Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 25,00 €
  • Gebundenes Buch

Unsere Sprache ist kein Erbe, das uns die Vorfahren überlassen haben. Die deutsche Schriftsprache ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Spracharbeit in einem sprachlich heterogenen gesellschaftlichen Raum, in dem sich eine bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Nationalsprache herausgebildet hat. Diese Spracharbeit hatte zwei Seiten: die Integration der gesellschaftlich heterogenen Bevölkerung und die Auseinandersetzung mit der lateinischen Bildungssprache. Die gegenwärtig so heftig debattierten Fragen, die sich um den Gegensatz des Eigenen und des Fremden drehen, gehören in diese Entwicklung:…mehr

Produktbeschreibung
Unsere Sprache ist kein Erbe, das uns die Vorfahren überlassen haben. Die deutsche Schriftsprache ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Spracharbeit in einem sprachlich heterogenen gesellschaftlichen Raum, in dem sich eine bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Nationalsprache herausgebildet hat. Diese Spracharbeit hatte zwei Seiten: die Integration der gesellschaftlich heterogenen Bevölkerung und die Auseinandersetzung mit der lateinischen Bildungssprache. Die gegenwärtig so heftig debattierten Fragen, die sich um den Gegensatz des Eigenen und des Fremden drehen, gehören in diese Entwicklung: der Prozess der Spracharbeit ist nicht abgeschlossen. Eine solche Sichtweise verlangt eine historische Vergewisserung. Diese will das Buch möglich machen, indem seine Darstellung von den heutigen Verhältnissen zur germanischen Frühzeit zurückgeht, und die Sprachentwicklung anhand von ausgewählten Quellen veranschaulicht.
Autorenporträt
Dr. Utz Maas ist Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Osnabrück.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2012

Hochdeutsch ist ein politisches Projekt

Vom republikanischen Geist der Grammatik: Der Grazer Germanist Utz Maas führt im Rückwärtsgang durch die Geschichte der deutschen Sprache - und verheddert sich in der Leitkulturdebatte.

Goethe diktierte viel, las das Niedergeschriebene aber oft erst Jahre später. Dabei stieß er dann auf manch erstaunlichen Unsinn, den er sich erst durch mühsames Rekonstruieren erklären konnte: Aus Goethes "Pyriten" hatte der Schreiber "beritten" gemacht, der "Tugendfreund" war zum "Kuchenfreund" geworden, und Daniels "Löwengrube" hatte sich in eine "Lehmgrube" verwandelt. Was Goethe als "Hörfehler" seiner Sekretäre verbuchte, war in Wahrheit die Verschriftung seiner eigenen Frankfurter Sprachfärbung. Noch zur Zeit der Weimarer Klassik, als sich bereits eine überregionale deutsche Schriftsprache herausgebildet hatte, sprachen auch die gebildeten Stände noch mit starkem Dialekteinschlag, löste die Frage nach den Normen und Regeln der Hochsprache Streit und Unsicherheit aus.

Wie wenig selbstverständlich die Existenz der hochdeutschen Standardsprache ist, die heute den Schulunterricht und die überregionale Kommunikation zwischen Nordseeküste und Südtirol dominiert, wie sehr sie das Ergebnis einer kollektiven, sich über Jahrhunderte erstreckenden Anstrengung von Kanzleischreibern, Schriftstellern, Druckern, Grammatikern, Geistlichen und Lehrern darstellt, schildert der Grazer Germanist Utz Maas. Der Titel seines Buches "Was ist Deutsch?" stellt eine jener scheinbar einfachen Fragen, die sich als immer komplexer entpuppen, je weiter man ihnen nachgeht. Maas nimmt den Leser mit auf einen Gang durch die deutsche Sprachgeschichte, der in der multikulturellen Gegenwart beginnt und in der germanischen Vorzeit endet. Diese Richtung, dem Zeitpfeil entgegen, hat den didaktischen Vorteil, das Publikum im Hier und Jetzt "abholen" zu können. Allerdings müssen dadurch auch die historisch-kausalen Abläufe von den Ergebnissen her aufgerollt werden. Das macht die Darstellung mitunter etwas unbefriedigend, weil der Leser immer wieder einmal zur genaueren Erklärung auf noch kommende Kapitel verwiesen wird.

Maas erhebt nicht den Anspruch, Neuigkeiten mitzuteilen; worum es ihm geht, ist die Perspektive: Er zeichnet die Entwicklung hin zur Hochsprache als einen Prozess gesellschaftlicher Arbeit, die darauf abzielt, die Ressourcen, die die Wortschätze, grammatischen Strukturen und Lautinventare der Mundarten boten, zu einem Medium auszubauen, das es erlaubt, auch differenzierteste Gedankengänge zu formulieren und über alle provinziellen Begrenzungen hinweg zu vermitteln. Für Maas ist das, was wir heute "Hochdeutsch" nennen, eine Schriftsprache, die sich von der Mündlichkeit, in der sie wurzelt, strukturell so weit entfernt hat, dass sie längst etwas Eigenes darstellt - kein irgendwie gewachsenes Gebilde, sondern ein zutiefst politisches, ja ein eigentlich "republikanisches" Projekt, an dessen Horizont die Partizipation aller Bürger am demokratischen Diskurs aufscheint.

In seinen besten Momenten bietet das Buch so etwas wie eine politische Ökonomie der Grammatik. Maas illustriert seinen Rückwärtsgang durch die Geschichte mit einer Fülle von Quellen, deren Analysen er durch Übersetzungen und Annotationen auch für diejenigen nachvollziehbar macht, die des Althochdeutschen, Lateinischen, Jiddischen oder Niederdeutschen nicht mächtig sind. Im Satzbau bäuerlicher Testamente, dem Vokabular fürstlicher Kanzleien oder der Orthographie geistlicher Predigten zeigt Maas die Spracharbeit von Menschen, die natürlich nicht die Schaffung einer Standardsprache zum Ziel hatten, die aber zu ihrer Entstehung beitrugen, indem sie sich bemühten, die Ausdruckskraft, Verständlichkeit und Reichweite ihrer Worte und Sätze zu optimieren.

Mit der unter vielen Linguisten verbreiteten Bevorzugung der gesprochenen als der "eigentlichen" Sprache hat Maas nichts im Sinn. Dahinter steckt für ihn ein romantisches Konzept von Ursprünglichkeit, das mit der Sprachwirklichkeit von seit Jahrhunderten alphabetisierten Gesellschaften nicht viel zu tun hat. Tatsächlich ist schon die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass wir beim Sprechen einzelne Wörter aneinanderreihen, eine von der Schrift geprägte Vorstellung, denn die gesprochene Sprache ist nichts als ein kontinuierlicher Fluss von Lauten, erst die Schrift macht durch ihre Abstände Wörter erkennbar.

Die aufklärerische Verve, die Maas' Buch durchzieht, entspringt seiner selbstgestellten Aufgabe, gegen ein falsches Sprachbewusstsein anzuschreiben, gegen eine "Imago", in der die Sprache als ein zeitloses, homogenes, quasi naturhaftes Gebilde erscheint, das vor dem Verfall und gegen die bedrohlichen Einflüsse von außen - aktuell die Immigrantensprachen - geschützt werden müsse. Als Quelle dieses vermeintlich regierenden Zerrbildes macht Maas vor allem "das Feuilleton" aus. Doch er ficht hier, befangen in den Debatten von gestern, gegen einen Popanz. Der normative Rigorismus, die sprachkritische Schärfe von einst sind aus der deutschen Publizistik - von Ausnahmen abgesehen - längst verschwunden.

Die mediale Resonanz auf das "Kiezdeutsch" großstädtischer Migrantenkinder beispielsweise ist in weiten Teilen keineswegs von Sprachverfallsängsten geprägt. Was dominiert, sind der Unterhaltungswert und der vermeintlich exotische Reiz der neuen Sprachformen - allenfalls untermischt mit milder pädagogischer Besorgnis. Auch Maas' Attacken gegen den Begriff der "Leitkultur" lassen die sonst gezeigte Differenziertheit im Urteil vermissen. In diesem schillernden Begriff kristallisierten sich ja nicht nur Ausgrenzungswünsche, sondern auch Fragen nach den demokratischen und kulturellen Werten, die eine immer heterogener werdende Gesellschaft zusammenhalten sollen. Dass die "Leitkultur" aus der öffentlichen Diskussion mittlerweile weitgehend verschwunden ist, liegt nicht daran, dass sich diese Fragen erledigt hätten. Vielmehr gelten dem herrschenden Pragmatismus der politischen Klasse solche Themen als - wie die Kanzlerin sagen würde - "nicht hilfreich".

Maas' entscheidender Punkt, dass das heutige Deutsch ein historisches Mischprodukt ist, das ohne die Entwicklungshilfe fremder Sprachen nicht hätte entstehen können, bleibt natürlich trotzdem richtig. Er arbeitet überzeugend heraus, wie entscheidend die Impulse des Lateinischen waren, das nicht nur als Vokabelspender, sondern, viel wichtiger, als Strukturmodell einer künftigen deutschen Bildungssprache diente, als ein "Sparringspartner", mit dessen Hilfe das Deutsche die ausgefeilten Techniken entwickelte, die es erlauben, komplexeste Gedanken in grammatische Strukturen zu fassen.

Aus dem intensiven Latein-Kontakt resultierten Glanz und Elend des deutschen Periodenbaus - die meisterhaften Konstruktionen eines Heinrich von Kleist ebenso wie die verschachtelten Ungetüme aus grauen Amtsstuben. Eine andere Folge ist die Großschreibung der Substantive: Sie gibt dem Leser Gliederungshilfen und ersetzt so die Signalfunktion der vielen grammatischen Endungen, mit denen das Lateinische die Zuordnung zusammengehöriger Wörter in komplizierten Sätzen ermöglicht. Durchgesetzt wurde sie - gegen den Willen vieler Sprachgelehrter - von den Druckern der frühen Neuzeit.

Maas verzahnt die sprach- und sozialhistorische Perspektive so, dass die gesellschaftlichen Triebkräfte des sprachlichen Wandels bis in die Feinheiten des Sprachsystems sichtbar werden. Den Prozess dieser "gesellschaftlichen Arbeit" nachzuvollziehen erfordert vom Leser beträchtliche individuelle Arbeit. Die Darstellung ist fachlich anspruchsvoll und inhaltlich wie sprachlich komplex. Das terminologische Glossar im Anhang bietet nur eine begrenzte Hilfe. Die Hoffnung des Autors, ein breites Publikum jenseits der akademischen Welt zu erreichen, ist kühn. Bereichern sollte das Buch in jedem Fall die germanistische Lehre - auf dass die künftigen Deutschlehrer den republikanischen Geist der Grammatik ins Sprachvolk tragen.

WOLFGANG KRISCHKE

Utz Maas: "Was ist deutsch?" Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland.

Wilhelm Fink, München 2012. 532 S., geb., 98,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.12.2012

So weit die Zunge reicht
Nicht nur ein neuer Rahmen für das Bild, das wir uns von der deutschen Sprache machen:
„Was ist deutsch?“, fragt der Linguist Utz Maas. Aber hat er gute Antworten?
VON HANS-HERBERT RÄKEL
Über 500 Seiten als Antwort auf die lakonische Frage: „Was ist deutsch?“ Das klingt nach einem Vermächtnis. Der emeritierte Sprachwissenschaftler Utz Maas plädierte schon vor über 40 Jahren (mit Karl Marx als treuem Mentor) „für eine andere Sprachwissenschaft“. Das Nachdenken über Sprache sollte eine Erfahrung für alle werden. Das aber ist ein Wunsch, der heute noch weniger erfüllt zu sein scheint als damals. Denn nun geht es darum, den gängigen Diskurs „mit seinen Topoi von Sprachverfall, Überfremdung der Sprache u. dgl. rational aufzulösen“.   Das Buch beschäftigt sich deswegen nicht mit der deutschen Sprache als solcher, sondern mit den „sprachlichen Verhältnissen in Deutschland“. Es soll selber „Spracharbeit“ leisten, indem es die herrschende Vorstellung von dieser Sprache erweitert. Die Autor will zeigen, „wie die kolportierten sprachhistorischen Klischees aus den Angeln zu heben sind“. Ein solches Klischee ist es zum Beispiel, die Sprache als ein gegebenes Erbe zu betrachten. Vielmehr ist sie das mehr oder weniger vorläufige Ergebnis der verschiedensten Initiativen von „Sprachausbau“. Dies ist der wichtigste Begriff für die Auffassung der Sprache in diesem Buch, denn „Ausbau heißt Gewinn an Autonomie“.
  Im Vordergrund stehen dabei immer die äußeren Bedingungen: auf mündliche oder schriftliche Kommunikation bezogener Gebrauch, Varietäten des Registers (formell, informell, intim), Varietäten der Regionen und Dialekte (besonders das Verhältnis von Hoch- und Niederdeutsch) , Minderheitensprachen (etwa Dänisch, aber vor allem auch Jiddisch und Sorbisch), Migrantensprachen, kulturelle Vorbilder (Latein, Französisch, Englisch), die räumliche Verteilung, die wechselnde staatliche Abgrenzung, die politische und kirchliche Organisation. Utz Maas bleibt nie an der Oberfläche, begnügt sich aber auch nicht, eine durch diverse Forschungsinteressen angehäufte Stoffmasse zu vermitteln, denn er will ja „der gesellschaftlichen Praxis eine Perspektive“ geben. Diese Perspektive ist der Ausbau vielförmiger Sprachvarietäten zur Schriftsprache. Die „interne“ und die „externe“ Sprachgeschichte sind dafür nur die beiden Seiten derselben Medaille, wobei freilich die interne (formelle) Seite ein linguistisches Studium zu er fordern scheint. Denn „die Frage des Sprachausbaus ist eine Frage des Erschließens der grammatischen Ressourcen“.
  In diesem Bereich dürfte die Darstellung ausführlicher sein und tiefer dringen. Die Ablautreihen , einstmals das rote Tuch für Kritiker der „Älteren Abteilung“, kommen zwar hier zu Ehren bei der „Grammatikalisierung“ des Ablauts für das Verb in allen germanischen Sprachen. Aber man findet fast nichts zum spektakulären Ausbau des ärmlichen germanischen Systems im Deutschen. Das moderne Deutsch ist zwar immer noch „am laborieren“ mit einer Verlaufsform (das wird öfter erwähnt), hat aber mit Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II ein Zeitraster entworfen, das mit dem lateinischen und dem der modernen Nachbarsprachen konkurrieren kann, vor allem aber ein Passiv entwickelt, das semantische Möglichkeiten bietet, die weder im Lateinischen noch in den modernen Nachbarsprachen vorgebildet sind.
  Die Materialbasis dafür scheint noch dazu nicht besonders geschickt gewählt, soll das Hilfsverb „werden“ doch mindestens auf zwei Hochzeiten tanzen (Passiv, Futur). Dazu kommt ein sehr junger Sprachausbau, ohne lateinisches oder ein anderes Vorbild, der uns so treffend und so intelligent erscheint, dass wir ihn hier beinahe schmerzlich vermissen: die indirekte Rede. Natürlich kann man in allen Sprachen sagen, was ein anderer gesagt hat, aber eine konsequent grammatikalisierte Verbform dafür gibt es in keiner der Nachbarsprachen. Die zu diesem Zweck umfunktionierte Form (Konjunktiv I) verkörpert ein für die Kommunikationsgesellschaft eminent wichtiges Ausdrucksbedürfnis.
  Die Rundfunk- und Fernsehnachrichten etwa bestehen meist nicht aus berichteten Ereignissen, sondern aus der Wiedergabe dessen, was dieser und jene gesagt haben. Diese Markierung der Verantwortung des Sprechenden muss der Sprachgemeinschaft überaus wichtig gewesen sein, denn sie realisiert dieses Projekt fast gewaltsam mit durchaus mangelhaften Mitteln: Da der Konjunktiv I oft nicht eindeutig ist, muss man ihn ersetzen, und die Normverletzung ist sozusagen programmiert. Im Namen der Demokratie, der freien Meinungsäußerung und des Respekts vor dem anderen ist es aber sinnvoll, das Projekt dieses Sprachausbaus durch eine Norm zu schützen und zu achten. Nur Banausen plädieren dafür, überhaupt nur noch „würde-Formen“ zu benutzen.
  Auch ein Buch über die Sprache wird in solchen Verhältnissen geschrieben, und die akademischen Institutionen gehören dazu: „Es bleibt mir nur die Hoffnung, dass ein solches, von inhaltlichen (und politisch transparenten) Fragen geleitetes sprachgeschichtliches Studieren durch die derzeitige straffe prüfungsorientierte Studienorganisation nicht blockiert wird."
  Aber es sind nicht nur organisatorische Verhältnisse, welche ein solches Studieren bedrohen. Die Wissenschaft selber scheint nicht so frei zu sein, wie sie zu sein glaubt. Auch in diesem Buch, und gegen dessen erklärte Absicht, scheint die Geschichte nicht ohne Ziel auszukommen, und auch in diesem Buch scheint die Forschung der Aufklärung in den Weg zu treten.
  „Hier soll also nicht das Epos der ,Biographie’ der deutschen Sprache nacherzählt werden“, und „die Sprache ist kein Organismus, der wächst und sich entfaltet“, erklärt Utz Masse. Dennoch heißt schon sein Untertitel: „Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse“. Entwicklung ist aber das biologische Modell, nach dem sich eben aus dem Ei einer Kopflaus nichts anderes als eine Kopflaus entwickelt. Der Autor weist dieses Modell zwar ausdrücklich zurück, aber es drängelt sich immer wieder vor. Es geht ja auch von Anfang an um „die Bedingungen, unter denen sich unsere heutigen sprachlichen Verhältnisse herausgebildet haben. Dadurch wird das gesellschaftliche Projekt sichtbar, zu dem die Nationalsprache gehört: auf dieses hin ist die historische Entwicklung angelegt.“
  Diese Geschichtsmythologie, ein Erbstück aus der Hinterlassenschaft der Heilsgeschichte, hat sich in der Tat seit der Aufklärung in den Begriff der Nationalgeschichte geflüchtet. Darum zieht auch die Sprachgeschichte das Wort „national“ wie ein Magnet an. Utz Maas gebraucht es oft, manchmal in Anführungszeichen, meistens ohne: „Die sprachlichen Verhältnisse in der Barockzeit waren ausgerichtet auf das Projekt einer Nationalsprache als Schriftsprache“, heißt der erste Satz auf Seite 201, die dann nichts anderes tut, als diesen Satz zu desavouieren. Etwas schüchtern taucht der Gedanke wieder auf: „Aber die gesellschaftliche Dynamik richtete hinter dem Rücken der Subjekte auch die Alltagspraxis der Menschen zunehmend auf einen nationalen Horizont aus“. Aber im Blick können sie diesen Horizont dann wohl kaum gehabt haben!
  Aber der Autor weiß es ja eigentlich besser, und wir halten uns lieber an seinen Satz: „Der Fluchtpunkt der heutigen Hochsprache wird durch den Verlauf der Geschichte greifbar als mehr oder weniger imaginäres Gegenstück zu einem komplexen Prozess der Arbeit an der Sprache“. Ist es nicht gerade bemerkenswert, dass die Nation für den Ausbau der deutschen Sprache, etwa im Vergleich zu Frankreich, eher durch Abwesenheit glänzte?
  Für die orthodoxe Terminologie sind die sprachlichen Strukturen geometrisch („linksläufiger Ausbau“, „Vorfeld“, „Mittelfeld“, „Rahmenstellung“). Wer etwas sagen will, bildet aber keine Rahmen. Was tut er denn? Wenn er Deutsch spricht, bewegt er sich souverän in einem Paradigma von drei Aussagemöglichkeiten, die drei Bedeutungen repräsentieren: Die Endstellung des Verbs ist unmarkiert und wahrheitswertneutral, die Zweitstellung ist markiert und bedeutet wahr oder falsch, die Erststellung ist markiert und bedeutet eine Art von Hypothese. Wer etwas sagen will, muss, wenn er Deutsch spricht, eine dieser Formen wählen. Dieses schöne Paradigma – es ist in dem Sinne schön wie man eine gelungene mathematische Formel schön nennen kann – ist eine prägnante Eigenschaft des modernen deutschen Sprachausbaus. Ob es (heute) nicht auch etwas mit unserem rationalen Weltbild zu tun hat, dass die Syntax obligatorisch den logischen Wahrheitswert markiert, darüber darf man dann meditieren.
  In diesem Muster erfährt sich der Sprecher jedenfalls als Subjekt seiner Erfahrung (auch oder gerade wenn er lügt). Die geometrische Formalisierung lädt dagegen allen Ernstes zu Erkenntnissen wie dieser ein: Da die Abfolge der Konstituenten „Kopf“ und „Satellit“ im Deutschen nicht stabil sei wie im Französischen, man also ihre Reihenfolge vertauschen und sagen müsse „ein Lied singen“ und „ich singe ein Lied“ (statt „chanter une chanson“ und „je chante une chanson“), sei das Deutsche weniger „harmonisch“: "Unharmonische Strukturen wie im Deutschen sind Spuren des Umbaus ... Das Deutsche ist in dieser Hinsicht ohnehin eine relativ wenig balancierte Sprache." Nur geht es eben – anders als in der Linguistik – hier nicht um Balance, sondern um Bedeutung. Und damit um die Menschen und ihre Erfahrung.
  Wer hätte das besser und öfter gesagt als Utz Maas? Und ist es nicht tragisch, dass er die Sprache einer Linguistik benutzt, die dafür keine Antenne hat? Vor vierzig Jahren nannte er so etwas „formalistische Pervertierung“ – und hat damit immer noch recht.
Die germanischen Sprachen
hatten nur ein simples Zeitraster.
Dann liehen sie sich eines
Die indirekte Rede ist nicht nur
grammatisch ein Gewinn,
sondern auch gesellschaftlich
Vorfelder, Köpfe und Satelliten:
Wie Sprachwissenschaft die
Sprache auch verfehlt
  
      
    
    
Utz Maas: Was ist deutsch? Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland. Wilhelm Fink Verlag, München 2012.
532 Seiten, 98 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Nun ja, für den "breiten" Leser ist das Buch vielleicht ja doch nichts, mutmaßt Wolfgang Krischke. Für den akademischen aber umso mehr. Was der Autor hier laut Krischke leistet, ist nicht weniger, als eine deutsche Sprachgeschichte von hinten, also von heute bis in die germanische Vorzeit, immer auf der Suche nach den sprachgeschichtlichen wie sozialhistorischen Weichenstellungen für den hochdeutschen Standard. Macht der Autor gut, findet Krischke, der Utz Maas zugesteht, in seinen besten Momenten eine politische Ökonomie der Grammatik zu schreiben. Durch die Übersetzung seines reichen aus dem Althochdeutschen, Lateinischen, Jiddischen und Niederdeutschen stammenden Quellenmaterials (Testamente, Predigten, fürstliches Schrifttum) sogar eine für den weniger kundigen Leser verständliche, wie Krischke erfreut anmerkt. Andererseits fühlt sich der Rezensent in der Pflicht, darauf hinzuweisen, dass das Buch die engagierte Mitarbeit des Lesers erfordert, auch weil das terminologische Glossar nicht wirklich hilft. Und ob der Autor mit seinem Versuch, einem Verständnis unserer Sprache als eines homogenen, gegen den Einfluss anderer Sprachen zu schützenden Gebildes entgegenzuwirken, nicht sowieso offene Türen einrennt, möchte Krischke auch bezweifeln.

© Perlentaucher Medien GmbH