hier und da den großen Musikern vergangener Jahrhunderte nachspürt und am Ende alles in einem großen Strudel untergehen läßt.

Oberstudienrat Wernfried Hübschmann aus Helmstedt ist eigentlich ein harmloser Mensch, nach eigenem Bekunden ein treusorgender Gatte, ein brauchbarer Pädagoge und ein akzeptabler Kollege. Ein gebildeter Mensch mit einem Hang zu konservativem Formbewußtsein also, beileibe kein Reaktionär, sondern lediglich ein Freund der Ordnung. Und deshalb packt es ihn, als er erstmals durch eine junge Musikwissenschaftlerin und ihren schriftstellernden Freund von der besagten Lücke in der Musiktradition erfährt. Ein seltsamer Ehrgeiz wird geweckt und durch eine Wette bestärkt: Hübschmann verpflichtet sich, das Werk im originalen Manuskript oder einer Abschrift zu finden - oder statt dessen die Komposition zu rekonstruieren.

Der Roman folgt diesem Unternehmen über eine Reihe von Jahren, indem er die Berichte des Lehrers über den Fortgang der Untersuchungen, einige zunehmend verstörende Episoden aus dem Leben der jungen Wiener Künstler und viele kleine Histörchen oder Betrachtungen zur Musikgeschichte parallel erzählt und untereinander vernetzt. Stets bleibt Wernfried Hübschmann die zentrale Figur, schon allein vom Umfang seiner Berichte her gesehen. Dabei erweist er sich als Pedant, wenn es darum geht, Fakten zu sammeln, weswegen der Leser nach beendeter Lektüre eine Menge gelernt hat, und als ein spekulativer Geist, wenn es darum geht, noch die entlegensten Informationen in seine Theorien zu integrieren, weshalb der Leser hier und da vor lauter Noten die Komposition kaum noch überschaut. Nur eines ist dieser Mensch in keinem einzigen Augenblick: Er ist kein Künstler. Und deshalb gerät er auf Abwege.

Wernfried Hübschmann sucht eigentlich jene "verlorene Mitte", die die avancierte Kunst schon lange preisgegeben hat. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn er nicht auf dem Weg dahin mit immer radikaleren Worten und in immer drastischeren Taten all das beseitigen wollte, was als Neuerung oder als vitales Prinzip seinem Wunsch nach Ordnung entgegenzustehen scheint. Unvermeidlich endet er daher in einem Teufelskreis: Je tiefer er gräbt, um so mehr wird ersichtlich, daß er das nicht finden wird, was er am nötigsten braucht, und daß er zudem Geister wachruft, deren er dann nicht mehr Herr wird.

Wer sich davon einen historisierenden Schmöker mit Krimi- oder Schauer-Charakter verspricht, wird von "Dufays Requiem" allerdings enttäuscht werden. Der Roman baut nicht auf effektvolle Mystery-Elemente - so etwas inszeniert Wolfgang Schlüter allenfalls ironisch und der guten Form halber am Rande mit -, sondern er funktioniert wie eine vielstimmige Komposition in bester, mutmaßlich Dufayscher Tradition, die ihre Spannung aus dem Gegeneinander zahlloser Tonlagen gewinnt. Schlüter betreibt ein hochartifizielles Spiel: Er kontrastiert die zwanghaft geschwätzigen Tiraden und Rechenschaftsberichte des Lehrers mit anderen Texten, die diesem Willen zur Ordnung zunehmend hohnsprechen: mit virtuosen Kapiteln über die Musik im neunzehnten und auch zwanzigsten Jahrhundert, in denen die Sprache mehr und mehr nachvollzieht, was in der Musik zur Auflösung tradierter Kompositionsformen geführt hat.

Ähnlich hat Wolfgang Schlüter sich schon einmal dem irischen Genie John Field genähert. Aber was ihm in diesem schmalen Buch seinerzeit perfekt gelungen ist, nämlich die Verschmelzung vieler Tonlagen in einem geschlossenen Ganzen, das will in dem neuen Roman passagenweise nicht recht gelingen. "Dufays Requiem" fällt an manchen Stellen der Redseligkeit des zentralen Protagonisten zum Opfer, wenn nämlich die Berichte zu weitschweifig oder - wie im Fall vieler Betrachtungen zur deutschen Geschichte nach 1989 - überflüssig oder sogar störend wirken.

Es hätte genügt, wenn man erfahren hätte, wie dieser Lehrer auf Straßenlärm, auf Hintergrundmusik und auf Anglizismen im Alltag reagiert, um zu verstehen, wie er handelt. Wie die Dinge nun aber liegen, muß man bei der Lektüre dieses Romans diese Längen in Kauf nehmen. Und man wird dafür auch immer wieder durchaus angemessen entschädigt.

MICHAEL SCHMITT

Wolfgang Schlüter: "Dufays Requiem". Roman. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2001. 400 S., geb., 49,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Ein durch und durch ungewöhnliches Buch erwartet den Leser bei der Lektüre von "Dufays Requiem", was denjenigen nicht weiter überraschen wird, der Schlüters 1984 erschienen ersten Roman gelesen hat, den dieser selbst als "experimentell" bezeichnete. Das Besondere an dem neuen Buch, wie Rezensent Guido Graf findet, ist jedoch, das hier eine "exklusiv wirkende Konventionalität mit ins Spiel" komme. In "Dufays Requiem" geht um "die möglicherweise zerstörerische Auseinandersetzung zwischen Konvention und Form", führt er aus. So greife der Autor ungeniert auf Elemente des realistischen Romans, auf erprobte Dialogstrukturen oder sogar auf Krimimuster zurück, und das alles sehr gekonnt, wie Graf findet. Am meisten beeindruckt ihn jedoch an diesem seiner Ansicht nach "kunstvollen Prosawerk" Schlüters Fähigkeit, "den Vorgaben des musikalischen Materials zu folgen". Musik und ihre zerstörerische Wirkung ist nach Grafs Rezension wohl das wesentliche Thema dieses Romans, und Schlüter variert es , indem er "übereinander verschränkt", "ineinander rankt", Motive aneinanderreiht. Graf vergleicht den Roman, der so entstanden ist, mit einem "polyphonen Spinnennetz", das von den frühen musikalischen Anfängen bis hin zur Moderne alles gefangen hält.

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