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Silvester 1999: Fünf Stunden vor dem großen Moment sitzt der Held dieses Romans, eine verkrachte Existenz, der seine besten Tage in den Siebzigern hatte, auf dem Bordklo eines Flugzeugs mit Ziel Berlin. Indianische Gesänge aus dem Walkman und eine Flasche Wodka helfen ihm bei der mentalen Vorbereitung auf seine bevorstehende Aufgabe. Auf einer grossen Silvesterparty für politische Prominenz soll er einen Indianer spielen und die sinnsuchende Gesellschaft mit Zukunftsvisionen beglücken. "Eine grotesk-komische Satire über Kultbewegungen, die Esoterikwelle, die um sich greifende…mehr

Produktbeschreibung
Silvester 1999: Fünf Stunden vor dem großen Moment sitzt der Held dieses Romans, eine verkrachte Existenz, der seine besten Tage in den Siebzigern hatte, auf dem Bordklo eines Flugzeugs mit Ziel Berlin. Indianische Gesänge aus dem Walkman und eine Flasche Wodka helfen ihm bei der mentalen Vorbereitung auf seine bevorstehende Aufgabe. Auf einer grossen Silvesterparty für politische Prominenz soll er einen Indianer spielen und die sinnsuchende Gesellschaft mit Zukunftsvisionen beglücken. "Eine grotesk-komische Satire über Kultbewegungen, die Esoterikwelle, die um sich greifende Weltuntergangsstimmung und blödsinnige Medien-Events, die als sinnstiftende Ersatzreligionen gegen die absolute Leere aufgeboten werden."
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.1999

Bombe unten, Rothaut oben
Furioses Debüt: Marcus Jensens Farce um einen Teilzeitindianer

Red Rain, seines Zeichens und je nach Lesart Heiler, Schamane und/oder Häuptling, weiß, dass er nur zweite Wahl ist als spiritueller Indianer auf dem großen Senats- und Regierungsfest zur Jahrtausendwende in Berlin. Die erste Garnitur ist schon längst ausgebucht. Das hindert ihn aber nicht daran, Ansprüche zu stellen. "Lausig kleines Bordklo, eng wie die Herzen der Weißen", nörgelt er am Silvesterabend auf dem Flug nach Tegel. Seine Verachtung für die Bleichgesichter ist schon im Flugzeug gut ausgeprägt, seine Indianität aber wird erst nach einem längeren Aufenthalt auf der Flughafentoilette sichtbar, nach Austausch der stark geruchsträchtigen Jeans gegen eine ebenfalls nicht gerade aprilfrisch duftende Büffellederhose und der Applikation einer Tinktur, die aus bleicher Haut im Augenblick einen überzeugenden Indianerteint schafft. Eine dreiköpfige Bodyguard, die ihn vor dem Toilettenbesuch noch als unberechenbaren Störenfried herumschubste, empfängt ihn jetzt hocherfreut als zu beschützenden Ehrengast. Bernie, der Chef des Trios, von den beiden anderen - "die reinsten Breker-Fressen" - stets "Scheffchen" genannt, bemerkt zwar leicht irritiert: "But, der Flieger, your plane from Heathrow, it's not yet landet, ähm", ahnt aber wohl, dass für spirituelle Menschen profane Physik nicht verbindlich ist. Red Rain seinerseits freut sich, auf dem Schild, das die drei über die Menge halten, unter diesem Namen und nicht etwa als "Häuptling Short Cock" annonciert zu werden, denn das "hätte zu ihr gepasst". "Sie", das ist Regina, "Deutschlands jüngste Staatssekretärin". Vor rund zehn Jahren war sie die Geliebte der Teilzeitrothaut und hat ihn nun engagiert.

Der Indianerdarsteller ist nach der abrupten Beendigung der Beziehung durch die spätere Karrierefrau gründlich aus der bürgerlichen Welt gefallen, von der BAT-2-Stelle in einem "Institut für angewandte Feldforschung" in eine subproletarische Existenz mit schnell wechselnden Gelegenheitsjobs und analogem Zerfall menschlicher Bindungen. Der Auftritt des Absteigers im Milieu der Gewinner wäre in jedem Fall eine Aktion auf dünnem Eis, ist es zu diesem Zeitpunkt aber erst recht, weil die sich im öffentlichen Raum bewegenden Figuren fünf Stunden vor dem Jahreswechsel deutlich ausgeklinkter agieren als zu normalen Zeiten. Trainingsanzugträger der Ballermann-Klasse verlangen marodierend nach Freiflügen, aus menschlicher Aufsicht entlassene Hunde kopulieren vor Flugzeugschaltern, die Fans von Star Trek und Star Wars suchen aggressiv nach weiteren Angehörigen ihrer Stämme, und über der Stadt hängt die Drohung der nicht identifizierbaren Terrorgruppe NOX IRAE, zum Jahrtausendsprung eine Bombe aus russischen Beständen mitten in Berlin zu zünden.

Red Rains Empfangskomitee gelingt es immerhin, dessen gerötete Haut unbeschadet durch den Flughafentumult in eine wartende Limousine mit Ledersitzen, Bar und Fernseher zu bugsieren, eine "Dschinni" genannte, nur durch Sprechfunk erreichbare Person in der Fahrerkabine steuert das lange Vehikel in Richtung Veranstaltungsort. Dabei stänkern die "Breker-Fressen" freimütig und auf Sprachbarrieren vertrauend über die fremdländische Beiladung und verfolgen im Bord-TV die "Endzeit-Show" zum Thema Angst. Bernie sucht die Konversation in besserem Pidgin-Englisch. Red Rain gewinnt nach außen Statur durch autoritativ vorgebrachte Kurzsätze indianisch anmutender Provenienz, nach innen aber schrumpft er mehr und mehr durch die sich aufbauende Gewissheit, in eine von Regina gestellte Falle getreten zu sein, was sich durch den plötzlichen Zwangshalt inmitten eines schwer bewaffneten Haufens nur noch verstärkt. Red Rain steigt aus, zum Sterben bereit. Doch die Kämpfer haben anderes vor: "Wir wollen in Frieden Krieg spielen", erklärt einer ihrer Anführer, und dafür hätten sie schließlich vom Senat den Stuttgarter Platz gemietet; ihre Mordgeräte heißen "Splatman 400, mit optionaler Salve" und verschießen Farbkügelchen.

Die Fahrt kann weitergehen, um in einem chaotischen Gemisch aus Trekkies und Star-Wars-Leuten erneut zu enden, angerührt von einer Senatsverwaltung, die von den Rivalitäten der beiden Gruppen nichts wusste. Das zehrt so an "Scheffchen" Bernies Nerven, dass er einen Spock ins Herz schließt; aus der Wunde pulst Blut, Red Rain. Der Indianerdarsteller adelt den Schützen zu dessen großer Erleichterung und Dankbarkeit zum "Warrior", und schließlich erreichen der Schutzbefohlene und seine Beschützer den Zielpunkt, die U-Bahnkatakomben unter dem Alexanderplatz, den NOX IRAE - laut Selbstbezichtigung in einem Erpresservideo "Deutschlands meistgehasste Boygroup" - inzwischen als angeblichen Lagerplatz für ihr atomares Baby geoutet hat. Red Rain wird dort von Berliner politischem Urgestein erwartet, von Senator Drehbusch, der sich selbst Daddy Drehbusch nennt und Journalisten und Untergebene erfolgreich wie die Zöglinge eines autoritären Kindergartens behandelt, dem Indianer aber ausgesprochen kumpelhaft kommt, weil auch er ihn als Bauern in Reginas Spiel erkennt, sich selbst aber ebenso. Als er nach gemeinsamer Labung aus einer von Regina unterirdisch dislozierten Flasche Wodka Red Rain den Partygästen vorstellt, murmeln die: "So unten rum ist er aber gar nicht rot . . ."

Vorhang zu und alle Fragen offen. Gibt es NOX IRAE? Gibt es die Bombe und wird sie explodieren? Wo und wer eigentlich ist Regina? Wie gestaltet sich Red Rains Auftritt? Und wer wird Sieger in der "Endzeit-Show"? Mario, der Kandidat, der angab: "Manchmal hab ich sogar Anx, dass ich nich genug Anx hab"?

Gewonnen hat in jedem Fall Marcus Jensen: Er legt mit "Red Rain" ein wundervolles Romandebüt vor, dem alles Debütantenhafte abgeht. Der 32-Jährige, dessen vorherige kürzere Texte nur in sehr rezeptionsgeschützten Druckerzeugnissen zu finden waren, hat eine vielstimmige Geschichte von hoher Kompliziertheit geschrieben. Getragen wird sie von situativen Monologen des Protagonisten an zwei Abwesende, Regina und einen "Zücho-Dok" Dechart, die einzigen Menschen, die ihm aus den letzten zehn Jahren als Gesprächspartner einfallen. Diese Monologe sind kurztaktig verschnitten und verschränkt mit der direkten Rede in seiner Umgebung und mit Tönen aus dem Fernsehen; William Gaddis grüßt von Ferne und sicherlich wohlwollend, denn all diese Fragmente transportieren und entwickeln jeweils eigene Geschichten, die doch wie von selbst sich zu einem Text fügen. Das alles ist bei näherem Hinsehen ausgesprochen akribisch gearbeitet und bekommt gerade daraus seine Leichtigkeit, seinen Witz und seine Kurzweil.

Markus Jensen schreibt wirklich Fiktion; zu dem Verdacht, dass der Autor sein Ego in fadenscheiniger Romanverkleidung auf den Marktplatz stellt, gibt es in diesem Fall keinen Anlass.

BURKHARD SCHERER.

Markus Jensen: "Red Rain". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1999. 172 S., geb., 29,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Wirklich begeistert scheint Charlotte Brombach von diesem Buch nicht zu sein, obwohl man ihr bei der Nacherzählung einiger besonders skurriler Erlebnisse des Protagonisten kaum abnehmen mag, dass sie sich nicht doch recht häufig bei der Lektüre amüsiert hat. Allerdings ist ihr dieses Buch "akustisch" manchmal einfach zu penetrant und dermaßen überdreht, dass es sie geradezu an eine "Übersteuerung" erinnert. Der Held quatscht und quatscht: mit sich, mit anderen, auch ohne Ton und nur in Gedanken. Daneben werden alle möglichen Geräusche - wie in einem Comic - in Buchstabenfolgen gebracht. Gleichzeitig findet Brombach jedoch, dass Jensen dieses Dauer-Parlando durchaus geschickt mit dem allgegenwärtigen Milleniums-Hype (in "echt" und im TV) mit einander "verschachtelt" hat. Befremdlich aber dann das Ende: "Selten stehe man als Leser mit so dermaßen leeren Händen da", so Brombach. Das klingt enttäuscht, ist es aber nicht wirklich. Denn schließlich, so die Rezensentin, erinnere dies tatsächlich an die Empfindungen bei der Ankunft des "echten Milleniums".

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