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Die Leningrader Blockade durch deutsche Truppen während des Zweiten Weltkriegs dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. In dieser Zeit verloren über eine Million Bewohner der Stadt ihr Leben, meist verhungerten sie, da durch die Blockade die Versorgung Leningrads nicht mehr gewährleistet werden konnte. In seinem bewegenden Tagebuch notiert Pawel Salzman den Alltag, den Hunger, die Kälte, die Bombeneinschläge, aber auch die Strategien des Überlebens und die grausamen Vorwürfe, die er sich macht, weil seine Eltern verhungerten, während er, seine Frau und seine kleine Tochter am…mehr

Produktbeschreibung
Die Leningrader Blockade durch deutsche Truppen während des Zweiten Weltkriegs dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. In dieser Zeit verloren über eine Million Bewohner der Stadt ihr Leben, meist verhungerten sie, da durch die Blockade die Versorgung Leningrads nicht mehr gewährleistet werden konnte. In seinem bewegenden Tagebuch notiert Pawel Salzman den Alltag, den Hunger, die Kälte, die Bombeneinschläge, aber auch die Strategien des Überlebens und die grausamen Vorwürfe, die er sich macht, weil seine Eltern verhungerten, während er, seine Frau und seine kleine Tochter am Leben geblieben sind. Sein Blockadetagebuch zeichnet sich trotz späterer Überarbeitung durch große und eindrückliche Unmittelbarkeit aus. Bei aller Entsetzlichkeit des Geschehens - die Leningrader Blockade, in Deutschland noch viel zu wenig im öffentlichen Bewusstsein präsent, zählt zu den grausamsten Verbrechen der Wehrmacht - verzichtet Salzman auf eine drastische Darstellung und legt den inneren Kampf offen, Mensch zu bleiben unter unmenschlichen Umständen.
Autorenporträt
Pavel Salzman (¿¿¿¿¿ ¿¿¿¿¿¿¿¿), 1912 in Kischinjow, Moldawien, geboren, wuchs zunächst in Odessa auf. Die Familie zog nach dem Russischen Bürgerkrieg durch Südrussland, die Ukraine und Moldawien und ließ sich 1925 in Leningrad nieder. Hier lernte Salzman Pawel Filonow, einen Protagonisten der russischen Avantgarde, kennen, dessen Kunstauffassung ihn nachhaltig prägte. Er begann als Filmausstatter und Illustrator zu arbeiten, schuf Mosaike an Gebäudefassaden, malte, zeichnete und schrieb Gedichte sowie zahlreiche Erzählungen, Erinnerungen, Tagebücher und Romane. Salzman starb 1985 im Alter von 73 Jahren.  
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.2022

Gefangen im teuflischen Labor
Pawel Salzmans Aufzeichnungen während der Blockade Leningrads

Die Belagerung einer Stadt ist einer der sich wiederholenden Schrecken der Geschichte und ein festes Motiv der Überlieferungen, von der Ilias bis zu, sagen wir, dem beeindruckenden Bericht von Dzevad Karahasan von der Belagerung Sarajevos ("Tagebuch der Übersiedlung"). Man darf Leiden nicht vergleichen, doch ist die Blockade Leningrads durch die Truppen der Wehrmacht von September 1941 bis Januar 1944, die mehr als eine Million Todesopfer forderte, eine einmalige Erscheinung, weil ihr erklärtes Ziel nicht die Eroberung der Stadt war, sondern die Vernichtung der gesamten Bevölkerung.

Die Blockade-Aufzeichnungen Pawel Salzmans (1912 -1985) sind kurz, dicht und schonungslos - er schont in erster Linie sich selbst nicht, geplagt von der Schuld des Überlebenden (die immer eindringlicher ist als die Schuld der Täter), getrieben von dem Bedürfnis, über die Erfahrung, die außerhalb des Formulierbaren liegt, Zeugnis abzulegen.

Oft werden Katastrophen zuerst als "unmöglich" wahrgenommen. Man glaubt nicht daran, bis man sich plötzlich mitten in der Hölle wiederfindet. Salzman zeigt, wie sich die Hölle zuerst langsam und dann blitzschnell entfaltet: die ersten Bomben, die ersten Schwierigkeiten mit Lebensmitteln. Schon bald übersteigt die Realität alle Befürchtungen. Im ersten Blockade-Winter verhungern Salzmans Eltern. Er selbst, seine Frau und die 1940 geborene Tochter Lotta überleben und werden im Sommer 1942 nach Kasachstan gebracht. Kurz danach rekonstruiert er den vernichtenden Alltag, versucht, das festzuhalten, was sich jeder Beschreibung entzieht.

Auch abgesehen von der Belagerung ist Salzmans Lage doppelt gefährdet: Als Jude (mütterlicherseits) wäre er von den Deutschen vernichtet worden, als Deutscher (väterlicherseits) ist er für die Sowjetbehörden ein potentieller Feind. Er fühlt sich für die Familie verantwortlich, wird, wie er im Nachhinein reuevoll meint, tyrannisch. Man wird entkräftet, gleichgültig, die Realität wird irreal. Salzman erinnert sich, wie sie die kleine Lotta, die frische Luft brauchte, für ein paar Stunden unterm Fenster im Hof ließen und hin und wieder auf sie blickten, "für einen Moment [dachten wir], sie könnte geraubt und gegessen werden, und das erschien uns entsetzlich, aber wir vergaßen es sofort wieder".

Salzmans Aufzeichnungen machen etwas Wichtiges deutlich: In der blockierten Stadt wird man zu einem fast nicht reflektierenden Organismus, einem Versuchstier in einem teuflischen Labor: Wie lange kann der Mensch Mensch bleiben, wenn er in solchem Maße der Deprivation ausgeliefert wird, dass das ganze Dasein auf Hunger, Kälte, Erschöpfung, Versagen körperlicher Funktionen reduziert wird? Die Familie wird zu einer Einheit, die fast zu einem einzigen gequälten und selbstquälenden Organismus verschmilzt. Selbst wenn man weiterhin für die anderen sorgt und alles teilt, verändern sich die Umgangsformen, was man im Nachhinein nicht begreifen kann und unendlich bereut: "Ich war stumpfsinnig geworden und verstand nichts." Die Deutlichkeit, mit der Salzman all das ausspricht, stellt die Erinnerungen in eine Reihe mit den Blockade-Aufzeichnungen von Lydia Ginsburg, die klar und scharf die Entmenschlichung des Alltags und der zwischenmenschlichen Beziehungen analysiert.

Schuld und Reue ist einer der Haupttopoi der Blockade-Literatur. Für Salzman ist das auch eine Glaubenskrise, die Menschen litten, wie es sich "der angenagelte Idiot an seinem Kreuz" nicht hatte erträumen können. Die Fragen der Überlebenden: Wie weiterleben mit der Schuld? Mit dem Verlust des Glaubens (an Gott; an die Menschen; an den Fortschritt)? Wie darüber sprechen?

Die Frage nach der Sprache für diese Grenzerfahrung stellt sich Schriftstellern Leningrads/Petersburgs unausweichlich und immer wieder. Die Rezensentin ist in dieser Stadt als Nachgeborene aufgewachsen. Es gab offizielle heroische Narrative; es gab die Unmöglichkeit, etwas Essbares wegzuwerfen; es gab Schreckensgerüchte von Kannibalismus; es gab schwarzen Humor und Witze über Dystrophiker. Erst langsam wurden literarische Zeugnisse sichtbar, die auf die unvorstellbaren Schrecken mit einer unvorstellbaren Sprache antworten, darunter Gennadij Gor, dessen Blockade-Gedichte Peter Urban entdeckt und ins Deutsche übersetzt hat. Dann Salzman, dessen literarisches Werk zu Sowjetzeiten keine Chancen hatte und erst im 21. Jahrhundert publiziert wurde. Die Entdeckungen gehen weiter. Das kundige Nachwort zu Salzmans Erinnerungen hat die in Amerika lebende russische Dichterin Polina Barskova geschrieben, die über die Blockade-Literatur forscht und sich auch in ihrem eigenen Schreiben mit der Blockade beschäftigt. Die Übersetzerin Christiane Körner kennt sich mit den formalen und inhaltlichen Schwierigkeiten sowohl von Salzmans Stil als auch von Blockade-Sprache gut aus und hat sie wieder einmal meisterhaft bewältigt.

"Das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert 'noch' möglich sind, ist kein philosophisches", schrieb Walter Benjamin 1940. Dass auch das 21. Jahrhundert vor nichts sicher zu sein scheint, verleiht Salzmans Aufzeichnungen eine zusätzliche Bedeutung (die sie eigentlich nicht gebraucht hätten). OLGA MARTYNOVA

Pawel Salzman: "Erinnerungen an die Blockade". Mai 1941- Februar 1942.

Aus dem Russischen von Christiane Körner. Friedenauer Presse, Berlin 2022.

114 S., br., 18,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Olga Martynova geht mit Pawel Salzman in eine Zone des Daseins, wo das Menschsein sich auf Hunger, Kälte, Erschöpfung reduziert. Salzmans Aufzeichnungen aus der Zeit der mörderischen Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht sind für sie eine Lektüre am Rand des Sagbaren, die alles Denkbare überschreitet und zeigt, dass der Mensch in so einer Ausnahmesituation seine Fähigkeit zur Reflexion fast verliert. Dass auch die Sprache eine andere wird, gibt die Übersetzung von Christiane Körner laut Martynova meisterhaft wieder.

© Perlentaucher Medien GmbH