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Wie Charcot, Breuer und Freud die Hysterie definierten, wissen wir. Wie aber um 1900 der Alltag von Patientinnen in einer psychiatrischen Anstalt aussah, wie sie selber sich und ihre Krankheit wahrgenommen haben und wie Krankheitskonzepte zwischen Anstaltspsychiatern, Patientinnen und Personen ihres sozialen Umfelds ausgehandelt wurden, ist wenig bekannt. Karen Nolte zeigt, wie Diskurse über Hysterie in der Praxis wirksam wurden, und gibt Einblicke in die Krankheitswahrnehmung unterschiedlicher Frauen wie Dienstmädchen, Telefonistinnen, Hausfrauen und Lehrerinnen.

Produktbeschreibung
Wie Charcot, Breuer und Freud die Hysterie definierten, wissen wir. Wie aber um 1900 der Alltag von Patientinnen in einer psychiatrischen Anstalt aussah, wie sie selber sich und ihre Krankheit wahrgenommen haben und wie Krankheitskonzepte zwischen Anstaltspsychiatern, Patientinnen und Personen ihres sozialen Umfelds ausgehandelt wurden, ist wenig bekannt. Karen Nolte zeigt, wie Diskurse über Hysterie in der Praxis wirksam wurden, und gibt Einblicke in die Krankheitswahrnehmung unterschiedlicher Frauen wie Dienstmädchen, Telefonistinnen, Hausfrauen und Lehrerinnen.
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Autorenporträt
Karen Nolte, Dr. phil., Historikerin, promovierte in Kassel und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Göttingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Minna ist so schwierig
Aber hysterisch ist ihr Mann: Karen Nolte hört die Irrenanstalt ab

Eines Tages fällt der französischen Historikerin Arlette Farge, die seit dreißig Jahren in den Justiz- und Polizei-Archiven von Paris die Geschichte des "peuple", der einfachen Leute des achtzehnten Jahrhunderts, erforscht, in den Archives Nationales eine Klage vom 18. Januar 1766 in die Hände. Der Droschkenkutscher Paul Lefèvre schildert darin den Disput mit einem anderen Kutscher, dem er in den Weg geraten ist. Während ihres Händels springt dessen Fahrgast ungehalten aus dem Wagen und versetzt einem von Lefèvres Pferden wutentbrannt einen Schwertstoß. Die Unterschrift unter dem Dokument bezeugt, daß die Affäre durch einen finanziellen Vergleich friedlich beigelegt werden konnte: Marquis de Sade. Das Archiv schenkte Arlette Farge in diesem Moment das herzstockende Vergnügen, auf der Place des Victoires, zwischen einem Kutscher und seinem Gefährt, plötzlich dem ebenso ungehaltenen wie entfesselten Sade begegnet zu sein: "Dieses unwichtige Detail belegt so treffend den verwünschten Charakter dieser Figur, daß man an dieser zu schönen Trouvaille, dieser überraschenden Koinzidenz zu zweifeln beginnt."

"Le goût de l'archive" - den Geschmack, die Lust am Archiv, aber auch das Schmecken, den Geruch des Archivs - hat Arlette Farge in ihrem gleichnamigen, leider nicht ins Deutsche übersetzten Buch (Éditions du Seuil, Paris 1989) die Quelle und die Sucht in einem benannt, die ihr entspringt. Die Kasseler Historikerin Karen Nolte teilt diese Leidenschaft. So überraschend, wie uns aus Arlette Farges Quellen ein vertrauter und doch unbekannter Marquis de Sade entgegentritt, so unverwandt blickt uns die Hysterie aus den Akten der öffentlichen psychiatrischen Landesheilanstalt Marburg an, die Nolte in ihrer Kasseler Dissertation aufgearbeitet hat. Sie ist in den Alltagsnöten der internierten Patientinnen, die sie verkörpert haben sollen, kaum wiederzuerkennen.

Die uns vertrauten Gesichtszüge der Hysterie im nervösen Zeitalter des Fin de siècle um 1900, die sich bis in die schwungvollen hysterischen Bogen des Jugendstils fortsetzen, sind vom Pariser Psychiater und Neurologen Jean-Martin Charcot im ebenso einvernehmlichen wie heimlichen Wechselspiel mit seinen Mannequins - allen voran den beiden Lieblingspatientinnen Blanche Wittman und Augustine - im sogenannten "Amphithéâtre" der Salpêtrière modelliert worden. Dies geschah im Blickwechsel mit dem öffentlichkeitswirksamen Medium der Fotografie, hatte doch Albert Londe, Charcots "Chef du service photographique", die "fotografische Platte" als "die wahre Netzhaut des Gelehrten" bezeichnet. Folgerichtig wurde Londe 1883 von Charcot angewiesen, Hysterikerinnen mit Serienbelichtungskameras aufzunehmen, um sie in der "Iconographie photographique de la Salpêtrière" auf bislang nicht festgehaltene Symptome wie den großen hysterischen Bogen behaften zu können.

Tatsächlich machte erst die von Londe entwickelte Instantan- und Chronofotografie die vier idealtypischen Phasen des "großen hysterischen Anfalls" - die epileptoide Phase, die Possen-Phase des Clownismus, die Phase der leidenschaftlichen Gebärden und die Endphase - in ihrem filmischen Ablauf sichtbar, die von Charcots Star-Models im "Amphithéâtre" mit der Pünktlichkeit und Genauigkeit von Automaten aufs augenfälligste reproduziert wurden. "Erfindung der Hysterie" (1982; deutsch im Wilhelm Fink Verlag, München 1997) hat Georges Didi-Huberman denn auch seine mittlerweile klassische Darstellung genannt, in der diese Perspektive der Hysterieforschung ihren beredtesten Ausdruck gefunden hat.

Auch einzelne Hysterikerinnen der Irrenheilanstalt Marburg, deren Direktoren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gleichzeitig Psychiatrie an der Universität unterrichteten, haben, wie die Akten bezeugen, den Hörsaal als Bühne zur Selbstdarstellung genutzt. Doch das war nicht der Alltag der Hysterie, sondern nur die öffentlichste und augenfälligste der vielfältigen Strategien von Patientinnen, sich den psychiatrischen Übergriffen zu entziehen, sei es den Einschränkungen ihres Selbstbestimmungsrechts im äußerlichen Sinne der Einsperrung, sei es im innerlichen Sinne der Stigmatisierung.

Aus allen neunzig der 236 erhaltenen Krankenakten von Hysterikerinnen der Irrenheilanstalt, die Nolte für den Zeitraum von 1876 bis 1918 untersucht hat, spricht das Spannungsverhältnis zwischen dem reformerischen Selbstverständnis der Psychiater und dem bedrängten Selbstverständnis ihrer Patientinnen. "Hysterie" konnte in einem Alltagsleben, das sich außerhalb der Anstaltsmauern nicht selten noch konfliktreicher gestaltete als in diesen, auch Ausdruck eines anderen Einvernehmens sein, als Charcot es mit seinen Mannequins aushandelte: "Letztlich konnten Frauen nur über die ,erfolgreiche' Aneignung des psychiatrischen Diskurses über den ,hysterischen Charakter' öffentlich ihre geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen zur Sprache bringen."

Methodisch innovativ ist die Studie nicht. Ihre "dichte Beschreibung" (Clifford Geertz) des Ringens zwischen Patientinnen und Psychiatern um das "Territorium des Selbst" (Erving Goffman) gliedert Nolte in drei Dimensionen der Privatheit: Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit, Informationshoheit über die eigene Person, räumliche Privatsphäre. Nolte unterscheidet in den Gegenstrategien der Patientinnen zwischen der vordergründigen primären und der eigensinnigen sekundären Anpassung, dem "Unterleben" (Goffman) in der Marburger Irrenheilanstalt. Dieses "Unterleben" im psychiatrischen Anstaltsalltag um 1900 gewinnt allerdings bis in die sprechende Materialität der untersuchten Briefe - die zum Teil als eiligste beschriebene Papierschnipsel von der Platz- und Zeitnot ihrer klandestinen Entstehung zeugen - an unmittelbarer Lebendigkeit. Dabei erliegt die Autorin nicht der Illusion, ihr Buch könne mehr sein als eine bloße - aber um so eindrücklichere - "Annäherung an subjektive Wahrnehmungen der Patientinnen selbst".

Die Zweifel setzen deshalb nicht dort ein, wo die Koinzidenzen der Quellen zu schön sind, um wahr zu sein - der Landarzt Ludwig V. etwa füllt 1884 das obligarorische Einweisungsformular für seine "schwierige" Ehefrau Minna gleich selbst aus -, sondern dort, wo Karen Nolte dasjenige zum Anlaß ihrer historischen Spekulationen nimmt, was gerade nicht aus den Akten zu ersehen ist: So soll der Umstand, daß sich in diesen weniger Briefe von "Dritte-Klasse-Patientinnen" als von bürgerlichen "Erste-Klasse-Patientinnen" finden, davon zeugen, daß diese weniger geübt darin waren, Kassiber an ihren Dienstherren vorbeizuschmuggeln. Doch woher will man das tatsächlich wissen? Selten genug geht die Autorin diesen einen Schritt zu weit, als daß sie ihr Projekt gefährden würde, und führt tatsächlich einen "Perspektivenwechsel in der historischen Hysterieforschung" herbei.

MARTIN STINGELIN

Karen Nolte: "Gelebte Hysterie". Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2003. 351 S., br., 39,90 [Euro].

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Abstract Karen Nolte 'Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900', Frankfurt/Main, New York: Campus 2003 (Reihe: Geschichte und Geschlechter, Band 42).Die interdisziplinäre Forschung zur Hysteriegeschichte hat sich bisher auf den Prozess der Herstellung von Geschlecht im (vornehmlich medizinischen) Wissenschafts- bzw. Elitendiskurs konzentriert. Die Perspektive der Patientinnen ist nur auf der Grundlage von publizierten Krankengeschichten untersucht worden. Demgegenüber hat Karen Nolte diese 'älteste Frauenkrankheit' in der psychiatrischen Praxis um 1900 anhand der Krankenakten der Landesheilanstalt Marburg untersucht. Anders als in bisherigen Studien zur Geschichte der Hysterie ging es der Autorin nicht nur darum, intellektuelle und medizinische Diskurse über Hysterie zu analysieren, sondern herauszuarbeiten, wie diese Diskurse in der Praxis einer psychiatrischen Anstalt um 1900 genutzt wurden. Die Akteure und Akteurinnen dieser empirischen Studie sind nicht Wissenschaftler, sondern Anstaltspsychiater, Patientinnen und Personen ihres sozialen Umfelds. Karen Nolte arbeitet heraus, wie Krankheitskonzepte im Anstaltsalltag zwischen Psychiater und Patientinnen ausgehandelt wurden. Die Studie gibt darüber hinaus Einblick in subjektive Krankheitswahrnehmungen von Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft, nämlich Dienstmädchen, Telefonistinnen, Hausfrauen und Lehrerinnen. Auch beleuchtet die Studie die 'Innenperspektive', d.h. die von Patientinnen und medizinischem Personal, auf die Verhältnisse einer psychiatrischen Anstalt um 1900 zu untersuchen. Insofern ist die Studie Noltes auch als Beitrag zur Geschichte der modernen Anstaltspsychiatrie zu verstehen. Karen Nolte bricht mit ihrer neuen Perspektive auf die Geschichte der Hysterie die in der Fachdiskussion vorherrschende Polarisierung von 'Erfahrung' und 'Diskurs' auf. Die Studie leistet somit einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte bürgerlicher Ideen und zeigt, dass die zuweilen homogenisierenden diskursanalytischen Erkenntnisse nur einen Teil von (re-)konstruierbaren Wirklichkeiten darstellen.
(Verlagsrezension)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Martin Stingelin wartet mit einem großen Kompliment auf. Karen Nolte, die hier ihre Dissertation vorlegt, besitze den gleichen "gout de l'archive" wie ihre französische Kollegin Arlette Farge, die seit Jahrzehnten die Pariser Archive auf den Spuren der Geschichte der einfachen Leute durchforscht. Auch Nolte hat also "Lust, Geschmack am Archiv" gefunden, in ihrem Fall sind es die Akten der psychiatrischen Landesheilanstalt Marburg gewesen, die sie aufgearbeitet hat. Methodisch innovativ sei ihre Studie nicht, merkt Stingelin an, dafür besäße ihre dichte Beschreibung des Anstaltsalltags der als Hysterikerinnen internierten Frauen Intensität und Lebendigkeit und vollziehe damit tatsächlich einen Perspektivenwechsel in der historischen Hysterieforschung. Aus dem Aktenstudium ergäbe sich ein Spannungsverhältnis, berichtet der Rezensent, zwischen dem reformerischen Bemühen der Psychiater und den in die Enge getriebenen Patientinnen. Gar nicht so selten hätten sich diese den psychiatrischen Hysterie-Diskurs zu eigen gemacht, um auf diesem Wege über die erfahrene geschlechtsspezifische Gewalt berichten zu können. Nur manchmal weiche Nolte spekulativ vom Quellenstudium ab; kleine Schönheitsfehler, die der Rezensent gelten lässt.

© Perlentaucher Medien GmbH
Minna ist so schwierig
"Ein Perspektivenwechsel in der historischen Hysterieforschung." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.2003)