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Lily Bloom ist 66 im Jahre 1988, und sie liegt mit Krebs in einem Londoner Krankenhaus. Während ihre beiden Töchter um sie herumschwirren - Natasha, ein verkommener Junkie, und Charlotte, eine spießige Hausfrau - und die Krankenschwestern sie mit Morphium vollpumpen, hält sie überhaupt nicht wehmütig Rückschau auf ihr verpfuschtes Leben und wettert delirierend gegen Gott und die Welt. Für soviel Haß scheint die Zeit zu knapp zu sein, denn in der Ecke wartet schon ein australischer Aborigine, der sie ab und zu daran erinnert, daß er sie über den Styx geleiten und als Bezahlung gern ihr Gebiß…mehr

Produktbeschreibung
Lily Bloom ist 66 im Jahre 1988, und sie liegt mit Krebs in einem Londoner Krankenhaus. Während ihre beiden Töchter um sie herumschwirren - Natasha, ein verkommener Junkie, und Charlotte, eine spießige Hausfrau - und die Krankenschwestern sie mit Morphium vollpumpen, hält sie überhaupt nicht wehmütig Rückschau auf ihr verpfuschtes Leben und wettert delirierend gegen Gott und die Welt. Für soviel Haß scheint die Zeit zu knapp zu sein, denn in der Ecke wartet schon ein australischer Aborigine, der sie ab und zu daran erinnert, daß er sie über den Styx geleiten und als Bezahlung gern ihr Gebiß akzeptieren wird.
Welche Überraschung, als das Leben danach einfach weitergeht! Lily muß sich zwar den Regeln der Todokratie unterwerfen und in einen öden Vorort Londons ziehen, aber zumindest wird das Rauchen sie nicht mehr umbringen. Ja, und sie ist nicht allein: Ihr Sohn aus erster Ehe, der mit neun Jahren durch ihre Schuld starb, begleitet sie fluchend und schreiend überallhin, um ihre Füße wuselt »Lithy«, ein versteinerter Embryo, der ständig Songs aus den 70ern trällert, und zu Hause warten »die Fetten«, ein Amalgam sämtlicher Pfunde, die sie je ab- und zugenommen hat...
Will Selfs emotionalster und zugleich schwärzester Roman ist eine brillante Satire auf das Leben im allgemeinen und den Tod im besonderen und Lily Blooms innerer Monolog eine wütende, scharfsinnige Abrechnung mit dem zwanzigsten Jahrhundert.
Autorenporträt
Will Self, geb. 1961 in London, studierte in Oxford, gründete eine Punkband, arbeitete als Journalist und Kartoonist, 1991 veröffentlichte er sein erstes Buch. "Die Quantitätstheorie des Irrsinns", wurde für den John Llewellyn Rhys Prize nominiert, erhielt 1992 den Geoffrey Faber Memorial Prize, kam 1993 auf die Granta-Liste der 20 besten jungen Autoren Großbritanniens.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.10.2002

Im Hades ist die Hölle los
Und was Will Self im Jenseits sieht, ist nicht schön, aber lustig: „Wie Tote leben”
Lily Bloom ist Zynikerin, Kettenraucherin und tot. Aber das stört sie nicht weiter, denn das Leben ist nicht nur eine Plage, sondern auch nicht tot zu kriegen. Lily ist im Alter von sechsundsechzig Jahren an Krebs verstorben. Aber was heißt schon verstorben? Nach dem Tod geht eigentlich alles so weiter wie gehabt. Sartre irrte, das Spiel ist niemals aus. Das Totenreich erweist sich als ein grauer Londoner Vorort, zu dem man direkt vom Totenbett in einem Taxi chauffiert wird. Der Hades ist Suburbia, wo Spießer ihren shampoonierten Zerberus Gassi führen und sich nicht die Bohne dafür interessieren, ob sie selbst oder der neue Nachbar überhaupt noch leben. Beste Wohnlage für Zombies. Und das Schönste: Man kann nach dem Krebstod gleich weiterrauchen.
Das Jenseits ist so bürokratisch wie ein Einwohnermeldeamt. Die verwaltete Welt der Toten heißt Todokratie, riecht nach ranzigem Prittstift, muffigen Stempelkissen, kaltem Beamtenkaffee und äonenaltem Staub auf Gummibaumblättern. Hier gibt es Wartesäle mit Nummern und wahrscheinlich auch noch einen Pirelli-Kalender aus dem Paläolithikum. Das Jenseits ist ein verflixtes Büro. Die Toten werden von mystischen Fachkräften in ihr neues Zuhause zwischen neonbleicher Nachttankstelle und Asia-Markt eingewiesen. Diese Totenführer sind verstorbene religiöse Zeremonienmeister besonders ursprünglicher Zivilisationen: Schamanen, Derwische oder Voodoo-Priester – Damen und Herren mit traditionell guten Beziehungen zur Geisterwelt. Lilys Psychopomp ist der australische Aborigine Pha Lap, der über eine stattliche Kollektion von Zauberstäben und Bumerangs verfügt und der frisch Verstorbenen gezischte Weisheiten ohne rechte Bodenhaftung vermittelt. Wenn dieser australische Hermes und Traumpfadfinder nicht gerade an Lilys kompletter jenseitiger Desorientierung arbeitet, eröffnet er ethnologische Themen- Restaurants für Londoner Yuppies auf der Suche nach dem letzten Schrei, den sie beim Anblick von huschenden Echsen und gegrillten Heuschrecken dann auch begeistert ausstoßen.
Mit Lilys wütendem inneren Monolog aus dem Jenseits ist dem englischen Autor Will Self eine sehr komische, phantasiereiche und verdrehte Groteske gelungen. Selfs Humor ist so schwarz wie Lilys Raucherlunge. Das Diesseits bricht sich im Zerrspiegel des Jenseits, und was man sieht, ist nicht schön, aber lustig. In ihrer existentiellen Wut, ihrer Empörung über ihr schmerzhaftes Krebsleiden und ihrem tiefen Ekel vor dem brodelnden Schwachsinn der Welt steigert sich die Erzählerin in eine inspirierte Hysterie, vor der nichts und niemand sicher ist. Lily Blooms innerer Monolog ist eine zeitgenössische Version von Molly Blooms Gedankenstrom in James Joyces „Ulysses”. Doch was bei Molly eher Ballade ist, gerät Lily zu bissigem, rotzigem Punk. Diese biestige Tote ist beseelt vom polemischen Furor. Sie gehört zu jenen Toten, denen man die große Klappe extra totschlagen muss. Mit ihrer apokalyptischen Suada scheint sie alle gottverdammten Teletubbies, Handy- Klingeltöne, Nike-Air-Turnschuhe, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und vorläufige Steuerbescheide, alle Seitenairbags, anatomische Fußbetten und Mundduschen ein für alle mal gen Orkus spülen zu wollen. Und sowieso: Ein Leben, in dem es Platz für den Tod gibt, kann nur Mist sein. Der Zynismus wuchert wie die Zyste.
Segelohriger Kriegstreiber
Miss Bloom selig putzt sie alle runter: Ihre Ex-Männer waren Schlappschwänze, und sie meint es genau, wie sie es sagt. Dabei hätte sie sich immer so sehr anzüglichen Sex gewünscht. Aber Gott, sie war ja so fett. Ihre steinreiche Schwester Esther ist ein Aas, Bill Clinton ein aalglatter Hurensohn und Tony Blair ein glubschäugiger Bastard und segelohriger Kriegstreiber. Auch die Juden sind so grauenhaft. Und das Schlimmste: Lily ist selber Jüdin. Der Selbsthass ist noch gefräßiger als jeder Krebs. Auch ihre eigenen Töchter sind nicht zum Aushalten: Charlotte wird immer reicher und ist emotional so zugeknöpft wie ein hochgeschlossenes Priestergewand. Natty ist ein sexy Junkie-Vamp, der Männerherzen ausdrückt wie Heroin-Kanülen und genau so selbstzerstörerisch wie die Mutter ist. Diese Drücker-Braut ist eine unerträgliche Schlampe, die für jeden die Beine breit macht und für ihren nächsten Schuss auch noch das letzte bisschen Selbstachtung verscherbelt. Lily übergießt sie mit Sarkasmus, doch vor allem, vor allem liebt Lily ihre Natty wie nichts anderes auf dieser Welt. Denn natürlich steckt in diesem nikotin- und hassverklebten Biest von Lily eine schöne und empfindsame Seele. Aber das darf keiner wissen.
Will Self schreibt nicht einfach nur eine flotte Satire über Gott und die Welt. Niemals missbraucht er eine Figur als Notnagel für eine kabarettistische Nummernrevue, sondern erschafft das pulsierende Universum einer bewegenden menschlichen Komödie. Alle Figuren haben ein lebendiges Profil. Am lebendigsten sind die Toten. Wer Lily nicht liebt, ist schon lange im Suburbia der Zombies angekommen. Nun könnte man meinen, dass Will Self mit seiner ironischen und sarkastischen Verve, seiner genialisch überhitzten dramaturgischen Phantasie und seinem respektlosen Temperament mit ausreichend literarischen Talenten gesegnet sei. Doch damit nicht genug. Der Autor verfügt auch noch über ein unerschöpfliches Reservoir an originellen Bildern, blitzenden Wendungen, brillanten Formulierungen, sarkastischen Aphorismen und Bon Mots. Es ist, als bräche der Äther des Jenseits Lilys Blick auf die Welt wie ein Prisma und verliehe ihrer Sprache eine besonders schillernde Perspektive.
Will Selfs ruhelose Seelen erinnern ein wenig an die lebenden Toten in Thomas Pynchons großartigem Roman „Vineland”. Und auch Selfs Sprachbilder vibrieren zuweilen recht pynchonesk: „Ich lehne an einem General-Electric- Kühlschrank von einer so surrenden, wummernden, aerodynamischen Art, dass er, würde ich die gummisaugende Tür aufziehen, hineinklettern und es mir zwischen Schüsseln mit gehackter Leber, Päckchen mit Würstchen und schrumpeligen Salatköpfen bequem machen, durchaus abheben könnte zum Verbotenen Planeten.” Ein echtes V2-Bild. In Selfs Roman regiert die gekrümmte, gefältelte und dreifach geloopte Raum-Zeit aller metaphysischen Imperien. So erleben Lilys Töchter Szenen aus der Jugend ihrer Mutter, und Leitmotive wandern durch den Text wie treibende Inseln. Ein besonders schönes variiert das Bild eines Jungen, der selbstversunken Plastikspielzeuge aufeinandertürmt: „Er probierte Auto auf Kuh auf Harmonika, dann Harmonika auf Kuh auf Auto, als erforschte er die Möglichkeiten neuer Hindukosmologien.”
Antrag auf Wiedergeburt
Dieses Bild taucht mehrmals in dem Text auf, als erforschte Self die Möglichkeiten der motivischen Wiedergeburt in seinem literarischen Kosmos der Seelenwanderungen. Dieser poetische, fauchende und röchelnde Text ist in einen originellen Erzählrahmen gebettet: Irgendwann hat Lily genug vom Tod. Ihr Lebenshunger ist unstillbar. Bei der Todokratie stellt sie einen Antrag auf Wiedergeburt. Der wird gerne bewilligt, nur dauert so etwas immer ein bisschen. Lily sitzt also nach Weihnachten, zwischen den Jahren, im Wartezimmer zwischen Leben und Tod und verkürzt sich die Zeit mit der Erzählung ihrer Lebensgeschichte. Schließlich wird sie wiedergeboren. Als Tochter ihrer Lieblingstochter Natty.
Bei Lilys Rundumschlag gegen die Welt bekommt auch die Literatur ihr Fett weg: „In Frankreich schrieb ein armer Vollgelähmter einen ganzen Roman mit einem Augenlid. Und es heißt immer, der Roman sei tot.” Oh nein, solange die Toten aus dem Jenseits noch so lebendig über das Diesseits granteln, ist um den Roman nicht zu bangen. Die letzten drei Worte inklusive der letzten zwei Satzzeichen des Textes resümieren noch einmal Lilys breites psychische Spektrum zwischen Selbsthass und Liebeshunger: „Vergiss mich. Nicht.” Werden wir. Niemals.
STEPHAN MAUS
WILL SELF: Wie Tote leben. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand Literaturverlag, München 2002. 447 Seiten, 24,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

"Hier wird erst dann gelacht, wenn man gar nichts mehr zu lachen hat", fasst Rezensent Joachim Otte das poetische Programm des Romans, in dem Will Self eine tote Frau "von ihrem Leben, ihrem Tod und ihrem Leben nach dem Tod" erzählen lässt. In Ottes Augen hat Self den Zusammenhang von "Witz und Depression" auf "geradezu erschreckende Weise" verinnerlicht, so dass der schwarze Humor auch durch die Seiten dieses Buches "wie ein teeriger Styx" fließt. Das Ganze oszilliere wie immer bei Self "zwischen infantil und bitterböse", meint Otte, sei aber immer geistreich und "meist mit Oxford-Bildung unterfüttert", so dass er dem Autor vorbehaltlos attestieren mag, mit dem Roman einen veritablen "Beitrag zur Wissensbildung über die Profanität des Jenseits" geliefert zu haben.

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