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Über Thomas Becket ist von den Zeitgenossen mehr erzählt und geschrieben worden als über irgendeinen anderen Menschen des früheren Mittelalters: über seinen erbitterten Streit mit seinem König Heinrich II. von England, über seine spektakuläre Ermordung, über seinen Kult, durch den Canterbury über Jahrhunderte zum größten Wallfahrtsort nördlich der Alpen wurde.

Produktbeschreibung
Über Thomas Becket ist von den Zeitgenossen mehr erzählt und geschrieben worden als über irgendeinen anderen Menschen des früheren Mittelalters: über seinen erbitterten Streit mit seinem König Heinrich II. von England, über seine spektakuläre Ermordung, über seinen Kult, durch den Canterbury über Jahrhunderte zum größten Wallfahrtsort nördlich der Alpen wurde.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.2004

In den Bahnen des Starrsinns
Hanna Vollraths Biographie über die Symbolfigur Thomas Becket

Eine Biographie Thomas Beckets schreibt man nicht, um eine fremde Zeit vertrauter zu machen - dazu war er zuwenig Repräsentant seiner Epoche. Man muß sie aber auch nicht meiden, weil die historische Bedeutung der Person das Maß der Gattung sprengen würde und, wie für Cäsar geltend gemacht, kein alltagsgeschichtliches Detail dem historischen Urteil etwas Substantielles hinzufügen könnte. Vielmehr scheint Thomas Becket vorzüglich jenen Anforderungen zu genügen, die der Theoretiker Droysen im neunzehnten Jahrhundert für die Helden dieser Darstellungsform gestellt haben soll: eine "geniale Willkür", mit der sie "die geregelten Bahnen" ihrer Zeit verließen und die "ihr persönlichstes Wesen zu beachten zwingt", so daß ihre Biographie zum einzigen Schlüssel für die Bedeutung werden kann, die sie in ihrer Zeit hatten.

Diesem Ansatz entspricht es ganz und gar, wenn die Bochumer Historikerin Hanna Vollrath in ihrer neuen Lebensbeschreibung des berühmtesten Engländers aus dem Mittelalter die Fragen stellt: "Wer war Thomas Becket? Was trieb ihn an? Wie läßt sich die steile Karriere des Bürgersohnes in der höfisch-adligen Welt des Mittelalters erklären?" Indessen hat Vollrath diesem Tableau noch einen vierten Aspekt hinzugefügt, der sie bei konsequenter Beachtung zu einem ganz anderen Buch hätte führen müssen: "Was machte diesen Mann aus einer Londoner Kaufmannsfamilie so attraktiv für seine Bewunderer?" Die Wahrnehmung und Bewertung durch andere hat schon zu Lebzeiten Beckets eine ungewöhnliche Menge an schriftlichen Dokumenten hervorgebracht, die durch die einzige überragende Tat seiner Geschichte, die erlittene, aber auch selbstgesuchte Ermordung im Dom von Canterbury, noch einmal ins kaum Vergleichliche gesteigert wurde. Das Martyrium für die Kirche, nicht für den Glauben, vom 29. Dezember 1170 hat die Phantasie der Nachlebenden bis heute beschäftigt, auch die von Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern im zwanzigsten Jahrhundert - man denke nur an T.S. Eliots "Murder in the cathedral".

Vor einer so vielschichtigen Überlieferung wären andere Biographen zurückgeschreckt; sie hätten sich, wie an einem anderen Fall vorgemacht wurde, darauf beschränkt, den Mythos Beckets zu erforschen, der schon in dessen Selbstdeutung und -stilisierung angelegt war, oder - am Übermaß von Parteilichkeit und Rhetorik verzweifelnd - die Frage "Hat Thomas Becket existiert?" fruchtbar werden lassen.

Hanna Vollrath sah sich von solchen methodologischen Skrupeln kaum angefochten, weil sie sich als deutsche Autorin von der englischen Tradition der Becker-Kritik nicht betroffen fühlte. Der schauerliche Prozeß über der Leiche und die noch ganz mittelalterliche Verbrennung der Gebeine während der Reformation von 1538 ging sie ebensowenig etwas an wie die Rehabilitierung Beckets von 1970, die den "endgültigen" Frieden der anglikanischen Kirche mit ihrem einstigen Führer markieren soll. Was aber kann der Bezugsrahmen für Deutung und Darstellung sein, wenn der nationalgeschichtliche nicht in Betracht kommt?

Vom Kanzler zum Bischof

Der Titel des Buches deutet es an. Er lautet nicht: "Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury" und verweist deshalb auch nicht auf das Desaster eines total mißglückten Episkopats und Primats; mit dem Appellativum des Heiligen stellt er Becket vielmehr in eine Perspektive, die auch der kontinentalen Betrachterin zugänglich ist, in die Weite der römischen Kirche. Hanna Vollrath hat eine katholische Biographie Thomas Beckets geschrieben.

Becket war der Sohn eines Londoner Kaufmanns normannischer Herkunft und hatte sich nach einem eher oberflächlichen wissenschaftlichen Studium sowie einer Ausbildung "in weltlichen Geschäften" als Archidiakon der Kirche von Canterbury für höhere Aufgaben empfohlen. Sein Mentor, Erzbischof Theobald, empfahl ihn König Heinrich II. als Kanzler; in diesem Amt wurde er seit 1155 zum engsten Vertrauten des Herrschers, nicht zuletzt, weil er dessen Interessen gegenüber der Kirche seines Landes rigoros und mit Erfolg vertrat. Bei Theobalds Tod setzte Heinrich den noch nicht zum Priester geweihten Kleriker als Nachfolger durch - und mußte es erleben, daß "aus dem Höflingssaulus ein Paulus" wurde, der im unerbittlichen Konflikt mit ihm selbst "für die Ehre der Kirche starb".

Gleich nach seiner Weihe begann Thomas, entschieden die Rechte seiner Kirche bei König und Adel einzufordern, vor allem im Hinblick auf den Kirchenbesitz und den Vorbehalt der kirchlichen Gerichtsbarkeit. Als Führer der "ecclesia Anglicana" zwang Thomas auch den Episkopat in die sich ständig verschärfende Konfrontation mit Heinrich und verprellte die Amtsbrüder doch rücksichtslos durch seine wiederholten Meinungswechsel. Im Januar 1164 legte der König eine schriftliche Aufzeichnung der bestehenden Gewohnheiten vor, die seine Rechte in der Kirche wahren sollte. Dabei ging es auch um Vorbeugung gegen den Einfluß des Papstes auf den englischen Episkopat. Thomas indessen war nach einigem Schwanken zur Anerkennung der "Consuetudines" nur bereit, soweit die Erfordernisse seines Standes nicht tangiert waren. Aus dieser Salvationsklausel wurde der Anspruch, Gottes Rechte selbst zu wahren ("salvo Dei honore"). Ende des Jahres mußte Becket fliehen; in Frankreich suchte und fand er bis 1170 die - nicht unkritische - Unterstützung von Mönchen, des französischen Königs und des Papstes, während sein Sitz in Canterbury, den er wenig mehr als zwei Jahre wirklich innegehabt hatte, verwaiste und sich der heimische Episkopat auf die Seite seines königlichen Gegners stellte. Nach äußerst schwierigen Verhandlungen, in denen beide Parteien kaum zum Kompromiß fanden, konnte Thomas Ende 1170 heimkehren, er verursachte aber mit seinen Rechtsansprüchen erneut so großen Aufruhr, daß ein zorniges Wort Heinrichs vier seiner Getreuen veranlaßte, den König durch den Mord im Dom "von diesem ränkesüchtigen Priester zu befreien".

Schon die Zeitgenossen konnten sich die Lebenswende Beckets von 1162 kaum erklären; sie warfen dem plötzlich kirchenfrommen Prälaten Heuchelei, Anmaßung und Undankbarkeit gegenüber seinem königlichen Förderer vor. Aus heutiger Sicht liegt es nahe, die gewandelte Selbstdeutung mit Beckets Herkunft in Verbindung zu bringen: Der Aufsteiger aus dem Bürgerstand hätte, anders als die Adligen im Gefüge von Reich und Kirche, bei seinem Verhalten keine Rücksicht auf die Normen der Herkunft oder die Chancen seiner Verwandten nehmen müssen und verschiedene Rollen unbefangen ausprobiert. Und er hätte, wie man schon gemeint hat, vielleicht seiner Arroganz und Herrschsucht erst als Oberhaupt der englischen Kirche die Zügel schießen lassen können, die ihn im königlichen Dienst noch zurückgehalten hatten.

Ermordung im Dom

Von solchen modernistischen Interpretationen hält sich Hanna Vollrath fern, aber ihr eigenes Urteil ist schwankend und widersprüchlich wie die mittelalterliche Überlieferung, bei der sie sich Rat holt. Zum einen macht sie Beckets religiöse Integrität geltend. Der Kanzler hätte das Luxusleben in seinem Haus und an seiner Tafel nur deshalb geführt, weil dies sein Amt erforderte, als Bischof aber seiner Neigung zur Askese mit Fencheltee statt Wein nachgeben können. Vollrath rechtfertigt, daß Becket im Dienst Heinrichs II. unbedenklich geschadet hatte, mit der Annahme, er habe damit Handlungsräume zu Wohltaten für die Kirche gewonnen, und spricht gar von "Befehlsnotstand". Ein zweiter Interpretationsansatz liegt bei einer möglichen "Conversio" Beckets, also einer radikalen religiösen Neubesinnung im Kontext der Berufung auf den Stuhl von Canterbury. Beide - kaum vereinbare - Deutungen stehen in dem neuen Buch nebeneinander, wie schon bei Beckets Mitarbeiter und Biographen William Fitz Stephen, dem Vollrath am ehesten traut.

Zu den großen Stärken der Erzählung gehört das Bemühen der Autorin, am Leben Beckets die wichtigen Wandlungen des europäischen Westens während des zwölften Jahrhunderts aufzuspüren, die in der Mediävistik seit langem als "Renaissance" zusammengefaßt werden. Eine der zentralen Fragen ist dabei, ob sich die Menschen der Zeit als Individuen entdeckt oder ob sie handelnd und beobachtend ein neues Verhältnis zu ihrer Person gefunden haben. Paßte Thomas Becket in ein solches Entwicklungsschema hinein, ein Mensch, der durch seine Kompromißlosigkeit und Intransigenz selbst seine Freunde verstört hat? Auch Vollrath reflektiert über Beckets Unfähigkeit zum Taktieren und vermutet, daß "der politisch-kalkulierende Umgang mit Handlungszielen, das Nachgeben in einem Bereich, um sich anderswo um so besser durchsetzen zu können, noch kaum in Übung gewesen" zu sein scheine; sie verweist Thomas Becket damit unausgesprochen in ein archaischeres Frühmittelalter.

Mit dieser Erwägung dürfte sie aber ihre eigene Fährte zu Becket verloren haben: War es denn nicht das religiöse Genie Beckets, daß er gerade durch seinen Starrsinn die geregelten Bahnen seiner Zeit verließ? Und verlieren die Kategorien des Alten und Neuen angesichts solchen Elementarverhaltens nicht jede Überzeugungskraft, ähnlich, wie es auch bei Beckets Geistesverwandtem Papst Gregor VII. (gestorben 1085) der Fall wäre?

Hanna Vollrath hat in ihrer Biographie nicht ausdrücklich danach gefragt, welche Leistungen Becket denn über seine Zeit hinaus zuzuschreiben wären. Sie hat aber für eine Antwort durchaus wichtige Hinweise gegeben. Wie sie nämlich zeigt, hat sich Thomas Becket konsequent auf das im Entstehen befindliche Kirchenrecht berufen und dabei die vorher eher unverbindlichen Maximen als konkrete Handlungsnormen aufgefaßt. Damit hat Becket zwar zugleich dem Einfluß der Kurie auf die englische Kirche die Wege gewiesen und selbst zur schroffen Ablehnung seiner Person bis heute Argumente geliefert. Aber andererseits war es auch diese Ausweitung des englischen Horizonts, die die Verbreitung des Becket-Kultes so sehr förderte, daß die Person und der Platz ihres Martyriums bis zur Gegenwart zu europäischen Erinnerungsorten werden konnten.

MICHAEL BORGOLTE

Hanna Vollrath: "Thomas Becket". Höfling und Heiliger. Persönlichkeit und Geschichte, Band 164. Muster-Schmidt Verlag, Göttingen, Zürich 2004. 139 S., 8 Abb., br., 13,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hanna Vollrath hat eine "katholische Biografie" über Thomas Becket geschrieben, so der Schluss von Michael Borgolte. Vielschichtig, irritierend und rätselhaft; ein starrsinnig Kompromissloser; ein religiöses Genie; ein Bürgersohn, der sich im Namen seiner anglikanischen Kirche mit dem englischen König, seinem ehemaligen Förderer, anlegte; ein Mythos schon zu Lebzeiten, von den Legenden seiner Bewunderer umstrickt - so vieldeutig präsentiert sich das Bild Thomas Beckets über die Jahrhunderte. Und wirklich lösen kann das Rätsel Becket - der 1170 dem berühmten "Mord im Dom" zum Opfer fiel - auch Vollrath nicht, befindet der Rezensent. Ihr Urteil bezeichnet er als "schwankend und widersprüchlich". Doch gibt die Bochumer Historikerin wichtige Hinweise darauf, so Borgolte, auf welcher Grundlage der Ruhm Beckets erwuchs: Er öffnete Englands Horizont, spannte die Insel ein in die internationalen politischen und religiösen Dynamiken.

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