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Konstruktivistische Denkansätze und Theorien haben inzwischen in allen wissenschaftlichen Disziplinen Einzug gehalten. Christina Reinhardt zeigt in ihrer Studie über Ortsbindung und lokale Identität in der Bochumer Richardstraße auf konsequente Weise, was Konstruktivismus für die Praxis der empirischen Sozialforschung bedeutet und wie sie angemessen dokumentiert werden kann.Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1999

Produktbeschreibung
Konstruktivistische Denkansätze und Theorien haben inzwischen in allen wissenschaftlichen Disziplinen Einzug gehalten. Christina Reinhardt zeigt in ihrer Studie über Ortsbindung und lokale Identität in der Bochumer Richardstraße auf konsequente Weise, was Konstruktivismus für die Praxis der empirischen Sozialforschung bedeutet und wie sie angemessen dokumentiert werden kann.Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1999
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Autorenporträt
Christina Reinhardt ist promovierte Geographin. Seit 2015 ist sie Kanzlerin der Ruhr-Universität Bochum.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2000

Hier, wo das Herz noch zählt
Wer wohnt schon in Düsseldorf? Die Richardstraße in Bochum, wo Christina Reinhardt lebt, ist ein Stadtraum wie kein anderer

Der Streit ist laut. Sie, vielleicht zehn Jahre alt, wirft ihre langen schwarzen Locken zurück, droht und schreit. Er, einen Kopf kleiner, zischt ihr Beleidigungen zu, schlägt Haken, wenn sie ihn fangen will. Vorn auf dem Spielplatz steht ein Schild aus Struwwelpeters Zeiten: "Liebe Kinder, seid anständig und vertragt euch . . . Der Oberstadtdirektor." Irgendwann tritt das Mädchen zu. Das harte Plastik ihrer Rollerblades knallt auf sein Schienbein, zum Kiosk. Der türkische Verkäufer hört sich die ganze Geschichte an: Wie sich der Junge die Rollschuhe ausleihen wollte, warum er sich selbst keine leisten kann, warum das Mädchen keine Lust hatte, die wertvollen Flitzer abzugeben.

So könnte eine journalistische Beschreibung der Bochumer Richardstraße beginnen; Genre: Sozialreportage. Die Geografin Christina Reinhardt hat die Straße ausführlich beschrieben - allerdings in Form einer wissenschaftlichen Untersuchung. Sie stellt die Frage nach lokaler Identität und Ortsbindung in einer Siedlung am Rand der Innenstadt, dort, wo früher, als die Zeche Präsident noch förderte, fast ausschließlich Arbeiterfamilien wohnten. Vielleicht hätte Christina Reinhardt lieber eine Reportage geschrieben, denn mit dem gewählten Instrumentarium der empirischen Sozialforschung hadert sie zweihundert Seiten lang: "Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Journalismus, Kunst und Wissenschaft?" Beides, das Thema und den Methodenzweifel, hat sie im Titel ihrer Studie zusammengefasst: "Die Richardstraße gibt es nicht."

Christina Reinhardt wohnt selbst in der Richardstraße, keine zweihundert Meter vom Spielplatz entfernt. Sie gehört zu den wenigen Akademikern und Angestellten, die in den letzten Jahren zugezogen sind. Schon dass sie ihre Wohnumgebung zum Gegenstand ihrer Dissertation gemacht hat, "sollte als plakativer Hinweis auf die Bedeutung des Kontextes von WissenschaftlerInnen verstanden werden". Soll heißen: Alle Erkenntnis ist standortgebunden, und der Beobachter greift in den Untersuchungsgegenstand ein. Der radikale Konstruktivismus bildet den erkenntnistheoretischen Hintergrund der Studie, und Überlegungen Heinz von Foersters und Niklas Luhmanns sind es auch, denen Reinhardt die Struktur ihrer Darstellung entlehnt: Sie präsentiert ihre Ergebnisse als Beobachtungen erster, zweiter und dritter Ordnung - ein Schema, in das sich heterogenes Material pressen lässt.

Zum Beispiel die Geschichte von Hayryie, die sich nachts nicht mehr über die Straße traut, seit sie einmal im Kiosk überfallen wurde. Oder die Meinung von Gerd: "Wenn du mal Probleme hast, mal Hilfe brauchst, ist immer einer für dich da." Und Lisbeth sagt über ihre Nachbarn: "Die leben doch alle vom Sozialamt." Die Aussagen der Anwohner sind als Primärbeobachtungen gekennzeichnet. Wie sie zustande gekommen sind, beschreibt Christina Reinhardt am Schluss, in den Beobachtungen dritter Ordnung. Hier komplettiert sie ihren konstruktivistischen Ansatz, etwa indem sie berichtet, wie die Atmosphäre in einer als chaotisch empfundenen sechsköpfigen Familie auf das Gespräch, mithin auf die erforschten Daten, zurückwirkt. Solche Schilderungen verschaffen tatsächlich, wie beabsichtigt, Transparenz und Reflexion - anders als die Notizen aus dem Forschungsverlauf. Da veröffentlicht die Autorin alles über ihre Stimmungsschwankungen während der Arbeit ("Das ist die Idee des Jahres!", "Krise Nr. 15"), und die Selbstreflexion wird zur Selbstbespiegelung.

Was man herkömmlicherweise unter wissenschaftlicher Analyse versteht, trägt die Überschrift "Beobachtungen zweiter Ordnung". Hier klopft Christina Reinhardt ihre Daten auf mögliche Bedingungen für Ortsbindung ab und verknüpft sie mit der einschlägigen Literatur. Aspekte, die die lokale Umgebung direkt betreffen, werden allerdings verworfen - zum Beispiel die Angaben der Anwohner zum "ästhetischen Potential" des Raumes. Denn ob die Bäume auf der Richardstraße als schön bewertet werden oder nicht, so Reinhardt, hängt von der Ortsbindung erst ab: Die Einschätzung des Ortes ist weniger Voraussetzung als vielmehr Folge des Explanandum.

So bleibt nur eine Bedingung für Ortsbindung: Wer in der Nachbarschaft integriert ist, fühlt sich in der Richardstraße zu Hause; oder allgemeiner: Räumliche Bindung ist weitgehend identisch mit sozialer Bindung. Folgerichtig wendet sich Reinhardt dann den nachbarschaftlichen Beziehungen zu und beschreibt detailliert deren "Spielregeln". Wer grüßt wen, wer lädt wen ein, wer spricht mit wem? Hier mutet die Studie an wie eine entfernte Verwandte der Chicagoer Schule, die schon in den zwanziger Jahren marginalisierte "neighborhoods" beschrieben hat. Reinhardt bilanziert, "dass jene Individuen höher ortsgebunden sind, die ausreichende Kenntnisse über die Regeln des an einem Ort dominierenden Milieus haben". Inhaltlich klingt das Ergebnis wenig überraschend; es ist wohl kaum spezifisch für Bochum-Hamme. Aber gerade deshalb dokumentiert es eindringlich die Schwierigkeit, lokale Identität überhaupt an einem Terrain festzumachen. "Die Richardstraße gibt es nicht" handelt also auch von einem paradoxen Unternehmen: Geografie ohne Ort.

Dennoch lässt Reinhardts Studie an einem Faktum keinen Zweifel: Es gibt empfundene lokale Identität; sie artikuliert sich in den Interviews. Genau diese subjektive Bedeutsamkeit von spezifischen Orten bezweifelt ein Sammelband, der aus einer Vortragsreihe des Hamburger Literaturhauses hervorgegangen ist. "Sind wir überhaupt noch Bewohner von Städten", fragt Ursula Keller einleitend, oder nicht eher "ortlose Pendler zwischen privater Nische und sozialem Nirgendwo?". Keller hat dreizehn Autoren versammelt, die nach "Perspektiven metropolitaner Kultur" suchen. Ohne Empirie und Methodenskrupel, dafür in der kleinen Form des Essays und mit der großen Geste des theoretischen Entwurfs.

Man müsse sich vom "Mythos der alten Stadt" verabschieden, schreibt etwa der Stadtplaner Thomas Sieverts. Der heutige Stadtbewohner, so Sieverts, wählt seine sozialen Kontakte "weniger nach räumlicher Nähe und Nachbarschaft" als nach "nicht räumlich vermittelten Interessen". Was man einst unter Urbanität verstanden hat - Weltoffenheit, Toleranz, Neugier, Beweglichkeit -, kann sich auch in anderen Räumen als denen der historischen Stadt entfalten. So plädiert Sieverts dafür, die Gestaltung dieser neuen, netzartig strukturierten "Zwischenstadt" zu wagen.

Wenn Florian Rötzer ebenso wie Sieverts von Netzen und anderen Räumen spricht, so meint er doch etwas anderes: nicht reale Architektur, sondern Chat Rooms und Datenautobahnen. Dass die öffentlichen Räume aus dem Stadtbild verschwinden, konstatiert auch Rötzer, er findet sie aber in der virtuellen Realität wieder: Dort "lösen sie sich von der Bindung an eine Lokalität ab". Währenddessen verlieren die Städte ihre Prägung durch spezifische Milieu-Identitäten. In dieser Perspektive erscheint eine Größe wie Ortsbindung als reiner Anachronismus.

Rötzer sieht den Menschen auf der Schwelle zur "ortlosen Existenz" und teilt so offenbar die Einschätzung von Bernd Guggenberger: Die "handgreiflichen Realitäten des Raumes" haben sich ebenso wie die "Welt der besonderen Orte" verflüchtigt, erläutert der Berliner Kulturkritiker. Folglich verdankt sich die Fähigkeit der Weltdeutung "nicht mehr vornehmlich der Zugehörigkeit zu einer territorial begrenzten Raumgemeinschaft". Guggenberger radikalisiert, wenn man so will, die anthropologische Denkfigur vom Mängelwesen: Dem Menschen ist an der "Schwelle zum dritten Jahrtausend" auch noch die "Raum-Dimension" abhanden gekommen. Und ohne geographische Ordnung zählt allein die Herrschaft der Zeit. Guggenberger feiert die Verhältnisse nicht, sondern warnt. Eigentlich, behauptet er, lebt das Soziale von der "Verbindlichkeit des Ortes".

Gleichgültig, ob man das Urteil teilt oder nicht - schon die Beschreibung klingt wie Science-Fiction. An einer Stelle schreibt Guggenberger: "Bei einem Kneipenabend in San Francisco, Berlin oder Zürich ist es ziemlich gleichgültig, ob jemand aus Tokio stammt oder aus Toronto, aus Rüschlikon oder Castrop-Rauxel" - Bochum-Hamme darf man ergänzen. Dann nennt er die Bedingung für den Eintritt in die ortlose Existenz: "sofern er oder sie nur hinreichend des Englischen mächtig ist und weiß, dass Woody Allen mit ,Bullets over Broadway' ein Feuerwerk aus Esprit und Exaltiertheit gezündet hat." Das vergessen die Theoretiker des Posturbanen allzu schnell: Vor der Reise in eine Zeit ohne Raum stehen Bildung, Kultur und Geld; sie steht nicht allen offen. Die meisten Bewohner der Richardstraße zum Beispiel nehmen in absehbarer Zeit nicht daran teil.

RENÉ AGUIGAH

Christina Reinhardt: "Die Richardstraße gibt es nicht". Ein konstruktivistischer Versuch über lokale Identität und Ortsbindung. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1999. 208 S., br., 38,- DM.

"Perspektiven metropolitaner Kultur". Hrsg. von Ursula Keller. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 240 S., br., 22,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

René Aguigah bespricht in seiner Rezension zwei Bücher, die sich mit der Stadt als realem Ort befassen. Der Rezensent scheint beide Bücher mit Gewinn gelesen zu haben.
1) Christina Reinhardt: "