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Der Band untersucht literarische Texte im Spannungsfeld von Fallgeschichten und Sündenfall-Mythos vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwartsliteratur. Seit dem 18. Jahrhundert macht die Fallgeschichte in Recht, Medizin, Psychologie und Literatur Karriere. Als interdiskursives Genre erzeugt und ordnet sie Wissen von Einzelfällen und verhandelt Verhältnisse von Besonderem und Allgemeinem, von Norm und Abweichung. Neben dem casus der Fallgeschichte bleiben jedoch auch der lapsus und die Erzählung vom Sündenfall virulent. Aus der semantischen Verschränkung von casus und lapsus ergeben sich paradoxe…mehr

Produktbeschreibung
Der Band untersucht literarische Texte im Spannungsfeld von Fallgeschichten und Sündenfall-Mythos vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwartsliteratur. Seit dem 18. Jahrhundert macht die Fallgeschichte in Recht, Medizin, Psychologie und Literatur Karriere. Als interdiskursives Genre erzeugt und ordnet sie Wissen von Einzelfällen und verhandelt Verhältnisse von Besonderem und Allgemeinem, von Norm und Abweichung. Neben dem casus der Fallgeschichte bleiben jedoch auch der lapsus und die Erzählung vom Sündenfall virulent. Aus der semantischen Verschränkung von casus und lapsus ergeben sich paradoxe Fälle, in denen sich die Aporien normativer und epistemologischer Ordnungen zeigen. Das Interesse des vorliegenden Bandes gilt dem Profil solcher Fälle, ihrer Konstruktion, ihren epistemologischen Implikationen und dem, was sie immer wieder aufs Neue hervortreibt.
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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung

Das intime
Allgemeine
Casus und Lapsus – ein
Band zur Geschichte des „Falls“
Dass die Welt alles ist, was der Fall ist, das ist einer der meistzitierten, meiststrapazierten Sätze des vorigen Jahrhunderts. Es ist einer der Sätze, von denen Wittgenstein in seinem „Tractatus Logico-Philosophicus“ seine schwindelerregenden Denktouren entwickelt darüber, was die Welt ist und die Beschreibung der Welt. Was aber, dies ist die andere Frage, ist eigentlich ein Fall?
  In dem Sammelband „Was der Fall ist. Casus und Lapsus“ sind die Münchner Literaturwissenschaftler Inka Mülder-Bach und Michael Ott einigen Fällen von Fällen auf der Spur: „Von A wie in Abfall, Anfall und Ausfall, bis Z wie in Zerfall, Zufall und Zwischenfall, von Ausnahmefall und Ernstfall bis zu Kriegsfall und Streitfall und von Gefallen bis zu Missfallen.“ Casus und Lapsus also, Ausfälle und Unfälle, Kriminal- und Krankheitsfälle, der Sündenfall. Etwas kann herabfallen, und im Französischen „fällt“ man, wenn man sich verliebt oder schwanger wird (tomber amoureux, tomber enceinte).
  Wenn etwas „fällt“, geschieht etwas – und nicht selten wird dann davon berichtet. Zeugenberichte, Krankenberichte, die biblische Erzählung vom Sündenfall. Die Literatur ist voll von solchen Fällen und doch ist das, was und vor allem wie es berichtet wird, oft keine Literatur im engeren Sinne: Fallgeschichten stehen eher im Dienste der Wissenschaften, der Justiz oder der Medizin. Sie sollen beispielhaft sein, einen besonderen Fall verdeutlichen und verhandelbar machen, das Normative mit dem Individuellen verbinden. Diese Fälle stehen meist für etwas – für einen Regelfall oder ein Gesetz, das sie brechen oder dem sie folgen. Die Krankheit des Einzelnen etwa steht für diese Krankheit im Allgemeinen.
  Viele klassische literarische Texte sind Fallstudien und basieren häufig auf realen Fällen: Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“, Kleists „Michael Kohlhaas“ oder Büchners „Lenz“ . Mülder-Bach und Ott weisen in der Einleitung auf die Verbindung von (pathologischer) Fallgeschichte und Novellistik um 1800 hin. Die Novelle, die ja etwas Neues berichtet oder nach Goethes Definition von einer „unerhörten Begebenheit“ erzählt, ähnelt in ihrer Form den „Studien über Hysterie“, mit denen Freud hundert Jahre später den Grundstein für die Psychoanalyse legte. Die Germanistin Susanne Lüdemann verfolgt in ihrem Beitrag („As the case may be. Über Fallgeschichten in Literatur und Psychoanalyse“) diese Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert. Sie greift auf Michel Foucaults These aus „Überwachen und Strafen“ zurück, dass im 18. Jahrhundert durch die klinischen Wissenschaften der Pädagogik und der Psychologie jedes Individuum zu einem „Fall“ geworden ist, der untersucht, kontrolliert und erfasst werden kann.
  Die Literatur wendet sich in dieser Zeit von den adligen Helden ab und den „infamen Menschen“ zu, und eben diese Bewegung diskutiert Lüdemann in ihrem Beitrag. Sie bezieht sich dazu auf Giorgio Agambens Verständnis des antiken Begriffs „Paradigma“. Dieses besteht nicht in einem Verhältnis vom Allgemeinen zum Besonderem, von der Regel zum Fall. Das Paradigma ist wörtlich das, was sich „daneben zeigt“, und bezieht Fälle aufeinander, anstatt sie einer Regel unterzuordnen. Der Rückgriff auf ein Allgemeines ist nicht nötig, da sich das Allgemeine im Besonderen zeigt, ja nur an ihm beobachtet werden kann. In diesem Zusammenhang führt Lüdemann das von Karl Philipp Moritz herausgegebene „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ an, das Fälle wie „Ein Schreiben aus Schlesien über einen Blödsinnigen“ oder die „Geschichte des Kindermörders J. F. D. Seybell“ versammelte. An Maurice Blanchots Erzählung „Der Wahnsinn des Tages“ entwickelt sie die Idee des „‚intimen Allgemeinen‘ – ein Gesetz, das nur vom ‚Fall‘ des Einzelnen her in den Blick kommt“.
  Natürlich können die Fall-Studien des Bandes das komplexe Feld von Geschehen und Erzählung nicht restlos in den Griff bekommen, aber viel von dem Wissen, das seit Langem durch die Traktate der Geisteswissenschaften spukt, findet sich doch in eine Form gebracht.
NICOLAS FREUND
Inka Mülder Bach, Michael Ott (Hg.): Was der Fall ist. Casus und Lapsus. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015. 203 Seiten. 24,90 Euro.
Durch Pädagogik und Psychologie
ist jedes Individuum zu einem
„Fall“ geworden, sagt Foucault
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nicolas Freund lernt viel über den Niederschlag wissenschaftlicher Fallgeschichten in der Literatur in diesem Sammelband der Literaturwissenschaftler Inka Mülder Bach und Michael Ott. Was und wie Justiz und Medizin im Sinne Foucaults der Kontrolle unterwerfen, erklärt Freund, untersuchen die Autoren im Band anhand seiner Verhandlung etwa in der Novellistik um 1800 oder bei Blanchot. Auch wenn die Beiträge das ganze Feld von Fall und Literatur laut Rezensent nicht auszuschreiten vermögen, lernt der Leser doch viel über dieses Verhältnis, meint Freund.

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