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Produktdetails
  • Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd.137
  • Verlag: Droste
  • Seitenzahl: 442
  • Deutsch
  • Abmessung: 230mm
  • Gewicht: 750g
  • ISBN-13: 9783770052554
  • ISBN-10: 3770052552
  • Artikelnr.: 12430230
Autorenporträt
Siegfried Weichlein, geb. 1960; ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Werke zur deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders zur Nationalismusforschung, Geschichte der Parteien und Wahlen sowie Geschichte der christlichen Kirchen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2005

Verlierer zu Siegern
Wie sich Bayern und Sachsen in das Bismarck-Reich integrierten

Siegfried Weichlein: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarck-Reich (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 137). Droste Verlag, Düsseldorf 2004. 442 Seiten, 58,- [Euro].

Daß Nationen nicht sind, sondern werden, gehört inzwischen zu den Gemeinplätzen der historischen Forschung. Die deutsche Geschichtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts sah das noch anders und deutete die politische Geschichte Deutschlands als Ringen der seit Jahrhunderten existierenden deutschen Nation um staatliche Ordnung und Machtentfaltung nach außen. Auf den Gestaltungsspielräumen der Einzelstaaten zu beharren, die sich 1867 zum Norddeutschen Bund und 1871 zum Deutschen Reich zusammenschlossen, erschien aus der Sicht vieler Nationalliberaler als rückwärtsgewandter Partikularismus.

Die Gleichsetzung von Tradition und Einzelstaat griffen Gegner einer Stärkung der Reichsgewalt gerne auf, obwohl im Rheinbund wie im Deutschen Bund die Regierungen vieler deutschen Staaten die Modernisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft vorangetrieben hatten. Im neuen Deutschen Reich schien dies anders geworden zu sein, beschleunigter Wandel galt als Domäne des Nationalstaats. Siegfried Weichlein zeigt dagegen in seinem Buch, daß die Rollen von Nation und einzelstaatlicher Region während der Bismarck-Zeit wesentlich differenzierter zu beurteilen sind. Er greift die von Dieter Langewiesche geprägte Formulierung vom "Parterre der Gesellschaft" auf und verfolgt den Wettbewerb zwischen Nation und Regionen um die Loyalität ihrer Bürger. Weichlein sieht die Ausformung von Nation und Region als Integrationsprozesse, die sich wechselseitig beeinflußten und in deren Verlauf beide grundlegend verändert wurden. Auch regionales Eigenleben unterliegt dabei dem Wandel.

Als Beispiele wählt Weichlein Bayern und Sachsen, also zwei Territorien, die sich noch heute mit eigenstaatlicher Tradition schmücken. Die Dynamik der Integrationsprozesse zeichnet er auf drei Feldern nach: soziale Kommunikation, Nationbildung durch Recht und Konsensstiftung in Volksschulen sowie in politischen Feiern stehen im Zentrum der Untersuchung. Die Ausweitung und Verdichtung der sozialen Kommunikation analysiert Weichlein anhand der Eisenbahn und der Post. Das Bahnwesen blieb, trotz der Anpassung an die Bedürfnisse der sich entfaltenden Industriegesellschaft, weitgehend eine Domäne einzelstaatlicher Institutionen. Die Eisenbahnhoheit ließen sich die deutschen Staaten nicht nehmen. Das Postsystem stand dagegen, trotz aller süddeutschen Widerborstigkeit, weit stärker im Zeichen des Nationalstaats. Reichsweite Tarife und - außer in Bayern und Württemberg - einheitliche Briefmarken, Bedienstete der Reichspost auch in kleinen Ortschaften und ein Netz neuer Postgebäude mit einem gemeinsamen architektonischen Programm führten den Bürgern den Kommunikationsraum "Nation" vor Augen.

Besonders eng verbunden mit liberalen Hoffnungen in den neuen Nationalstaat war die Herstellung der Rechtseinheit. Die gesetzliche Garantie der Freizügigkeit bei der Wahl des Wohnortes galt als wichtiger Schritt auf diesem Weg. In der Praxis bewahrten sich die Einzelstaaten dennoch rechtliche Steuerungsinstrumente. Nicht nur in der Armenfürsorge, auch bei der Ausgrenzung der politischen Opposition fanden ältere, einzelstaatliche Normen neue Verwendung. Weichlein macht deutlich, wie zentrale innenpolitische Auseinandersetzungen im Bismarck-Reich mit regionalen Konfliktmustern zusammenspielten. Oppositionelle Bewegungen in den Einzelstaaten wurden, das zeigten die Sozialistengesetzgebung in Sachsen und der Kulturkampf in Bayern, dazu gedrängt, sich stärker als weltanschaulich-politische Strömung im nationalen Rahmen zu sehen. Die Reform der Verwaltung in den Einzelstaaten interpretiert der Autor ebenfalls als Integrationsprozeß. Da eine eigene Reichsverwaltung nur für wenige Bereiche existierte, blieb die administrative Umsetzung der Reichsgesetze meist den Einzelstaaten überlassen. Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene stand wiederum in enger Verbindung zur Staatsverwaltung, indirekt auch zum Reich.

Konsensstiftung bedarf nicht nur institutioneller Arrangements, sie kommt nicht ohne Symbole aus. Gerade dieser Aspekt der Nationalstaatsgründung gehört zu den bevorzugten Feldern kulturgeschichtlicher Forschung. Weichlein stellt eher administrative und politische Strukturen und deren Wandel in den Mittelpunkt, bezieht jedoch politische Feiern und monarchischen Kult in seine Untersuchung ein. Auch bei den Lehrplänen der Volksschulen, denen eine Schlüsselfunktion als kulturelle Vermittlungsinstanz zwischen Staatsgewalt und Bürgern zukam, fragt er nach den Beziehungen zwischen regionalen und nationalen Loyalitäten.

Sachsen wie Bayern zählten zu den Verlierern von 1866, aber auch zu den Siegern von 1870/71. Die Integration der eigenen, auf den Einzelstaat bezogenen Geschichte in die Deutungsmuster der Nationalhistoriographie wurde, so urteilt Weichlein vor allem im Hinblick auf den Geschichtsunterricht, durch die "Kulturalisierung der Region" erleichtert: Statt Machtpolitik und Herrscherpersönlichkeiten sollte die kulturgeschichtliche Deutung der bayerischen und der sächsischen Geschichte veranschaulicht werden. Der preußische Sieg von 1866 verlor dadurch an geschichtspolitischer Brisanz.

Ganz bewußt hat Weichlein den zweiten Pol des Integrationsprozesses neben der Nation als "Region", nicht als "Einzelstaat" bezeichnet. Das Institutionengefüge, aber auch die in Sedanfeiern und Monarchenkult veranschaulichte politische Kultur Deutschlands im Bismarck-Reich rechtfertigen diese Begriffswahl nur sehr bedingt. Allerdings eröffnet sich Weichlein dadurch die Möglichkeit zum Vergleich des von ihm analysierten Wandels mit den Integrationsprozessen in anderen Staaten. Er möchte mit seiner Studie, die sich in weiten Teilen als gelungener Versuch lesen läßt, Verwaltungsgeschichte als politische Geschichte zu betreiben, außerdem zur aktuellen Debatte um die Entwicklungschancen der Europäischen Union beitragen. Integration nicht als Nullsummenspiel zwischen Mitgliedsländern und Union, europäische Identität als "Ergebnis einer Beziehungsgeschichte zwischen der Europäischen Union und den historischen Nationalstaaten" - Weichleins Interpretationsangebote sind sehr sympathisch. Ob aber der Nationalstaat im 19. Jahrhundert trotz seiner "Unwahrscheinlichkeit" (Weichlein) zum dauerhaften Identifikationspunkt geworden wäre ohne das Erlebnis des gemeinsamen Sieges über Frankreich?

GÜNTHER KRONENBITTER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als sympathischen und gelungenen Versuch, Verwaltungsgeschichte als politische Geschichte zu betreiben, lobt Rezensent Günther Kronenbitter diese Studie zur Rolle einzelstaatlicher Regionen in Bismarcks Deutschem Reich. Auch sieht er darin einen Beitrag zur aktuellen Debatte um die Entwicklungschancen der Europäischen Union. In seiner Studie beschreibe Siegfried Weichlein die Ausformung von Nation und Region als einen sich wechselseitig beeinflußenden Integrationsprozess. Als Beispiele wähle er mit Bayern und Thüringen zwei Territorien, die sich noch heute mit eigenstaatlichen Traditionen schmücken würden. Der Autor stelle administrative und politische Strukturen samt deren Wandel in den Mittelpunkt, lesen wir. Auch beziehe er politische Feiern und monarchischen Kult in seine Untersuchung ein und verfolge so die Integration regionaler Geschichte in die Deutungsmuster der Nationalhistorie.

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