26,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Sonntag, 28. Juni 1914, 10.45, Sarajevo, Ecke Franz-Joseph-Straße/Appelkai: Mit zwei Pistolenschüssen tötet der 19-jährige Gavrilo Princip den Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie. Einen Monat später erklärt Österreich dem Königreich Serbien jenen Krieg, der den Ersten Weltkrieg auslöst. Franz Ferdinand d'Este, Neffe des Kaisers Franz Joseph, war ein Tyrann, scheu und voller Menschenverachtung, der den Tod des Monarchen Franz Joseph herbeisehnte und widersprüchliche Staatspläne entwarf. In diesem biographischen Roman, der nach Erscheinen 1937 sofort verboten wurde, verdammt…mehr

Produktbeschreibung
Sonntag, 28. Juni 1914, 10.45, Sarajevo, Ecke Franz-Joseph-Straße/Appelkai: Mit zwei Pistolenschüssen tötet der 19-jährige Gavrilo Princip den Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie. Einen Monat später erklärt Österreich dem Königreich Serbien jenen Krieg, der den Ersten Weltkrieg auslöst. Franz Ferdinand d'Este, Neffe des Kaisers Franz Joseph, war ein Tyrann, scheu und voller Menschenverachtung, der den Tod des Monarchen Franz Joseph herbeisehnte und widersprüchliche Staatspläne entwarf. In diesem biographischen Roman, der nach Erscheinen 1937 sofort verboten wurde, verdammt Ludwig Winder seinen armseligen Helden jedoch nicht, sondern zeigt, wie erstarrt das habsburgische Hofzeremoniell war - eine Wiederentdeckung hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajevo.
Autorenporträt
Ludwig Winder wurde 1889 als Sohn eines Lehrers im südmährischen Schaffa geboren und starb 1946 in Baldock, England. Feuilletonredakteur u.a. bei der "Bohemia" in Prag. 1939 Flucht über Polen nach Großbritannien. Autor mehrerer Romane, darunter "Die nachgeholten Freuden" und "Der Kammerdiener".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2014

Europa starb in Prag

Ludwig Winders Roman "Der Thronfolger" ist nicht nur ein schillerndes Porträt des unbeliebten Habsburgers Franz Ferdinand. Es beschwört die Utopie eines selbstbewussten Europa und betrauert zugleich ihr Scheitern.

Selten hatte ein großer Roman ein tragischeres Schicksal. Sein Autor, der liberale jüdische Schriftsteller und Journalist Ludwig Winder, der nach dem Tod von Franz Kafka dessen Platz im "engeren Prager Kreis" eingenommen hatte, musste 1939 aus der besetzten tschechischen Hauptstadt nach England fliehen. Damals war sein zwei Jahre zuvor in Zürich erschienenes Hauptwerk - dem ein Platz neben Joseph Roths "Radetzkymarsch" gebührt - bereits in Deutschland und Österreich verboten. Auch die tschechische Ausgabe, von der Presse als "Meisterwerk der Prager Literatur" gefeiert, durfte nach dem deutschen Einmarsch nicht mehr vertrieben werden.

Jahrzehntelang hatte Ludwig Winder den rätselhaften und überall unbeliebten Thronfolger Franz Ferdinand studiert. Er sah in ihm nicht nur einen Spiegel der politischen und psychologischen Spannungen der Donau-Monarchie, sondern auch einen für die Jahre vor 1914 repräsentativen europäischen Menschen: einen melancholischen Verdränger, einsamen Träumer und besessenen Machtmenschen, der sich in brachialen Jagdritualen austobte (er erlegte in seinem kurzen Leben 274 889 Stück Wild), der aber gleichzeitig so liebessehnsüchtig war, dass er für die einzige Frau in seinem Leben den Kampf mit einer gnadenlos hierarchischen, verknöcherten Gesellschaft aufnahm und bitterste Demütigungen ertrug.

Es ist kein Zufall, dass dieser Roman, der die Utopie eines freiheitlichen und selbstbewussten Europa beschwört und gleichzeitig ihr Scheitern betrauert, 1936 in Prag geschrieben wurde: dem letzten Schmelztiegel sämtlicher Sprachen und Literaturen des Habsburgerreiches. An den Rändern dieses Riesenreichs zeigten sich die Verfallserscheinungen früher und ungeschminkter als im herausgeputzten, höfischen Wien, dem Franz Ferdinand gern entflohen war: In Konopischt bei Prag fand er seinen privaten Rückzugsort und legte dort einen großartigen Landschaftspark an, für den er rücksichtslos Platz schuf (wofür ihn die Dorfbevölkerung hasste). Und in Prag begann auch seine Liebesaffäre mit der aus böhmischem Uradel stammenden Gräfin Chotek.

Einfühlsam und, wie Max Brod schrieb, in einem "besonderen jähen, rhythmischen, immer wieder mit neuer Energie einsetzenden Tonfall" erzählt Winder von diesem innerlich zerrissenen, als Kind schwächlichen Franz Ferdinand, der an Jähzorn und Ehrgeiz fast erstickt, in einem Panzer aus Einsamkeit und Misstrauen gefangen ist und seinen fröhlichen, von allen geliebten Bruder Otto glühend beneidet. Obwohl "Der Thronfolger" Winders einziger historischer Stoff ist, scheint die Hauptfigur Franz Ferdinand anderen Romanhelden aus seiner Feder durchaus verwandt: etwa dem schuldzerfressenen, sich wütend gegen seine Herkunft auflehnenden Albert Wolf ("Die jüdische Orgel", 1922) oder dem nervösen, streng religiös erzogenen und von obsessiver Sexualität gequälten Hugo (im gleichnamigen, mit "Tragödie eines Knaben" untertitelten Buch, 1924).

Die ganze Familie, deren Porträt Winder so fesselnd entwirft, scheint mit zwanghafter Sicherheit dem Untergang entgegenzugehen: Der Vater Karl Ludwig, Bruder des Kaisers, und der zweitälteste Bruder Franz Ferdinands sterben eines elenden, absurden Todes, und als der Jüngste, schwer krank und wegen seiner bürgerlichen Frau des Landes verwiesen, heimlich zur Beerdigung des ermordeten Ältesten anreist, findet er die Särge des Thronfolgerpaares auf einem Provinzbahnhof im Schlamm zwischen den Gleisen - diese streng und sachlich geschilderte Szene mit ihrem Hintergrundrauschen aus grausamen und hämischen Dialogen ist eine der erschütterndsten des Romans.

Von einem bürgerlichen Trauerspiel hat der Schriftsteller F. C. Weiskopf, einer der ersten Rezensenten des Buches (in der Moskauer Exil-Zeitschrift "Das Wort"), gesprochen und trifft es damit genau: Der misstrauische, ehrgeizige Erbe, ungebildet, beschränkt, bigott und reich, zu einer unbefriedigenden Militärlaufbahn verpflichtet, zählt die Jahre, bis der Chef des Hauses Habsburg, Kaiser Franz Joseph, endlich stirbt. Jahrzehnt auf Jahrzehnt vergeht, seine jugendliche Machtgier verwandelt sich in Hass und Bitterkeit, trotzdem kämpft er um jeden Millimeter Einfluss, richtet sich ein Nebenregierungsbüro ein, kritisiert, korrigiert und sabotiert die politischen Maßnahmen des Chefs, wird immer wütender und verzweifelter, schmiedet tausend politische Pläne, mit denen er sich unzählige Feinde macht, und wird letztlich Opfer seiner eigenen Unentschlossenheit. Dabei hatte er große politische Visionen.

Winder, der 1946 mit nur 57 Jahren im englischen Exil starb (sein Roman wurde bis zur jetzigen Ausgabe nur noch einmal, 1984, in der DDR aufgelegt), blieb lebenslang ein Anhänger der habsburgischen Vielvölkerstaatsidee und lässt seinen Antihelden, den er stellenweise mit überraschender Reflexionsfähigkeit ausstattet, sagen: "Man mußte den Nationen beibringen, daß die vielen kleinen Staaten, in die Österreich-Ungarn zerfiel, wenn es das große Reich nicht mehr gäbe, der Willkür aller expansionistischen Großmächte ausgesetzt wären. Allen Nationen mußte beigebracht werden, daß das Habsburgerreich eine europäische Notwendigkeit war und daß sie Selbstmord begingen, wenn sie die Einheit, den Bestand der Monarchie untergraben wollten. Aber wie konnte diese Idee gefestigt werden?" Das war die große Frage, deren Beantwortung sich der Kaiser konsequent entzog und lieber ein "Mumienkabinett" um sich scharte, das ihn erfolgreich von aller Unruhe abschirmte.

Die hellsichtige Schilderung der politischen Verhältnisse, die zur Kriegserklärung an Serbien führen, lassen den Roman zur lehrreichen Lektüre werden. Der nach Einfluss gierende Thronfolger stand zwischen allen Fronten, seine Ermordung bot den langersehnten Anlass loszuschlagen. Ein Thema von trauriger Aktualität: In Belgrad soll jetzt dem nationalistischen Attentäter Gavrilo Princip ein Denkmal errichtet werden.

"Schlafwandler" hat Christopher Clark die politisch Verantwortlichen von damals genannt, und Winders Roman liefert dazu eine subtile und spannende psychologische Studie. Er übt harsche Kritik an einer genusssüchtigen Elite, die in Doppelmoral erstarrt und mitleidlos war, und erzählt emphatisch von einem schwachen, liebesunfähigen Menschen, der voller Selbstzweifel eine undankbare Rolle ausfüllte. Seine Hauptfigur ist weder freundlich noch nobel - aber überaus eindrucksvoll.

NICOLE HENNEBERG

Ludwig Winder: "Der Thronfolger". Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014. 576 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Als große Wiederentdeckung feiert Joseph Wälzholz die Neuauflage des 1938 erschienenen Romans von Ludwig Winder. Wie der Autor dem Leser trotz allen Wissens über den Ausgang der Geschichte das Leben und Wirken Franz Ferdinands aufs Unterhaltsamste nahebringt, wie er ironisch das Paradoxe der Monarchie beleuchtet und deren Zerfall den Leser "mit dem Gefühl" nachvollziehen lässt, wie er schließlich die Psychologie aller Beteiligten begreifbar macht, das hat den Rezensenten fasziniert. Wie einen Thriller liest Wälzholz den Ablauf des Schicksalstages. Das Nachwort scheint ihm kundig und gleichfalls lesenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2014

Ein Untergeher
Kein Werk der Nostalgie: Ludwig Winders Roman „Der Thronfolger“
über Franz Ferdinand ist endlich wieder da
VON GUSTAV SEIBT
Der wahre Sieger des Ersten Weltkriegs heißt Gavrilo Princip. Der neunzehn Jahre alte Gymnasiast, der am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger ermordete, löste damit die Ursachenkette aus, die am Ende zu dem führte, was er und seine Mitverschworenen von der „Mlada Bosna“ und der nationalserbischen „Schwarzen Hand“ ersehnten: einen zusammenhängenden Staat, der das Selbstbestimmungsrecht der südslawischen Völker verwirklichte, das Königreich Jugoslawien.
  Die Koalition derer, die glaubten, dass die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie mit ihrem Völker-, Sprachen- und Religionengemisch am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr überlebensfähig war, ist groß und unehrenhaft: Sie reicht von antisemitischen Alldeutschen bis zu serbischen Nationalisten, und bis heute gehören ihr westdeutsche Modernisierungstheoretiker und Vertreter des Selbstbestimmungsrechts der Völker an. Jedes große oder kleine Volk des angeblichen habsburgischen Völkerkerkers rüttelte an den Gitterstäben, und so entstanden, wie Martin Mosebach jüngst bemerkte, immer kleinere Kerker, bis die Völker endlich in Einzelhaft saßen – der Vorgang wurde erst vor einigen Jahren in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien zu Ende gebracht.
  Die interessantesten Nachrufe auf die K.-u.-k.-Monarchie werden bis heute von Juden geschrieben, die eine imposante Liste von Autoren bilden, mit Namen wie Joseph Roth, Stefan Zweig oder jüngst wieder Hannes Stein. Zu ihr zählt auch der Feuilletonist und Romancier Ludwig Winder, der 1889 im mährischen Safov (damals Schaffa) geboren wurde und 1946 im englischen Baldock als Emigrant starb. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren war er Redakteur der deutschsprachigen Prager Zeitung Bohemia , und nach Kafkas Tod wurde er in Max Brods kleinen Prager Kreis berufen, als sein Nachfolger. Er gehörte also führend zu der Prager deutschsprachigen Literatur, die wesentlich von jüdischen Autoren getragen wurde und die nach 1938 von dem antisemitischen Österreich-Flüchtling und Habsburg-Hasser Adolf Hitler verjagt und vernichtet wurde.
  Winder ist ein eigenständiger, origineller Erzähler, den ein Kenner wie Karl-Markus Gauß im literarischen Rang an die Seite von Roth und Zweig stellt. Seine Romane behandeln kritisch die Geschichte des sich aus dem Ghetto befreienden Judentums, die Psychologie autoritärer Charaktere beim Übergang von altständischen zu modernen Gewaltverhältnissen und den Untergang des österreichischen Vielvölkerstaats. Er war ein Autor, der sich mit zeitgenössischen Fragen in einer historischen Perspektive beschäftigte, religiös, sozial, mentalitäts- und politikgeschichtlich. Und er ist so vergessen, dass es einen traurigen Gedenktag brauchte, um sein Hauptwerk, den „Thronfolger“, die Romanbiografie von Franz Ferdinand, jetzt wieder herauszubringen.
  Dies geschieht nun mit einem gelehrten, liebevollen Nachwort von Ulrich Weinzierl, der einer der besten Kenner der Wiener Literaturgeschichte um 1900 ist, und darüber hinaus als brillanter Kritiker ein später Kollege Winders. Der „Thronfolger“ ist der Roman der sterbenden Monarchie. Sein Aufbau folgt der Biografie des Helden, die historiografisch so genau verfolgt wird, dass man Winders 1937, ein halbes Jahr vor dem „Anschluss“ erschienenes, in Österreich aber schon verbotenes Buch heute zusammen mit einer wissenschaftlichen Darstellung lesen kann, um die wenigen Abweichungen vom modernen Kenntnisstand zu notieren.
  Alma Hannigs auf neuen Archivstudien beruhende, dabei fast trocken knappe Darstellung profitiert ihrerseits stark von der Gegenprobe durch den einfühlsamen und scharfsinnigen Roman. Ein schönes Zusammenspiel: Positivistische Forschung und ausgestaltende Fiktion zeigen gemeinsam, was sie können, um einen historischen Stoff zu erschließen.
  Winders „Thronfolger“ ist kein Werk der Nostalgie. Der Roman ist viel kälter als Joseph Roths Romane „Radetzkymarsch“ und „Kapuzinergruft“, er zeigt das, was Stefan Zweig im Untertitel seiner formal ganz ähnlichen Biografie von Marie Antoinette als „mittleren Charakter“ bezeichnet: eine keineswegs durchweg einnehmende, vielmehr gequälte, quälerische, jähzornige, misstrauische, aufbrausende, zuweilen grausame Person. Berüchtigt ist die Jagdleidenschaft des Erzherzogs, der im Lauf seines Lebens mehr als 270 000 Tiere, man kann es nicht anders sagen: abknallte.
  Als Enkel des neapolitanischen Bourbonen-Königs Ferdinand, der als „ré bomba“ berüchtigt wurde, weil er 1848 seine eigene Bevölkerung bombardieren ließ, war ihm ein Erbe reaktionärer Bigotterie in die Wiege gelegt (neben einer Lungentuberkulose der früh verstorbenen Mutter), das die wenig kindgerechte, aufs Militärische konzentrierte Adelserziehung zum Erzherzog nicht aufhellen konnte. Franz Ferdinand war ursprünglich kein Thronfolger, dazu machten ihn erst das mexikanische Abenteuer seines Vetters Maximilian und der Selbstmord des anderen Vetters Rudolf.
  Der erzählerische Kern von Winders Roman ist Franz Ferdinands Kampf um die Ehe mit der nicht-standesgemäßen böhmischen Gräfin Sophie von Chotek, die gegen das habsburgische Hausgesetz, gegen den erbitterten Widerstand des hier gar nicht gütigen Kaisers Franz Joseph und des gesamten ständischen Apparats der Monarchie erkämpft werden musste. Das ist ein Gegenstand, der Gefühl und Politik aufs interessanteste vermischt, denn er erzeugt nicht nur die Sympathie, die eine schöne Leidenschaft leicht erweckt, sondern zeigt auch die Verfassungsprobleme des monarchischen Staats: Ebenbürtigkeitsregeln beispielsweise galten nur fürs deutsche Haus Habsburg, nicht aber für die alte Krone Ungarns, die ihm nur durch Personalunion gehörte.
  Hier drohte im Fall der Erbfolge also die Gefahr der Spaltung. Wie stand das alte böhmische Recht dazu? Würde man den Hass zwischen den Staatsvölkern, der sich auch an dieser Frage entzündete, durch ein drittes monarchisches Standbein bei den Südslawen entschärfen können? Die ganze Struktur des Gebildes beginnt prismatisch zu schillern, wenn sie durch eine solche staatsrechtliche Ausnahme auf die Probe gestellt wird. Die beste Szene von Winders Buch, Franz Ferdinands feierlicher Verzicht auf die Thronfolge seiner künftigen Kinder mit Sophie vom Chotek – in einem Eid geleistet ausgerechnet am 28. Juni 1900, seinem späteren Todestag – ist nicht nur ein Moment beklemmender Demütigung, sondern auch ein Blicks ins kalte Herz der alteuropäischen Legitimität. Zeremonien können so grausam sein.
  Winders Erzählung macht wenig Hoffnung, dass dieser Thronfolger, wäre er nicht erschossen worden, das schwerfällig-fragile Gebilde Österreich-Ungarn hätte retten können. Kaiser Franz Joseph flüchtete sich in eine penible Aktenführung, die nationale Empfindlichkeiten bestenfalls unterlief. Unterdessen wählten die Wiener einen demagogischen Antisemiten zum Bürgermeister, jener Dr. Karl Lueger, dem der Kaiser viermal die Bestätigung verweigerte – der demokratisch gewählte Volksheld setzte sich durch. Die Journale der freien Presse hetzten die Völker gegeneinander auf, die Geschichts- und Sprachprofessoren – Vorläufer jener Modernisierungstheoretiker, die der K.-u.-k.-Monarchie bis heute die Existenzberechtigung absprechen – bewiesen haarscharf, dass die Deutschen besser ins Deutsche Reich gehörten, die Italiener nach Italien, die Kroaten nach Serbien. Dass Österreich zur gleichen Zeit eine moderne Verwaltung, ein luxuriöses Eisenbahnnetz, Theater, Schulen und Bibliotheken in allen Provinzstädten bereitstellte, zählt selbst heute kaum noch.
  Franz Ferdinand scheint, auch unter dem Eindruck einer Weltreise, die ihn durch die USA führte, eine Zeit lang an „Vereinigte Staaten von Österreich“ gedacht zu haben, also an eine Föderalisierung. Dass er weder der Ungarn-Hasser war, als der er lange dargestellt wurde, noch an einen deutsch-ungarisch-slawischen „Trialismus“ wirklich glaubte, zeigt Hannig. Auch war er gewiss kein Pazifist, wie man nach 1918 verzweifelt hoffte, als alles in Trümmer sank. Es muss daher eine offene Frage bleiben, wie Franz Ferdinand sich als Kaiser zu den Problemen verhalten hätte, deren schier unlösbare Gewalt er nicht zuletzt durch sein Heiratsproblem am eigenen Leib erfahren hatte.
  Trotzdem sagt schwerlich die ganze Wahrheit, wer bis heute behauptet, die Sache Österreichs sei auf jeden Fall verloren gewesen. Winders bis an den Rand der Verzweiflung skeptisches Buch enthält gegen Ende eine längere Passage, die seinen eigentlichen Nachruf auf das österreichische Friedensreich darstellt. Sie spricht vom Wohlstand, der Friedenssehnsucht, der Hoffnung auf Verbesserung bei den vielen, die nur arbeiten und leben wollten, die keine Zeitungsartikel, Geschichtsbücher und Rassentheorien im Kopf hatten: „Es duftete das Heu, es war Segen und Zufriedenheit über das Land gebreitet, es mundete nach der Arbeit das Brot, und wenn der Sonntag kam, war herrlich ein Glas Wein und ein Spaziergang über Land, mehr wollte niemand.“ Aber im nächsten Satz ist schon wieder von den Zeitungen die Rede, die Tag für Tag behaupteten, so sei es gar nicht. Man begreift an dieser Stelle etwas von dem abgrundtiefen Hass des auch von Winder bewunderten Karl Kraus gegen die Presse, die Demiurgin einer „zweiten Wirklichkeit“ (um hier auch noch Heimito von Doderer zu zitieren), die den Menschen ihre konkreten Erfahrungen ausreden will.
  Den Kampf und den Sieg des Schulbuben und Zeitungslesers Gavrilo Princip erzählen dann die letzten Kapitel von Winders großem Roman ebenso spannend und ähnlich genau wie jüngst Christopher Clarks „Schlafwandler“, und wir erfahren: Das hat man 1937 also auch in allen wesentlichen Zügen schon gewusst. Warum spielte es dann bei den Historikern seither, die sich vor allem in die deutsche Kriegsschuld verbissen, eine so geringe Rolle? Vor dem Ersten Weltkrieg stand das erfolgreiche Attentat gegen die Habsburger Monarchie, daran darf man zum Gedenken an den Sommer 1914 erinnern.
  Dass die Wiener Regierung, verblendet von ihrem dynastischen Dünkel, es versäumte, in einem großen Staatsbegräbnis die Regierungen aus ganz Europa an diese Leiche zu rufen, begreift man dank Winders Roman als den ersten von zahlreichen Fehlern, die in den Wochen nach dem Mord gemacht wurden.
Ludwig Winder: Der Thronfolger. Roman. Herausgegeben von Ulrich Weinzierl. Zsolnay Verlag, Wien 2014. 575 Seiten, 26 Euro.
Alma Hannig: Franz Ferdinand. Die Biographie. Amalthea Verlag, Wien 2013. 349 Seiten, 24,95 Euro.
Die interessantesten Nachrufe auf
die K.-u.-k.-Monarchie werden
bis heute von Juden geschrieben
Franz Ferdinand scheint eine
Zeit lang an „Vereinigte Staaten
von Österreich“ gedacht zu haben
Darstellung des Attentats in der italienischen Zeitung La Domenica del Corriere .
Foto: Art Archive / images.de
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr
"Einer der klügsten Romane über die letzten Jahre der k. u. k. Monarchie und das Porträt einer ganzen Gesellschaft, die ihrem Untergang entgegenzaudert." Karl-Markus Gauß, Die Zeit, 23.01.14

"Dieses Buch ist sensationell." Peter Pisa, Kurier, 01.02.2014

"Ein Roman voller Sprengkraft, literarisch und politisch." Susanne Schaber, Ö1 ex libris, 16.02.14

"Eine kapitale Wiederentdeckung. Ein packender Roman und ein feinfühliges, glänzend geschriebenes Psychogramm eines Menschen in permanenter Wartestellung." Bernd Noack, BR-Diwan, 22.02.14

"Pflicht- und Kürlektüre für all diejenigen, die sich in Habsburgs Untergang einfühlen wollen!" Rainer Blasius, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.03.14

"Ein finsteres, großartig inhaltsreich und konzis geschriebenes Buch, das nun wohl hoffentlich den gebührenden Ehrenplatz in der österreichischen Literatur bekommen wird." Walter Klier, Wiener Zeitung, 26.04.14

"Eine subtile und spannende psychologische Studie. Winder übt harsche Kritik an einer genusssüchtigen Elite, die in Doppelmoral erstarrt und mitleidlos war, und erzählt emphatisch von einem schwachen, liebesunfähigen Menschen, der voller Selbstzweifel eine undankbare Rolle ausfüllte." Nicole Henneberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.05.14

"Die romanhafte Fiktion ist mit den besten Wassern der Ironie und der Psychologie gewaschen und hält sich in wunderbarem Gleichgewicht mit den historischen Fakten." Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 07.06.14

"Ein Porträt, das atmosphärisch dicht, historisch exakt und psychologisch differenziert ist, vor allem aber auch: menschlich gerecht." Oliver Pfohlmann, Deutschlandfunk, 20.08.14
…mehr