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Produktdetails
  • Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd.144
  • Verlag: Droste
  • Seitenzahl: 514
  • Deutsch
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 850g
  • ISBN-13: 9783770052646
  • ISBN-10: 3770052641
  • Artikelnr.: 12848853
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2005

Klein, knorrig, dynamisch und mutig
Eugen Gerstenmaier: Eine schwache Biographie über eine starke Persönlichkeit

Daniela Gniss: Der Politiker Eugen Gerstenmaier 1906-1986. Eine Biographie. Droste Verlag, Düsseldorf 2005. 514 Seiten, 64,80 [Euro].

Die Zahl derer, die mit seinem Namen und seinem Wirken zwei Jahrzehnte nach seinem Tod noch konkrete Vorstellungen verbinden, wird immer kleiner. Dabei war Eugen Gerstenmaier einer der Gründerväter der Bundesrepublik, eine der Schlüsselfiguren der langen Ära Adenauer, die erst mit dem bitteren Rücktritt des Bundestagspräsidenten Anfang 1969 recht eigentlich zu Ende ging. Die durchaus vielschichtige Gestalt der Zeitgeschichte endlich in den Mittelpunkt einer biographischen Studie zu rücken ist durchaus sinnvoll. Allerdings gilt das biographische Genre wissenschaftlich bei uns nicht viel. Daniela Gniss verschanzt sich in ihrer Studie deshalb zunächst hinter "paradigmatischen Erkenntnisperspektiven", dem "Komplex generativer Strukturen", der "Thematisierung allgemeingeschichtlicher Relevanz", um Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit abzuwehren. Sie befreit sich erst allmählich aus diesem unnützen Verhau. Allein, dem Manne, dem sie viel Zeit und Mühen widmete, so recht sich anzunähern mochte sie wohl bis zum Ende nicht. Und ebensowenig, seinen eigenen Worten Platz einzuräumen: Keine längere Passage aus einer seiner feurigen Reden, seiner zahlreichen, meist sehr pointierten Briefe findet sich im Text wieder. So bleibt manches konturlos und neblig wie die Bilder auf den Innenseiten des Einbandes - bei einer doch höchst scharf konturierten Hauptfigur.

"Short, stocky and dynamic" sei dieser Gerstenmaier, der sich offenbar für überaus talentiert und als kommender Außenminister bereithalte, berichtet der amerikanische politische Berater Robert Murphy im Dezember 1948 leicht abschätzig nach einem Treffen an das State Department. Klein, knorrig, dynamisch: Schlüsselbegriffe für Gerstenmaier. Die nicht gerade eindrucksvolle Körpergröße, war sie nicht Ausgangspunkt für die zahllosen Kompensationsversuche seines Lebens vom Kampf um die Habilitation im "Dritten Reich" bis zu dem um die zweithöchste Nullnummer des Staates an seinem Dienstwagen oder dem um Wiedergutmachungszahlungen, über die er letztlich stürzte? Die Autorin schlägt solche Chancen zur biographischen Reflexion jedoch aus; das wichtige Detail wird allenfalls beiläufig präsentiert, etwa, wenn Gerstenmaier die "längeren Beine" seiner Frau auf dem Fahrrad erwähnt oder uns der "lange Eugen", der von Gerstenmaier initiierte Neubau des Bonner Abgeordnetenhochhauses, vorgestellt wird.

Auch über die Familie kaum ein Wort. Unwichtig? Warum nannte er seinen jüngsten Sohn "Yorck"? In Erinnerung an den Freund aus dem Kreisauer Kreis, Peter Graf Yorck von Wartenburg, an dessen Seite er in der Nacht des gescheiterten Attentats am 20. Juli im Bendlerblock in Ketten gelegt worden war. Schon sind wir mitten in einer der Schlüsselkonstellationen seines Lebens. Er wird in den Berichten von RSHA-Chef Kaltenbrunner an Hitler als eine Hauptfigur der Verschwörung, als deren Verbindungsmann zur evangelischen Kirche schwer belastet Er steht anschließend neben Helmuth James Graf von Moltke und Alfred Delp vor dem Volksgerichtshof Freislers. Und kommt, anders als die vielen zum Tode Verurteilten, mit einer Strafe davon, die er selbst einmal als "unverständlich milde" bezeichnet hat, mit sieben Jahren Zuchthaus. Hat er sich sein Leben durch Denunziation, durch Verrat als "SD-Agent P 38/546" erkauft, wie es eine von der DDR lancierte, von Daniela Gniss breit analysierte Hetzkampagne nach 1960 glauben machen will? Gibt ein solcher "Verräter" seinem Sohn hinterher den Namen seines "Opfers"? Diese Frage taucht in der Biographie nicht auf. Auch die von Gerstenmaier selbst 1964 im eindrucksvollen, informativen Gespräch mit Günter Gaus formulierte These, eine Freundin seiner Frau habe bei Freisler seinen "Kopf" gerettet, wird nicht weiter erörtert.

Ähnlich verhält es sich mit Gerstenmaiers anhaltender Offenheit und Kooperationsbereitschaft gegenüber Sozialdemokraten über Carlo Schmid, seinen Stellvertreter im Bundestagspräsidium, hinaus. Sie wurzelt im "Dritten Reich". Zeitlebens bewunderte Gerstenmaier Otto Wels - ein Name, der bei Frau Gniss gar nicht vorkommt - für seine Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes. Zeitlebens vergaß er nicht die Tapferkeit im Widerstand gegen Hitler von Sozialdemokraten wie Carlo Mierendorff, Theo Haubach, Julius Leber oder Adolf Reichwein, die er persönlich erlebt hatte. Deshalb konnte er sich später durchaus Hoffnungen machen, als Kanzler einer Allparteienregierung - einer Großen Koalition - von der SPD akzeptiert zu werden. Im Jahr 1966, nachdem er maßgeblich in seinem Jagdhaus fern von Bonn an den Intrigen zum Sturze Erhards mitgestrickt hatte, war es fast soweit - bis ihm die CSU die Tür zum Kanzleramt zugunsten von Kurt Georg Kiesinger versperrte und Herbert Wehner ihm auch noch das bereits fest zugesagte Außenamt für den Zauderer Willy Brandt entwand.

Hier liegt der Gipfel-, der Scheitelpunkt einer erstaunlichen Karriere, die in der Kargheit der Schwäbischen Alb, im pietistisch-protestantischen Milieu ihren Ausgang nimmt und in manchen Zügen an den Weg Ludwig Erhards erinnert. Hier wie dort Realschulabschluß, Umwege zum Hochschulstudium. Der späte Parteieintritt. Sprachmächtige Individualisten und ehrgeizige Seiteneinsteiger ohne Hausmacht, ohne vorbehaltlosen Rückhalt in der Union. Was für den einen die Volkswirtschaft, wird für den anderen die Theologie. Gerstenmaier, ältestes von acht Kindern, wendet sich dem Theologiestudium - für seinen Vater, den Schreiner, der sich zum Klavierbauer hocharbeitet, "brotlose Kunst" - auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise in Deutschland zu und hat Glück. Im Außenamt der Evangelischen Kirche in Berlin, einer Art Außenministerium, knüpft er im Schatten nationalsozialistischer Pressions- und Gleichschaltungsversuche Kontakte ins Ausland. Er kann reisen und - nach der Sudetenkrise 1938 überzeugt, daß nur ein Attentat Hitlers Herrschaft beenden könne - mit Hilfe von Jakob Kaiser, Pfarrer Heinrich Grüber und Adam Trott zu Solz Verbindung knüpfen zu Gleichgesinnten, nicht zuletzt ins Auswärtige Amt und die Abteilung Abwehr beim OKW. Daß er 1951/52 über viele Monate hinweg den großen, heute nahezu vergessenen Untersuchungsausschuß des Bundestages über die NS-Verstrickung deutscher Diplomaten überaus verständnisvoll leiten wird, hängt damit zusammen, daß er viele der Beteiligten selbst in den Kriegsjahren kennen- und einschätzen gelernt hat.

Nach seiner Befreiung aus dem Zuchthaus durch die Amerikaner übernimmt Gerstenmaier die Leitung des Evangelischen Hilfswerks. Auf Umwegen führt sein Weg in den ersten Deutschen Bundestag. Prononcierte Protestanten waren rar und paßten ins Bild einer neuen, überkonfessionellen CDU. Nach dem Tode von Hermann Ehlers muß Gerstenmaier 1954 das ungeliebte Amt des Bundestagspräsidenten übernehmen, seine scharfe Zunge etwas zügeln - neben einem katholischen Kanzler verlangt das der Konfessionsproporz. Adenauer wird er wiederholt bis zur Weißglut reizen. Seine Vorstöße hin zu einem Friedensvertrag, zu einer Verständigung mit der UdSSR über die deutsche Frage - bei gleichzeitiger, bis ans Lebensende durchgehaltener erbitterter Ablehnung der DDR als "Verbrecherregime" -, auch die Aufwertung West-Berlins als Tagungsort des Parlaments, seiner Ausschüsse sowie der Bundesversammlung irritierten den Kanzler heftig. "Sie sehen mich ja so haßerfüllt an", wird ihm der alte Herr aber auch ganz unschuldig 1959 ins Gesicht sagen, nachdem er seine Kandidatur für das Bundespräsidentenamt zurückgezogen und Gerstenmaier zornig dagegen protestiert hatte.

Daß Gerstenmaier die Sitzungsperiode vor der Bundestagswahl 1961 mit einer außenpolitischen Grundsatzrede beschloß, die im Kern eine Kandidatenrede war, um sich als Adenauers Nachfolger zu profilieren, fand der Amtsinhaber gleichfalls mehr als deplaciert. Allerdings täuscht sich Daniela Gniss, wenn sie meint, das Verhältnis zwischen diesen beiden knorrig-kantigen Gründerzeitgestalten sei letztlich unheilbar zerrüttet gewesen. Bis zum Schluß gilt wohl, was der kluge Heinrich Krone am 28. Januar 1958 in sein Tagebuch schrieb: "Ein eigenwilliger Kopf, dieser Gerstenmaier. Einer, der Mut hat, und, wenn es geboten ist, den Kopf auch hinhält. Er ist nicht in allem mit dem Kanzler einig. Im Grunde liegt er aber auf der gleichen harten Linie."

DANIEL KOERFER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als einen der "Gründerväter der Bundesrepublik" und eine "der Schlüsselfiguren der langen Ära Adenauer" würdigt Rezensent Daniel Koerfer den Politiker Eugen Gerstenmaier (1906-1986). So begrüßt er auch das Unterfangen, ihn in den Mittelpunkt einer biografischen Studie zu stellen, zumal Gerstenmaier zunehmend in Vergessenheit gerate. Daniela Gniss' Biografie des Politikers allerdings hat Koerfer dann allerdings eher enttäuscht. Eine wirkliche Annährung an Gerstenmaier kann er bei dieser "schwachen Biografie" nicht erkennen. Zu seinem Bedauern räumt die Autorin nicht einmal den eigenen Worten des Politikers Platz ein. Keine längere Passage aus einer seiner zahlreichen Reden, seiner zahlreichen, meist pointierten Briefe finde sich im Text wieder. In der Konsequenz bleibt nach Koerfers Ansicht manches "konturlos und neblig". Ausführlich schildert er dann Gerstenmaiers Weg in die Politik und geht insbesondere auf dessen Beteiligung am gescheiterten Attentat vom 20. Juli ein.

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