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Petrache, der Kustos eines Museums, in dem nachts merkwürdige Dinge vor sich gehen, verführt seine Freundin in der Kabine eines rostigen Krans, inmitten eines Parks der "Monster von einst". Die Chirurgin Cosmina zieht einen Mann, der sich aus dem fünften Stock gestürzt hat, zurück ins Leben. Vor Coltuc, ohne Beine auf einem Wägelchen am Straßenrand sitzend, defilieren Menschen wie Tiere: Gänse mit wiegenden Hüften, Pelikane mit klappernden Schnäbeln ... Die Erzählungen von Varujan Vosganian, dessen armenische Familiensaga "Buch des Flüsterns" für Furore sorgte, handeln auf den ersten Blick von…mehr

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Produktbeschreibung
Petrache, der Kustos eines Museums, in dem nachts merkwürdige Dinge vor sich gehen, verführt seine Freundin in der Kabine eines rostigen Krans, inmitten eines Parks der "Monster von einst". Die Chirurgin Cosmina zieht einen Mann, der sich aus dem fünften Stock gestürzt hat, zurück ins Leben. Vor Coltuc, ohne Beine auf einem Wägelchen am Straßenrand sitzend, defilieren Menschen wie Tiere: Gänse mit wiegenden Hüften, Pelikane mit klappernden Schnäbeln ... Die Erzählungen von Varujan Vosganian, dessen armenische Familiensaga "Buch des Flüsterns" für Furore sorgte, handeln auf den ersten Blick von einer märchenhaft-dunklen Gegenwart und wurzeln dabei im Trauma der Geschichte von Rumänien.
Autorenporträt
Varujan Vosganian wurde 1958 in Craiova geboren und verbrachte seine Kindheit in Focsani. Von 2006 bis 2008 war er rumänischer Finanz- und Wirtschaftsminister, 2012 bis 2013 Minister für Handel und Industrie. Er ist Präsident der Vereinigung der Armenier in Rumänien. Bei Zsolnay erschienen die Romane Buch des Flüsterns (2013), Das Spiel der hundert Blätter (2016) und der Erzählband Als die Welt ganz war (2018).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.04.2018

Jeder ist sein eigenes Zentrum
Die Erzählungen des rumänischen Ex-Ministers Varujan Vosganian
Coltuc, den seine Freunde auch Stummelchen nennen, ist ein Junge ohne Arme und Beine. Sein einziges bewegliches Gelenk sitzt im Hals. Coltucs Körper ist auf einem Bretter-Wägelchen befestigt: „An der Stelle, wo die Beine hätten beginnen müssen, waren die Hosenbeine eingerollt und mit Haken fixiert, damit ihn das Holz nicht aufrieb. Aus den Schultern sprossen ihm ein paar krumme Finger wie Vogelkrallen.“
Coltucs Erfinder ist Varujan Vosganian, 1958 in Craiova geboren, Wirtschaftswissenschaftler, Senator, zuletzt rumänischer Minister für Handel und Industrie. Ein großer, braun gebrannter, eleganter Anzugträger, dem neoliberale Positionen nachgesagt werden. Wie kommt es, dass einer wie er über Randexistenzen der Gesellschaft schreibt? „Ich schreibe nicht über den Rand der Gesellschaft. Schauen Sie: es gibt überhaupt keine Ränder“, sagt Vosganian, der mit seiner rumänisch-armenischen Familiensaga „Das Buch des Flüsterns“ bekannt wurde, in einem Gespräch in Leipzig: „Jeder ist sein eigenes Zentrum, von dem aus er sieht.“ Das könnte schönfärberisch wirken, aber mit seinem neuen Erzählungsband „Als die Welt ganz war“ spielt Vosganian Skeptiker problemlos an die Wand.
Coltuc, der sich ohne fremde Hilfe kaum bewegen kann, „war das Wunder des Schauens geblieben.“ Tatsächlich wird er, an einem Straßenrand in der Mitte Bukarests, zu einem Zentrum eigensinniger Wahrnehmung: „Vor seinen Augen zogen schmale und gebeugte Störche vorbei, Lämmergeier mit verstohlenen Blicken, Gänse mit wiegenden Hüften, Pelikane mit klappernden Schnäbeln, Kernbeißer mit gedrungener Nase (…).“ Coltuc, der nur knapp über der Erde residiert, „schaute zu diesen Mengen hinauf, wie zu Vogelschwärmen, die sich am Himmel abzeichnen.“ Coltucs Bettlerkollegen sind Costica Ologu, der Lahme genannt, und Stefano Fane, der Blinde, der so heißt, obwohl er noch ein bisschen etwas sieht.
Weil die groteske Fantasie der Erzählung, die Coltucs Leiden überhaupt nicht verharmlost, in der wirklichen Welt spielt, taucht auch die Polizei auf. An einer Stelle geht es darum, sich würdevoll zu verdrücken: „Vorne weg ging der Blinde gemessenen Schrittes und mit emporgereckter Stirn, als genieße er die rußige Luft.“ Mit einer Hand hält Fane seinen Stock, mit der anderen „zog er an der Leine das Wägelchen hinter sich her.“ Etwas langsamer folgt der Lahme, der nicht zur Seite schaut, „damit ihn nicht die Angst plötzlich übermannte.“
Coltuc, so Vosganian, sei für ihn nicht nur jemand, den er in Bukarest gesehen habe, sondern ein „Symbol meiner Generation.“ Einst hoffnungsvoll und an der Revolution beteiligt, liege über all ihren Bemühungen heute eine große Melancholie. „Auch in der Politik. Keiner weiß mehr, was richtig ist. Jeder tut nur noch irgendetwas.“ Auch er wolle nicht mehr Minister werden. Wobei seine Erfahrungen ihm bei den Erzählungen hülfen. „Einen Mann wie in meinem Buch ,Ein Bund Liebstöckel‘, habe ich kennengelernt, als ich Minister war, unten im Schiltal“, sagt Vosganian und meint damit das Vorbild seines Protagonisten Pavel: Pavel ist einer jener Bergarbeiter, die das Regime Iliescu 1990 in die Hauptstadt geholt hatte, um sie, wie man ihnen erzählte, als Schläger gegen „rechte Legionäre“ einzusetzen. In Wahrheit handelte es sich bei den Demonstrationen schlicht um Bürgerproteste gegen die Wahl Iliescus. Sechs Leute wurden damals erschlagen, mehr als tausend krankenhausreif geprügelt. Bei Vosganian befand sich darunter eine Architekturstudentin namens Rada. Jetzt, Jahrzehnte später, wird sie von der Polizei vorgeladen, weil ein Mann in der vergangenen Nacht vor ihrem Fenster gesessen habe. Die Gespräche auf der Polizeistation versetzen Rada zurück in die Zeit der demütigende Verhöre. Jetzt gehen die Polizisten respektvoll mit ihr um. Es gebe da einen seltsamen Mann, der sie zu kennen behaupte.
Pavel hat Rada und ihren Namen im Fernsehen gesehen. Danach ist er zum dritten Mal in seinem Leben nach Bukarest gefahren. Rada kann sich an ihn nicht erinnern. Das sei kein Wunder, meint er, als sie nach dem Verhör miteinander sprechen, er habe von hinten geschlagen. Er öffnet die Hand und zeigt Rada das Medaillon, das ihr damals vom Hals gerissen wurde. Nach und nach wird klar, dass sie dem Tod nur knapp entkommen war, als sie im leeren Becken eines schlierigen Springbrunnens erwachte: „Einige Augenblicke meinte sie, es sei Nacht, und die weichen, öligen Spuren auf ihren Fingern gehörten zum Gewebe einer feuchten Finsternis. Erst als sie zählte und merkte, dass es zu viele Finger waren, als dass sie alle zu ihr gehören könnten, stellte sie fest, dass sie lebend begraben worden war. Aber sie hatten keine Erde über sie geworfen, sondern weitere Körper.“
In der Gegenwart zögert Rada, lädt Pavel aber dann ein, bei ihr eine Tasse Kaffee zu trinken. Ein gespenstisches Gespräch ergibt sich. Vosganian schafft es auch hier, ein Thema, das in Kitsch ausarten könnte, in beeindruckende Sprachbilder und eine überzeugende Handlung zu verwandeln, die nie den Kontakt zur Gesellschaft verliert, die sie umgibt. In jeder Erzählung entsteht ein ganz eigener Kosmos. In „Das letzte Gericht der Statuen“ etwa bewacht Petrache unter den Arkaden eines alten Forts, das in ein Museum verwandelt wurde, das niemanden interessiert, die Denkmäler. „Farblos hing ein noch wintermüder Himmel darüber, wie vergessenes Wasser in einem irdenen Krug.“ Nichts geschieht. Wie immer bei Revolutionen. Doch die Ruhe der Statuen täuscht. Eine von ihnen entkommt, nachdem Petrache ihr Äpfel hingelegt hat. An diesem Karfreitag wird er ihren Platz einnehmen.
HANS-PETER KUNISCH
Varujan Vosganian: Als die Welt ganz war. Erzählungen. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2018. 333 Seiten. 24 Euro. E-Book 17,99 Euro.
Sechs Leute wurden damals
erschlagen, mehr als tausend
krankenhausreif geprügelt
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"Viele einschneidende Ereignisse des 20. Jahrhunderts sind in Rumänien noch nicht oder erst unzureichend aufgearbeitet. Vosganian trägt mit seinen Erzählungen dazu bei, einen Teil dieser Ereignisse literarisch ans Licht zu holen und so ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Das ist nicht immer angenehm, aber heilsam." Doris Roth, Siebenbürgische Zeitung, 25.09.18

"Vosganian schafft es, ein Thema, das in Kitsch ausarten könnte, in beeindruckende Sprachbilder und eine überzeugende Handlung zu verwandeln, die nie den Kontakt zur Gesellschaft verliert, die sie umgibt. In jeder Erzählung entsteht ein ganz eigener Kosmos." Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 05.04.18

"Die Geschichten des Bandes zeigen, wie kompliziert der Umgang mit der unheilvollen Vergangenheit ist. Vosganian erzählt so präzise wie geschmeidig von Menschen, die kaum unbeteiligt bleiben konnten, sondern vor die Wahl gestellt wurden, sich für die eine oder die andere Seite zu entscheiden." Holger Heimann, SWR2 Lesenwert, 11.3.18