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Wer kennt das legendenumwobene, weit verstreute Volk der Aromunen? Was ist vom Kampf der Gottscheer gegen den großen Wald übrig geblieben? Wie erleben die letzten sephardischen Juden von Sarajevo, Erben der reichen spaniolischen Kultur auf dem Balkan, ihren Untergang? Warum konnten sich die albanischen Arbereshe in Süditalien und die slawischen Sorben in Deutschland über Jahrhunderte behaupten? Karl-Markus Gauß, dessen Aufmerksamkeit seit langem den randständigen Nationalitäten gilt, ist in den vergangenen Jahren immer wieder aufgebrochen zu jenen kleinen Völkern, denen Europa seine Vielfalt…mehr

Produktbeschreibung
Wer kennt das legendenumwobene, weit verstreute Volk der Aromunen? Was ist vom Kampf der Gottscheer gegen den großen Wald übrig geblieben? Wie erleben die letzten sephardischen Juden von Sarajevo, Erben der reichen spaniolischen Kultur auf dem Balkan, ihren Untergang? Warum konnten sich die albanischen Arbereshe in Süditalien und die slawischen Sorben in Deutschland über Jahrhunderte behaupten?
Karl-Markus Gauß, dessen Aufmerksamkeit seit langem den randständigen Nationalitäten gilt, ist in den vergangenen Jahren immer wieder aufgebrochen zu jenen kleinen Völkern, denen Europa seine Vielfalt an Kultur verdankt. Offen, neugierig, immer aber auch selbstbewusst und stolz auf ihren Traditionen beharrend, waren und sind sie das Salz des Kontinents. Doch wie lange noch? In verlassenen mazedonischen Dörfern und in pittoresken kalabrischen Gemeinden, in idyllischen Landschaften und zerstörten Städten ist Gauß wandernd und erfahrend auf der Suche gewesen nach der Geschichte historischer Region en. Er hat sich mit alten Frauen, mit klugen Rabbinern, vielsprachigen Überlebenskünstlern und fanatischen Nationalisten getroffen und erzählt in seinem neuen Buch vom Schicksal jener, die es zu keinem eigenen Nationalstaat gebracht haben und oft nicht einmal als sogenannte Minderheiten anerkannt sind.
Seine Reisebilder verbinden Naturbeschreibung, Stadtporträt, Exkurs in unbekanntes Gelände der Kulturgeschichte, politische Skizze und Erzählung von unverwechselbaren Menschen zu einer wunderbaren Form von Literatur.
Autorenporträt
Karl-Markus Gauß, geb. 1954, schreibt für große Zeitungen wie die 'ZEIT', die 'FAZ', die 'NZZ' und 'Die Presse'. Er ist Autor und Herausgeber der Zeitschrift 'Literatur und Kritik' und lebt heute in Salzburg. Der Essayist erhielt 2006 für sein Gesamtwerk den 'Georg-Dehio-Buchpreis' des Deutschen Kulturforums östliches Europa sowie den 'Manès-Sperber-Preis', 2007 den 'Mitteleuropa-Preis' und 2009 den 'Donauland-Sachbuchpreis'. Im Jahr 2010 wurde ihm der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay verliehen, 2014 der Österreichische Kunstpreis in der Kategorie Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2001

Die letzten Eingeborenen Europas
Vor den Staaten sterben die Völker: Karl-Markus Gauß besucht Sepharden, Gottscheer Deutsche und Aromunen · Von Karl Schlögel

In seinem Buch über "Nicht-Orte" hat Marc Augé das 21. Jahrhundert einmal das Jahrhundert der Anthropologen genannt. Er meinte damit, daß die Anthropologie jene Disziplin sei, die am angemessensten auf die vor unseren Augen ablaufende dramatische Auflösung und Neubildung sozialer Räume reagieren könne, und rief zu einer Erkundung dieser bislang noch wenig erforschten Orte auf.

Aber noch weit diesseits der Nicht-Orte, die die Postmoderne offenbar hervortreibt, gibt es Orte, die uns die Moderne hinterlassen hat, wahre Arkana im Horizont des gebildeten Durchschnittseuropäers. Einer ihrer großen Kenner und Spezialisten ist seit vielen Jahren Karl-Markus Gauß. Wenn man sich mit seinem jüngsten Buch über die sterbenden Europäer in der Hand auf den Weg macht, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wir entdecken ein Europa, das es immer noch gibt: ein Europa der Völkersplitter, der Restvölker, des "Völkerschutts", der ethnischen und sprachlichen Trümmerlandschaften, wie kleine Völker in den Geschichtsbüchern der großen meist genannt werden. Viele von ihnen - etwa die sephardischen Juden auf dem Balkan, die Sorben, die Gottscheer Deutschen - kennen wir wenigstens dem Namen nach, von anderen - den Arbereshe oder den Aromunen - haben wir nur selten gehört.

Nun stellen wir fest: Es gibt sie - noch. Gauß unternimmt seine Reisen zu den unbekannten europäischen Stämmen in einem Augenblick, da sie nach langer Zeit wieder die Bühne betreten, von der sie so lange verbannt waren, und in einem Augenblick, wo offenbar der unverminderte und für unmöglich gehaltene Furor der ethnischen Säuberung über bisher noch verschonte Zonen hinwegfegt und die Reste der Vielvölkerlandschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas mit sich nimmt.

Wenn man diese selten gewordenen Exemplare von Europäern antreffen will, muß man mit Gauß nach Sarajevo, Istrien, Kalabrien, in die Lausitz und nach Makedonien aufbrechen, erst mit dem Flugzeug, dann per Bus oder Auto in entlegene Gegenden, vielleicht auch nur ein Tal. Von manchen Städten und Wohngebieten ist fast nichts geblieben. Die Dörfer in der Gottschee, unweit von Laibach, sind in der Folge von Umsiedlung, Krieg, Vertreibung verschwunden, der Wald hat sich zurückgeholt, was ihm von den vor vielen hundert Jahren ins Land gerufenen Kolonisten einst abgerungen worden war.

Oft ist der erste Anlaufpunkt für Gauß' Recherchen der Friedhof, etwa der sorbische Friedhof in Ralbicy/Ralbitz, die Reste des Friedhofs in Stari log/Altlag am Rand des Hornwalds in der Gottschee. Der Besuch des jüdischen Friedhofs in Sarajevo, der hoch über der Stadt liegt und an dessen Einfassungsmauern die Grenze zwischen Belagerern und Belagerten, die Front zwischen den Eingeschlossenen und den Heckenschützen verlaufen war, ist womöglich ein symptomatischer Ort. Ein Friedhof als Frontlinie, die Verletzung der Grabesruhe von Toten als der erste Schritt zum versuchten Städtemord.

Siebenhundert Juden leben heute noch in Sarajevo, viele von ihnen sind in den letzten Jahren ausgewandert, ein großer Teil nach Spanien, von wo sie vor 500 Jahren vertrieben worden waren. Kaum finden sich die zehn Gläubigen, die für den Gottesdienst gebraucht werden. Auch in Slowenien ist von der Insel der Gottscheer Deutschen nichts außer Spurenelementen übriggeblieben. Die Dörfer von einst sind abgetragen, die Kirchen gesprengt. Die Abkömmlinge der Gottscheer Deutschen finden sich heute eher im Internet, auf den Websites der Gottscheer, die, obwohl seit Generationen in Nordamerika lebend, sich für ihre Herkunft interessieren und ihre Heimat im Internet virtuell bereits neu begründet haben.

Auch die Arbereshe gibt es wirklich - südlich von Neapel. Sie kamen auf der Flucht vor der osmanischen Eroberung ihrer Heimat im späten 15. Jahrhundert hierher. An ihnen kann man zeigen, daß Diaspora und Leben in der neuen Welt neue kulturelle Mischungen produzieren. Sie sind katholisch, aber mit dem Reichtum des byzantinischen Christentums, sie feiern nach dem griechisch-katholischen Ritus und erkennen den Papst doch als ihr Oberhaupt an, ihre Priester sind verheiratet, die Bischöfe nicht. Ihre Existenz ist weniger bedroht von einer bewußten staatlichen Assimilationspolitik als vielmehr von den typischen Prozessen der Moderne wie Arbeitsmigration und Urbanisierung, die den Zusammenhang der Sprache, der Kultur und Tradition lockern und auflösen.

Paradoxerweise ist die Existenz der Sorben in einer deutschen Umwelt, so meint jedenfalls Gauß, gerade ein Moment ihrer Erhaltung geworden. Wäre die Lausitz mit der Tschechoslowakei zusammengeschlossen worden - solche Überlegungen gab es durchaus - wären die Sorben unter den größeren westslawischen Brüdern und Schwestern verschwunden. So aber hat der Druck der deutschen Umgebung eher zur Abwehr und zur Selbstverteidigung geführt. Auch die sorbisch-wendische Gemeinde ist geschrumpft. Die rücksichtslose Modernisierung hat die Lebensformen und Traditionen untergraben: Zeitweilig war sogar der Osterritt infolge eines durch die Kollektivierung verursachten Pferdemangels in Gefahr. Gravierender scheint Gauß indes die Gefahr, die in der Folklorisierung liegt. Die letzten Sorben, so befürchtet Gauß, sind "Eingeborene, die keine Erinnerung mehr haben, doch ihren Lebensunterhalt mit einer Vergangenheit bestreiten, der sie gründlich entfremdet wurden. In falsche Trachten gezwängt, ein paar sorbische Grußworte wie betrügerische Schmeicheleien im Munde, bedienen sie die Sehnsucht jener, die trunken nach Heimat und Ursprung sind und sie, gleich wohin sie von der Tourismusindustrie verfrachtet werden, unfehlbar dort entdecken, wo sie bereits gründlich zerstört sind." Wiederum ein anderes Moment kommt bei den Aromunen im Süden Makedoniens zum Tragen, ein Volk, das im Osmanischen Reich vom Handel lebte. Ihre auf Grenzenlosigkeit gegründete Gemeinschaft geriet mit dem modernen Nationalstaat in Gefahr.

So sind es ganz verschiedene Momente - moderne Nationalstaatsbildung, Territorialisierung und Grenzziehung, ethnische Homogenisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, politische Gewalt wie Krieg und Vertreibung -, die zu einer Dezimierung der Völkerschaften geführt haben, zum Verschwinden durch Assimilation, Vertreibung und Völkermord. Ihre Fortexistenz gibt eine Vorstellung vom ethnischen und kulturellen Reichtum der Vielvölkerimperien von einst und von der Beschränktheit, in die der moderne Nationalstaat vor allem in seiner rabiat homogenisierten Gestalt hineingesteuert ist.

Als Fremder, der zum ersten Mal auf diese "Alt-Eingeborenen" trifft, ist man erstaunt, wie vielfältig Europa einmal war und wie reich es immer noch ist. Eine Ahnung von Unübersichtlichkeit befällt einen, denn selbstverständlich hat Gauß nur eine kleine Gruppe im südöstlichen Europa ans Licht gehoben. Wie viele vergessenen Stämme und Völker mitsamt ihren Geschichten und Kulturen, die in den großen Erzählungen der Nationalstaaten kaum eine Rolle spielen, kämen zum Vorschein, wenn wir Europa vom Baltischen bis zum Adriatischen Meer und zur Ägäis durchmessen würden! Überall würden wir Gemeinschaften begegnen, die aus Fluchten und Migrationen vor vielen hundert Jahren hervorgegangen sind und wie durch ein Wunder bis auf den heutigen Tag überlebt haben.

Karl-Markus Gauß lehrt uns das Staunen über den Reichtum Europas. Er macht uns etwas schaudern angesichts der von der Dialektik des Fortschritts in Gang gesetzten Dezimierung und Verarmung, aber ein bißchen auch hoffen, daß etwas vom Reichtum sich erhalten oder sogar neu bilden möge. Vielleicht sind die Abereshe von Civita in Kalabrien oder die Aromunen von Bitola doch nicht nur "sterbende Europäer", sondern doch auch "eine Versuchsstation, in der alte Dörfler die Zukunft der Welt erproben".

Karl-Markus Gauß: "Die sterbenden Europäer". Unterwegs zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arbereshe und den Sepharden von Sarajevo. Zsolnay Verlag, Wien 2001. 240 S., geb., 39,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nach Hans-Peter Kunisch gelingt es dem Autor hier, das "zu sehen, was andere überfliegen". Und so bewegt sich Gauß, wie der Leser erfährt, abseits von Ost-West-Ideologien in Ländern und auf den Spuren von Kulturen, die normalerweise nicht im Blickpunkt stehen. Etwa in Kalabrien, wo katholische Albaner schon seit fünfhundert Jahren leben, ihre Pfarrer sogar mit Segen des Papstes heiraten dürfen und die ihre Messen auf griechisch lesen, auch wenn sie sonst albanisch und italienisch sprechen. Kunisch gefallen Ausflüge dieser Art, die Gauß auch in andere Gegenden Europas unternimmt, weil es hier "nicht auf die Zahl der Kilometer" ankomme, um etwas von Europa zu erfahren, sondern auf den Blick. Dabei zeigt sich Gauß, wie der Rezensent anerkennend bemerkt, "selten idyllisierend, nie naiv", sondern vor allem als Spurensucher, als "sorgfältiger Geschichtensammler und Privat-Wissenschaftler".

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"Kein Zweifel kann daran bestehen, dass es sich hier um einen wichtigen, differenzierten, nachdenklich stimmenden Beitrag zum kulturellen Selbstverständnis eines sich neu formierenden Europa handelt." Renate Wiggershaus, Neue Zürcher Zeitung, 14./15.4.01 "Der Essayist Karl-Markus Gauß reist nicht nur mit dem Flugzeug und Auto durch Europa, sondern auch in Büchern und Geschichten. Sein Ziel ist das Europa vergessener Menschen und Minderheiten. Die Kombination aus Recherche, Reisebericht und Reflexion fördert Verständnis für nationale und politische Konflikte und bringt Überraschendes zutage." Robert Streibl, Die Furche, 5.4.01 "Ein bewegendes Buch. (...) In Gauß' Studien verbinden sich politische Analyse, historischer Exkurs, kulturphilosophische Reflexion, Reportage, Interview und Reisebild zu einer Eigengattung von hoher literarischer Qualität - und Lesbarkeit." Andreas Nentwich, Die Zeit, 26.07.01
»Die europäische Landschaft ist voll von Ruinen. Der österreichische Publizist ist ihr kundiger und subtiler Leser. Er ist den Misstönen des Sozialen auf der Spur, weil er ein gutes Gehör für Ungerechtigkeiten aller Art hat. Er erkennt sie im Großen und in Einzelbiografien, in denen sich oft auch wieder nur das Gesamtbild spiegelt.« Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung