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Produktdetails
  • Jiddische Bibliothek
  • Verlag: Müller (Otto), Salzburg
  • Seitenzahl: 171
  • Abmessung: 13mm x 142mm x 210mm
  • Gewicht: 344g
  • ISBN-13: 9783701310135
  • ISBN-10: 3701310130
  • Artikelnr.: 24660877
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2001

Und redete zu allen Winden
Eine Weltreise: Der jiddische Erzähler Lamed Schapiro

Das zwanzigste Jahrhundert war die Blütezeit der jiddischen Literatur. Ihre drei Klassiker - Mendele Mokher Seforim, Schalom Aleichem, J. L. Peretz - starben während des Ersten Weltkriegs, und gegen Ende des Jahrhunderts erhielt Bashevis Singer für sie den Nobelpreis. Zwischen Oktoberrevolution und faschistischer Bedrohung, zwischen Europa und dem Zufluchtsland Amerika stellt diese allmählich sterbende Sprache eine Gesellschaft im Untergang dar. An dem erstaunlichen Reichtum, den sie dabei entwickelt, läßt der Otto Müller Verlag jetzt den deutschen Leser in seiner "Jiddischen Bibliothek" ein wenig teilnehmen.

Mit den ausgewählten Erzählungen Lamed Schapiros legt Armin Eidherr, der Herausgeber und Übersetzer der Reihe, ihren fünften Band vor. Schapiro (1878 bis 1948) kam in der Ukraine zur Welt, veröffentlichte seit 1903 seine ersten Texte in Warschau, floh 1906 vor den Pogromen in Kischinew nach Amerika, kehrte 1909 noch einmal nach Warschau zurück, wanderte aber bereits 1911 endgültig aus; die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte er in New York und Los Angeles, wo er bald nach dem Zweiten Weltkrieg in Armut verstarb.

Schon diese wenigen Daten zeigen die Pendelbewegung eines Menschen an, der seine alte Heimat verloren hat und keine neue finden kann. Teilweise mag das in der Wahl seiner Sprache begründet sein: Jüdische Dichter und Schriftsteller wie Uri Zwi Greenberg und Samuel Joseph Agnon, die sich zur Einwanderung nach Palästina entschlossen, begannen naturgemäß hebräisch zu schreiben; das Jiddische dagegen ist immer ein Exilphänomen geblieben.

Man darf sich aber nicht täuschen. Auch Agnon, zehn Jahre jünger als Schapiro und Israels späterer Nobelpreisträger, hat sein hebräisches Werk nicht dem zionistischen Aufbau gewidmet, sondern dem Untergang des europäischen Judentums; und die Melancholie dieses aus Galizien stammenden Autors erwächst keineswegs nur aus dem Holocaust. Sie ist tief in einer Kultur verankert, deren Ausdruck man als die europäische Herbstliteratur bezeichnen darf. Ihre Spuren sind über das ganze Jahrhundert verteilt und finden sich bei dem aus Polen stammenden englischen Schriftsteller Joseph Conrad und dem Österreicher Robert Musil, bei dem Serbokroaten Ivo Andric, dem Italiener Alberto Moravia, dem Böhmen Milan Kundera. Und immer wieder bei den Juden: dem Hebräer Agnon, den Galiziern Joseph Roth und Bruno Schulz, bei dem Tschechen Franz Kafka und dem Bulgaren Elias Canetti, bei Paul Celan aus der Bukowina.

Zu den zahlreichen jiddischen Autoren dieser Herbstliteratur gehört Lamed Schapiro, und die Auswahl aus seinem Werk zeigt sehr deutlich, wie eine Kultur und die von ihr geprägte Gesellschaft ihren Boden verlieren. Nur eine der fünf Erzählungen scheint noch in einer traditionellen Gemeinde zu spielen. Schon ihr Titel indessen, "Izikl Bankert", deutet an, wie sehr ihre Symbole unterhöhlt sind. Die Geburt des Isaak, Abrahams Sohn, begründete einst den jüdischen Gottesbund, hier aber tritt sein Nachfahre - ein elternloser Junge, der sich ins Bethaus stiehlt, um ein Dach über dem Kopf zu haben - als Bastard auf: eine Rücknahme der göttlichen Provenienz, mit der auch der transzendente Schutz der Gemeinde aufgekündigt ist.

Lamed Schapiro beschreibt ein vogelfreies Judentum. Die Erzählung "Das jüdische Land", in deren Titel man einen zionistischen Unterton vermuten könnte, ist in Wirklichkeit das Epos einer Massenflucht. Die Juden werden vertrieben, auf den Straßen einer unbestimmten Landschaft wachsen sie zu Menschenströmen an, einige Schicksale werden herausgehoben und gehen unter, am Ende stellt sich die alte Haushälterin des Rabbiners an die Spitze des Stroms: "Und da bahnte sich durch die Schar eine alte Frau den Weg und schritt ihnen allen voran. Das durchnäßte Kleid klebte am langen, knochigen Körper, die mageren Beine stelzten hölzern wie Krücken, der Kopf war etwas gebeugt, und zwei Augen - wie finstere Löcher - durchdrangen die Halbfinsternis. Die ganze Gestalt wirkte seltsam und lächerlich wie ein alter zerrupfter und zerzauster Strolch. - Der Jude mit dem Bart sah ihr mit offenstehendem Mund nach und schritt wie ein Automat hinter ihr drein. Die Leute setzten sich in Bewegung. - Feuersäulen tanzten über den Himmel hin, wirbelten durcheinander und warfen sich von Horizont zu Horizont. Die alte Frau schritt voran, gestikulierte und redete zu allen Winden."

Spätestens an den Feuersäulen wird deutlich, daß wir eine apokalyptische Version des Auszugs aus Ägypten vor uns haben. Seit der Jahrhundertwende verwandelt sich die jiddische Volkssprache in den Händen einer literarischen Avantgarde zur ästhetischen Kunstsprache, und Schapiro ist ein bedeutender Vertreter dieser Tendenz. Die Titelgeschichte "In der toten Stadt" beschreibt ein Mädchen, das auf einem Friedhof ihr glückliches Leben führt, weil es mit den Toten in magischer Verbindung steht. Erst am Ende bricht die Wahrheit durch: In den Gräbern liegen die Opfer eines Pogroms - unter ihnen auch die Mutter des Mädchens, das dieses traumatische Ereignis verdrängt hat.

Der messianische Ausdruck, die Wiederauferstehung der Toten, wird zur Katastrophe. Lamed Schapiro verwendet noch einmal die Elemente der Eschatologie und hinterfragt sie. Vordergründig beschreibt die Erzählung "Auf dem Meer" eine Auswanderung nach Amerika, die Schiffsreise aber wird zur Allegorie mit offenem Ende: Der göttliche Schutz ist verlorengegangen, und ob die Kinder Israel einer Erlösung entgegenfahren, bleibt zweifelhaft.

Amerika ist auch der Schauplatz des Textes, der als Schapiros bekannteste Erzählung gilt. In "Das Kreuz" trampen zwei Juden auf Eisenbahndächern durch das weite Land, und einer von ihnen erzählt, wie es ihm in Rußland ergangen ist. Schapiro arbeitet hier mit einem literarischen Zitat: Auch viele Geschichten Schalom Aleichems spielen in der Eisenbahn, einen Teil ihrer Effekte gewinnen sie aus der Ruhelosigkeit des reisenden Juden. Nichts in dieser vorgetäuschten Tradition aber bereitet auf die Katastrophe vor, die Schapiro wie einen Albtraum auf den Leser zukommen läßt - er erzählt eine Pogromgeschichte von mythologischer Gewalt, in der aller Wahnsinn der jüdischen Existenz noch einmal zusammengefaßt ist.

Und ein letztes Mal auch alle Hoffnung. Der Erzähler plant, in seine Heimatstadt zurückzukehren, um noch einmal von vorne zu beginnen. "Es wird eine Generation eherner Menschen kommen", heißt es am Ende. "Und die werden das weiter aufbauen, was wir zu zerstören zugelassen haben": Schapiros Pendelbewegung zwischen der Alten und der Neuen Welt wird zum Paradox seiner Erlösungssehnsucht.

JAKOB HESSING

Lamed Schapiro: "In der toten Stadt". Fünf jiddische Erzählungen. Aus dem Jiddischen übersetzt von Armin Eidherr. Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien 2000. 270 S., geb., 38,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Jacob Hessing sendet zunächst ein großes Lob an den Otto Müller Verlag, der den Leser mit diesem Band an dem "erstaunlichen Reichtum" der jiddischen Literatur teilhaben lässt, eine Literatur, die ihre Blütezeit in den ersten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts erlebte. Die Auswahl der Texte legt nach Hessing Zeugnis darüber ab, wie die jiddische Kultur "und die von ihr geprägte Gesellschaft ihren Boden verlieren". So ist denn - wie der Leser erfährt - auch nur eine dieser Erzählungen in einer traditionellen jüdischen Gemeinde angesiedelt. Themen sind nach Hessing vor allem Auswanderung, Massenflucht, Pogrome, Rast- und Ruhelosigkeit, die "Pendelbewegung zwischen der Alten und der Neuen Welt", die sich auch in Shapiros eigener Biografie widerspiegelt.

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