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Nach Belorußland würde Makar Andreas Loth gerne fahren und dort an Kursen für Panzerfahren teilnehmen, doch anstatt aus diesem absonderlichen Wunsch Realität werden zu lassen,schreibt er Briefe an seine ferne Geliebte Elsa. Seinen Beruf kann Loth nicht mehr ausüben, er leidet unter wild wuchernden Ängsten und Schmerzen und befindet sich in der Obhut eines psychiatrischen Krankenhauses. Dennoch: seine Reisen sollen ihn nicht für den Rest seines Lebens ins dunkle Dickicht des Inneren führen. Seine Sehnsucht nach Welt ist robust und unvermindert groß. Auf den ersten Spaziergängen weg von der gut…mehr

Produktbeschreibung
Nach Belorußland würde Makar Andreas Loth gerne fahren und dort an Kursen für Panzerfahren teilnehmen, doch anstatt aus diesem absonderlichen Wunsch Realität werden zu lassen,schreibt er Briefe an seine ferne Geliebte Elsa. Seinen Beruf kann Loth nicht mehr ausüben, er leidet unter wild wuchernden Ängsten und Schmerzen und befindet sich in der Obhut eines psychiatrischen Krankenhauses. Dennoch: seine Reisen sollen ihn nicht für den Rest seines Lebens ins dunkle Dickicht des Inneren führen. Seine Sehnsucht nach Welt ist robust und unvermindert groß. Auf den ersten Spaziergängen weg von der gut mit Psychopharmaka ausgestatteten Krankenstation muß Loth seinen Mut zusammennehmen. Der Himmel über seinem Kopf beginnt sich zu drehen, die Ampeln haben sich von ihren Betonfüßen getrennt und führen eigenwillige Tänze auf. Dieser Vagabund aus Neugierde läßt sich von seiner Unternehmungslust aber nicht abbringen. Schritt für Schritt gewinnt er eine anscheinend bekannte Welt zurück. Er besteigt eisige Berge, fliegt nach Amerika, und als würden sich die Kontinente ineinanderschieben, faucht in New York ein Schneesturm, dem er auf Langlaufski seine ganze Faszination abgewinnt, nachdem ein Südkoreaner am Times Square diesem wunderlichen Fremden seine Ski geborgt hat. Eine Passion beherrscht ihn: Loth schreibt Briefe, lange, nicht enden wollende Briefe an eine Elsa, die ihm schön, erhaben und begehrenswert erscheint, und die er umso mehr anbetet, je weiter er weg von ihr und hinaus in eine Welt gelangt, die abgrundtief merkwürdig ist, aber auch dann noch seine Sehnsucht anstachelt, wenn er am jubelnden Ende seiner Reise angelangt sein wird: auf einem der beiden schlanken Türme des Ulmer Münsters, und vielleicht bei Elsa.
Autorenporträt
Günter Herburger wurde am 6. April 1932 in Isny im Allgäu geboren, studierte Philosophie und Sanskrit in München und Paris. Er lebt in München und wurde zuletzt mit dem Tukan-Preis und dem Münchner Literaturpreis ausgezeichnet. Für seinen letzten Gedichtband Sturm und Stille bekam er 1992 den Peter-Huchel-Preis verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2000

Bewegungstherapie
Günter Herburger läuft wieder ans Ende der Welt

Er lässt keinen Stadtmarathon zwischen Island und Istanbul, keinen Berglauf zwischen Sibirien und der Sahara aus, und den Spartathlon über 246 Kilometer gab er einst, wie er in "Lauf und Wahn" protokollierte, nur widerwillig "im Lager der Halb- und Dreivierteltoten" auf. Günter Herburger, der Marathonmann der deutschen Literatur, läuft und läuft, über Stock und Stein, auf Skiern und mit Bergschuhen, geplagt von Krämpfen und Depressionen, aufgeputscht von körpereigenen Opiaten und marokkanischem Kiff; sein Alter Ego Makar Andreas Loth verschmäht nicht einmal das Asthma- und Dopingmittel Clenbuterol.

Herburger läuft ohne anderes Ziel als die Aussicht auf Solidaritäts- und Extremerfahrungen, die ihn aus der "Leitplankenkultur" heraustragen. Der brave Herdentrott ist seine Gangart jedenfalls nicht, den Sitzriesen und Sesselfurzern zieht er jederzeit die Gesellschaft obdachloser Herumstreuner vor. Aus historischen wie persönlichen Gründen kann er sich nie zur Ruhe setzen: Seine internationalen Gewaltmärsche sind Protestmärsche gegen das Hopphopphopp der Konzentrationslager. "Deutsche können nur in der Fremde glücklich werden, ständig auf der Flucht vor ihrer Geschichte."

So nennt und schreibt Herburger wie ein Hamster im Laufrad, der sich seiner schriftstellerischen und politischen Identität nur in dauernder Bewegung versichern kann. "Nur wenn ich fortwährend alles unter gewissenhafter Beobachtung halte", heißt es in "Elsa", "nimmt die Gewissheit zu, dass die Welt nicht zerspringt." Am Wegrand liest der rasende Pegasus wahllos kulturhistorische Fundstücke, Alltagsdinge, autobiografische Partikel und Reflexionen auf. Aber weil er so hurtig und angespannt zu Fuß ist, immer auf der Hut vor schnappenden Kötern, verständnislosen Zaungästen, physischen und psychischen Zusammenbrüchen, wirken die Bücher des einsamen Langstreckenspezialisten oft merkwürdig zerfahren und atemlos. Seit bald vierzig Jahren hetzt Herburger so hinter dem Ideal einer gerechten Gesellschaft her, in der Raum für das Wissen und die Erfahrungen der Unterprivilegierten wäre; aber die Zeitläufe sind dem utopischen Dauerläufer nicht günstig gesinnt. Auf dem langen Marsch in eine bessere Zukunft verschrieb er sich mal der DKP, mal der kindlichen Empfindung, aber immer einer assoziativen Privatmythologie. Das hat ihn nicht nur aus der Welt bürgerlicher Sekurität und Sesshaftigkeit, sondern auch aus den geregelten Bahnen des Literaturbetriebs herausgetrieben, auch wenn er kürzlich erst den Literaturpreis der Stadt München erhielt.

In Herburgers jüngstem Roman traktiert Loth, ein beruflich gescheiterter und nervlich zerrütteter Getreidehändler, eine ferne Geliebte mit epischen Briefen. Gewärmt von seiner roten Conti-Bettflasche, schreibt er für Elsa Swammerdam auf der Unterlage seines englischen Tabletts auf, was ihm laufend durch den Kopf geht: die erstaunlichen Kraftleistungen des Nashornkäfers und andere Betrachtungen über Flora und Fauna, mathematische und etymologische Probleme, Anekdoten und vermischte Meldungen, Nietzsche und C. G. Jung, die Chemie der Psychopharmaka und die Vorzüge des "deutschen Hochleistungsschäfers mit Lukleinsohlen". Vergessen wir die Gattungsbezeichnung: Der Briefroman ist nur ein Vorwand, um enzyklopädischen Wissensballast abzuwerfen. Gut möglich, dass die Adressatin, die holländische "Tollundfrau", Zahnärztin und Hürdenläuferin Elsa, nur die Halluzination eines delirierenden Läufers ist; oder dass sein Nebenbuhler Hektor, ein schrecklich normaler Tierarzt und Bodybuilder, die Episteln abfängt. Jeder Leser hat Mühe, mit der galoppierenden Gedankenflucht Schritt zu halten.

Loth erhöht laufend Erzähltempo und Aktionsradius. Anfangs befindet er sich, ans Bett fixiert und medikamentös sediert, in einem Fünfbettzimmer der Psychiatrie. Er weiß seine Unfreiheit durchaus zu schätzen: Draußen lauern bloß Gefahren, in seinem Kopf eine "agierende Psychose", Ängste und "Klaustrodepressionen". Aber ein Stadtindianer kennt weder Schmerz noch Verschnaufpause: Nachdem erste Joggingausflüge in München ermutigend verlaufen sind, nimmt er dankbar das Angebot von Doktor Carola Binswanger an, sie im Zuge einer nachsorgenden "Prokrustes"-Bewegungstherapie zum Heilwandern in die Alpen zu begleiten. Während der Patient sich noch mit energischen Bergführern und Klettermaxen aus dem Flachland herumschlägt, kommt die mütterliche Psychiaterin im Gletschereis des Piz Palü abhanden - ein Vorfall, der sich beim marokkanischen Bergmarathon mit Doktor Freja Sotomajor wiederholt: Loth hält sich trotz Atemnot, Steine werfenden Berbern und französischen Mitläufern wacker, seine Begleiterin geht in der Wüste verschollen. Unbeeindruckt von allen Verlusten, streift Loth mit Rucksack, Blockflöte und Skiern durch die winterkalte Bronx, ein Wilder in der Metropole der multikulturellen "Waren-Welt-Vereinigung".

Er findet bei bügelnden Pfarrern und Pennern, bei dem Schriftsteller E. L. Doctorow und gelegentlich auch in Heizungskellern Unterschlupf, lebt aus Mülleimern und verliert doch nie seine "frohe Dackelhaftigkeit" und "wohltuende Lalligkeit". Im Gegenteil. Staunend und befriedigt, beobachtet der Pikaro im Großstadtdschungel, wie die Natur in Gestalt von Wölfen, Gürteltieren, Eskimos und Indianern verlorenes Terrain zurückerobert: "Es ist ermutigend, dass auf einem Hektar Stadt, was Darwin noch nicht wissen konnte, wesentlich mehr Arten als auf einem Hektar Ackerland zu entdecken sind." Am Ende finden wir ihn auf dem Dachstuhl des Ulmer Münsters wieder, wo er unter der Obhut einer barmherzigen Mesnerin Kürzel auf seine Handrücken bis zum Ellenbogen hinaufkritzelt.

Der Abenteurer aus "Ereignisgier und Überlebenswillen" ist ein Grenzgänger jedweder Borderline: Hart am Rande von Schreibzwang und schizophrenem Wahn, macht er von seinen "erworbenen Kulturtechniken" nur sparsamen Gebrauch; um so aufmerksamer beobachtet er aus der Distanz des fremden Außenseiters die Riten der Eingeborenen und Touristen in Berghütten und Kellern. Dass insgesamt drei Frauen tot auf der Strecke bleiben, irritiert ihn nicht weiter: "Das widersinnige, völlig falsch Grundlose ist genial." In einem Interview erzählte Herburger einmal, er habe schon als Kind beim Fußballspielen in Hexametern gesprochen: Hier spricht er in allen poetischen Figuren (einschließlich Palindromen) und in allen Fremdsprachen (außer Bayrisch). Sein Loth übersetzt zum Zeitvertreib das Nibelungenlied und zitiert Koran-Suren wie Karl May. Seine Neugier und lexikalische Gelehrsamkeit machen vor nichts Halt, auch wenn die heterogenen Materialien nur durch ein eher dünnes Band zusammengehalten werden: Tempotaschentücher, Tesafilm, Schweizer Offiziersmesser, Leitz-Ordner und andere Alltagsgegenstände, die er mit längeren Fußnoten bedenkt, sind ja nur insofern miteinander verwandt, als sie just zur Zeit der Niederschrift von "Elsa" ihr hundertjähriges Jubiläum feierten.

Das Inkommensurable zusammenzuzwingen, Wichtiges und Unwichtiges, Kleines und Großes nebeneinander zu stellen, gehörte schon immer zur Poetik Herburgers. Seine Gedichte verglich er einst mit "voll gestopften Schubladen", die klemmen müssen. Voll gestopft ist "Elsa" in der Tat, und manchmal klemmt der Roman auch. So gern man den kauzigen Beobachter und Wortmetz Loth auf seinen Berg-und-Tal-Läufen begleitet, so klaglos man ihm in die unzugänglichsten Schluchten von Atlas, Duden und Syntax folgt: Irgendwann wird der Weg durch "die eiweiche Celanhaftigkeit kariöser Verhältnisse" zu steil und zu lang, die Sprunghaftigkeit des asozialen Vagabunden gar zu anstrengend: Die Anhäufung von nutzlosem Wissen verläuft sich im Unverbindlichen, und die Reiseimpressionen aus dem Land von Lauf und Wahn verwackeln mehr und mehr zu Bildern aus dem Album eines Alternativtouristen, der auf der Suche nach dem Glück keinerlei Disziplinierung seiner ab- und ausschweifenden Fantasie duldet.

MARTIN HALTER.

Günter Herburger: "Elsa". Roman. Luchterhand Verlag, München 1999. 342 S., geb., 42,- DM. DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Am meisten beeindruckt Michael Braun der Mut des Autors Herburger: Auf eine völlig unzeitgemäße Weise weigere sich dieser, den alten romantischen Traum von der "progressiven Universalpoesie" an einen falschen Realismus zu verraten. Und als realistisch kann man den Briefroman wohl nicht bezeichnen, wenn man Braun Glauben schenken kann. Getrieben von einem "utopistischen Schreibfuror" jagt Herburger seinen Helden "durch ein Labyrinth an Phantasmagorien und Halluzinationen, naturwissenschaftlichen Exkursen, autobiografischen Miniaturen und tragikomischen Anekdoten", begeistert sich Braun. Von Nietzsches Hirnbrennen zum Körpergewicht des Nahornkäfers. Na klar: "Herburger schreibt eben eine Prosa der Ausschweifung und der wuchernden Fußnoten, nicht eine der epischen Konzentration und Kohärenz", meint Braun.

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