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  • ISBN-13: 9783770053377
  • ISBN-10: 3770053370
  • Artikelnr.: 48547799

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ohne billige Effekthascherei
Außenpolitiker unter sich - Der Auswärtige Ausschuss 1980 bis 1983

Kurz nach dem Kanzlerwechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 beschwerte sich der Obmann der SPD-Bundestagsfraktion über das Niveau der Berichterstattung der neuen Bundesregierung. Es sei zu konstatieren, dass "seriöse Journalisten" mehr Informationen erhielten "als die Mitglieder dieses Ausschusses". Worauf der erfahrene CDU-Abgeordnete Herbert Hupka einwarf: "Das ist immer so gewesen!" Und in der Tat drängt sich nach der Lektüre der mehr als 1600 Seiten der Protokolle des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags in der verkürzten 9. Legislaturperiode von 1980 bis 1983 der Eindruck auf, dass aus einem intensiven Studium der zeitgenössischen Qualitätspresse die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland plastischer hervortreten würde als aus den Sitzungen des parlamentarischen Gremiums.

Mehrere Faktoren sind für diesen Umstand verantwortlich: Erstens war schon damals und bleibt auch zukünftig die Außenpolitik ein klassisches Feld der Exekutive. Der Kompetenz- und Informationsvorsprung der außenpolitischen Regierungsakteure vor den Parlamentariern war damals immens - und ist es heute immer noch. Obwohl innerhalb des Regierungsgefüges in den vergangenen Jahrzehnten eine deutliche Verschiebung zu konstatieren ist. Während das Auswärtige Amt unter Minister Hans-Dietrich Genscher die Vorherrschaft im außenpolitischen Entscheidungsfindungsprozess cum grano salis behaupten konnte, muss mittlerweile festgehalten werden, dass die großen außenpolitischen Sachthemen - die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika, zu Russland sowie zur Volksrepublik China und nicht zuletzt die Europa-Politik - vom Kanzleramt dominiert werden.

Zweitens lag und liegt es in der Natur der Sache, dass die jeweilige Exekutive nicht darauf erpicht sein kann, zu viel von ihren Regierungsgeheimnissen zu offenbaren, da ansonsten womöglich der politische Gegner Kapital aus diesen Erkenntnissen ziehen könnte. Die ausführlichen Berichterstattungen des Auswärtigen Amtes in den insgesamt 43 Sitzungen - zumeist durch beamtete Staatssekretäre, in 14 Sitzungen erschien der Außenminister persönlich - zeichnen sich aus durch gesetzte Wortwahl sowie durch wohltemperierten Vortrag. Nur äußerst selten gelang es einem Abgeordneten, die gut vorbereiteten Beamten aus der Reserve zu locken. Allerdings gerieten die Auftritte Hans-Dietrich Genschers zuweilen zu außenpolitischen Lehrstunden, die er gleichwohl ohne große Attitüde und Effekthascherei abhielt.

Überhaupt ist festzuhalten, dass der Ton in den Beratungen geprägt war von gegenseitigem Respekt. Unter dem Vorsitz des CDU-Abgeordneten Rainer Barzel kam es im Auswärtigen Ausschuss selten zu harten Konfrontationen, obwohl in diesen bewegten drei Jahren die Außenpolitik eigentlich eine Menge an Zündstoff geliefert hätte. Hier nur einige Schlagworte: Durchsetzung des Nato-Doppelbeschlusses, Verhängung des Kriegsrechts in Polen, Eurosklerose, Falkland-Krieg sowie der Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon. Wiederum zwei Gründe sind für diesen Befund verantwortlich: zum einen die Tatsache, dass die Entsendung in den Auswärtigen Ausschuss von allen Parteien als Belohnung für verdiente Parlamentarier genutzt wurde, die ihren politischen Zenit längst überschritten hatten, und zum anderen die strategische Ausrichtung der CDU/CSU-Fraktion unter Helmut Kohl, der klarsichtig erkannt hatte, dass es für die Unionsparteien nur eine Machtoption im Bund gab: das Herüberziehen der FDP in eine gemeinsame Regierung.

Vor allem bei den Vorträgen des Ministers überschlugen sich die Unionspolitiker in der Lobpreisung des gewählten Kurses. Dies umso mehr, als in der Tat Genschers wichtigste Besorgnis in diesen Jahren die tiefe transatlantische Krise gewesen ist. Der Außenminister plädierte immer wieder leidenschaftlich für einen engen Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten von Amerika - sei es unter Präsident Jimmy Carter oder dessen Nachfolger Ronald Reagan. Bei den Ausschussmitgliedern der CDU/CSU rannte er damit offene Türen ein. Die Abgeordneten hatten die von Walther Leisler Kiep geprägte Maxime, dass die Nato als "zweites Grundgesetz der Bundesrepublik" anzusehen sei, gleichsam mit der Muttermilch eingesogen.

Die Unionspolitiker trugen also ihr Lob für Minister Genscher zuweilen besonders dick auf, da sie erkannten, dass ihre Kollegen von der SPD-Fraktion - zu nennen sind hier in erster Linie Norbert Gansel und Karsten Voigt - sich mit diesem Kurs deutlich schwerer taten. Die Bruchlinien, die letztendlich zur Demontage von Bundeskanzler Helmut Schmidt durch die eigene Partei geführt haben, waren in den Beratungen des Auswärtigen Ausschusses bereits früh angelegt und zu erkennen.

Überhaupt erfährt der Leser in den Protokollen - die Mitschriften von zwei Sitzungen sind unverständlicherweise immer noch unter Verschluss - weniger über die reale Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland als vielmehr über die parlamentarischen Gepflogenheiten auf dem Feld der auswärtigen Beziehungen. Ein schlagendes Beispiel ist die völlige Verwunderung des Ausschussvorsitzenden Barzel, der in einer frühen Sitzung im Jahr 1981 mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass nicht der Fachausschuss über den Haushalt des Auswärtigen Amtes berät, sondern lediglich der Haushaltsausschuss das Budgetrecht wahrnimmt. Weiterhin ist zu konstatieren, dass trotz der vereinbarten Vertraulichkeit der Sitzungen die Presse über Verlauf und Inhalt der Beratungen zumeist glänzend informiert war. Dies übrigens ist ein weiterer Grund, warum die Regierungsvertreter mit Arkanwissen zurückhaltend operierten. Bei der relativ großen Mitgliederzahl von 33 Abgeordneten konnten die Zuträger nach einer nicht erwünschten Veröffentlichung nicht zuverlässig ermittelt werden. Dass dieser Umstand vom Auswärtigen Amt zuweilen auch als informeller Informationskanal benutzt wurde, stand schon den Zeitgenossen klar vor Augen.

Die Edition der Protokolle durch die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien entspricht dem hohen Niveau, das die Fachwelt von dieser renommierten Institution erwartet. Allerdings gilt es anzumerken, dass die umfangreiche Einleitung durch Joachim Wintzer zwar gut in die Edition einführt, aber mit Blick auf die mittlerweile doch äußerst lebendige Forschungslage gleichsam unterbelichtet erscheint.

Der Bezugsrahmen des umfangreichen Anmerkungsapparats ist nahezu ausschließlich auf die historische Gegenwart Anfang der achtziger Jahre ausgerichtet. Das heißt, eine übergreifende Einordnung beispielsweise in die Geschichte der bundesdeutschen Außenpolitik sowie des Kalten Krieges als institutionellem Rahmen unterbleibt. Abschließend sei noch eine Anmerkung grundsätzlicher Natur erlaubt: Sicher ist es verdienstvoll, die "parlamentarische Außenpolitik" (Joachim Wintzer) näher in den Blick zu nehmen, und sicher ist es wichtig, auf die Vielzahl außenpolitischer Akteure hinzuweisen, doch bleibt die Frage offen, ob der überschaubare Erkenntnisgewinn die Lektüre von über 1600 Seiten rechtfertigt.

HARALD BIERMANN.

Winfried Becker/Hans Günter Hockerts: Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1980-1983.

Droste Verlag, Düsseldorf 2017. 1611 S., 190,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Harald Biermann hat seine Zweifel, ob der "überschaubare" Erkenntnisgewinn der von Winfried Becker und Hans Günter Hockerts herausgegebenen Sitzungsprotokolle die Edition und Lektüre von 1600 Seiten rechtfertigt. Laut Rezensent stehen den in respektvollem Ton verfassten ausführlichen Berichten des Auswärtigem Amtes in 43 Sitzungen nur wenige Aufregungen und Konfrontationen gegenüber, auch wenn die damalige Außenpolitik mit Nato-Doppelbeschluss, Falkland und "Eurosklerose" Zündstoff genug bereithielt, wie er weiß. Über reale Außenpolitik erfährt Biermann insgesamt weniger als über parlamentarische Gepflogenheiten. Ein Highlight sind für ihn Genschers außenpolitische Lehrstunden. Das Niveau der Edition nennt er hoch, die Einleitung in Bezug auf die lebendige Forschungslage erscheint ihm jedoch unterbelichtet und der Bezugsrahmen des Anmerkungsapparats zu eng.

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