Marktplatzangebote
23 Angebote ab € 0,99 €
  • Gebundenes Buch

"So stiegen sie den Grubenrand hoch, und hinter ihnen das Gebell wurde leiser. Bald sahen die Jungs eine Libelle; die mathematische Anmut ihrer Geraden, und sie spürten diesen Augenblick in sich, diesen Blick, wenn man frei ist."In der Maschinenstickerei Kronhardt&Sohn rattern nach dem Krieg die Maschinen, als wäre nichts gewesen. Willem, einziges Kind der Firmenerbin, wächst unter der strengen Kontrolle von Mutter und Stiefvater auf. Früh geht er auf Distanz, sucht seine Freiheit auf ausgedehnten Ausflügen in die Natur und in der Begegnung mit ganz unterschiedlichen Menschen. In bewegenden…mehr

Produktbeschreibung
"So stiegen sie den Grubenrand hoch, und hinter ihnen das Gebell wurde leiser. Bald sahen die Jungs eine Libelle; die mathematische Anmut ihrer Geraden, und sie spürten diesen Augenblick in sich, diesen Blick, wenn man frei ist."In der Maschinenstickerei Kronhardt&Sohn rattern nach dem Krieg die Maschinen, als wäre nichts gewesen. Willem, einziges Kind der Firmenerbin, wächst unter der strengen Kontrolle von Mutter und Stiefvater auf. Früh geht er auf Distanz, sucht seine Freiheit auf ausgedehnten Ausflügen in die Natur und in der Begegnung mit ganz unterschiedlichen Menschen.
In bewegenden Bildern und einprägsamer Sprache erzählt dieser große deutsche Entwicklungsroman über sechzig Jahre Leben in der Bundesrepublik. Kapitel für Kapitel öffnet sich ein Kosmos aus Ereignissen, Erinnerungen und Blickwinkeln, in dessen Zentrum die Suche des Menschen nach sich selber steht.
Autorenporträt
Ralph Dohrmann, geboren 1963, wuchs in Bremen auf. Er arbeitete u.a. als Reiseführer in Mexiko und Guatemala. Er lebt in der Nähe von Bremen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ralph Dohrmanns Roman "Kronhardt" ist eine "Langzeitlektüre", warnt Frauke Meyer-Gosau. Die ersten sechshundert Seiten schildern mit literarischem Realismus die kindlichen Abenteuer von Willem Kronhardt und seine ersten Erfahrungen mit Drogen, Sex und Politik als Student in den Sechzigern, fasst die Rezensentin zusammen. Kronhardt heiratet und fusioniert die elterliche Stickerei mit der Tuchhandelsfirma seiner Frau Barbara. Sie kümmert sich um die Geschäfte, er lehnt sich zurück und fristet ein Sofa-Leben. Das Bremer Lokalkolorit, das Dohrmann präsentiert, findet Meyer-Gosau etwas flach. Die Geschichte erfährt einen Bruch, als Kronhardt die Information zugetragen wird, dass sein Vater ermordet wurde, berichtet die Rezensentin. Die fortlaufenden Versuche, die Geschehnisse aufzuklären, treiben die Geschichte ins Surreale. Auch das muss man mögen, meint Meyer-Gosau. Wer sich auf das Buch einlässt, wird allerdings mit "phantastischem Realismus" und den wahrscheinlich schönsten Landschaftsbeschreibungen der norddeutschen Tiefebene seit langem belohnt, verspricht die Rezensentin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2012

Teilzeitunternehmer mit Eigensinn

Kühner Erstling: Ralph Dohrmann erzählt in seinem Roman "Kronhardt" von einer Bremer Tuchhandelsdynastie. Dabei kreist er, ganz im Geist der Romantik, um Freiheit und Einengung.

Die unaufhörliche Mahnung zur Erinnerung an das Leid, das die totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts dem Menschen zufügten, birgt zumal im Zusammenhang mit der Kritik der neuzeitlichen Naturbeherrschung eine schwer auflösbare Paradoxie. Sie fordert unterschwellig oder offen dazu auf, sich bloß nicht einzubilden, man könne als Privatperson so vor sich hin leben. Der Einzelne wird auch im demokratischen System ständig genötigt, sich für das angebliche Wohl der ganzen Menschheit verantwortlich zu fühlen und einzusetzen, und sei es auch nur bei der Mülltrennung. Wer sich zu sehr als ein Individuum aufführt, gerät nicht nur in deutscher Tradition leicht unter Verdacht, und gern wird der Individualismus, als ob es ihn noch gäbe, für die sozialen Defizite in der Moderne verantwortlich gemacht. Loblieder der Freiheit aber klingen selbst in Politikerreden ziemlich zaghaft.

Die Kulturindustrie betreibt die Standardisierung des Bewusstseins in der Modellierung des mobilen Erfolgsmenschen, gleichzeitig produziert sie eine Flut von Ratgeberliteratur, in der die seligmachende Abweichung in der selbstbezogenen Langsamkeit propagiert wird. So wird die Illusion des über sich selbst verfügenden Subjekts als eskapistischer Ramsch zur Ware. Indessen hat die Bildungspolitik die Idee des in der Bildung zur Selbstbestimmung gelangenden Individuums auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Das Ideal des europäischen Hochschulraums ist ein Subjekt, das sich in der Daueraktivität, in der pausenlosen Zirkulation von Wissen und der Aneignung von kommunikativen Kompetenzen unternehmerisch zu sich selbst verhält, um sich universal brauchbar zu erweisen.

Literatur fällt dabei unter Freizeitgestaltung und darf nicht unnötig aufhalten. Zumal der Bildungsroman erscheint uneinholbar in die Ferne einer untergegangenen Epoche entrückt. In seinem erstaunlichen Debüt zeigt der 1963 geborene, in Bremen aufgewachsene Ralph Dohrmann, dass das noch nicht ausgemacht ist, obwohl seinem neunhundert Seiten starken Epos das Etikett des Unzeitgemäßen wohl nicht erspart bleiben wird.

Die Bezüge zur Tradition verbirgt Dohrmann nicht, umso prägnanter treten die Abweichungen hervor. Sein Held heißt Willem, anders als Goethes Wilhelm Meister aber muss er ohne die geheim lenkende Weisheit einer planvollen Vorsehung durchs Leben gehen. Allenfalls bleibt davon übrig, dass er gelegentlich glaubt, eine "geisterhafte Fernwirkung" zu verspüren, im Guten wie im Schlechten. Er neigt zur Passivität eines Oblomow, entscheidet sich aber dazu, nur halbtags auf dem Sofa vor sich hin zu philosophieren. Olga gelingt es nicht, Oblomow vom Gefühl der Überflüssigkeit zu erlösen, für Willem dagegen ist die Ehe mit Barbara ein Refugium vor den Zumutungen der Gesellschaft. Dass er zeugungsunfähig ist, erhöht sein Behagen, denn wer Kinder hat, steht immer in Gefahr, von den Institutionen als Geisel genommen zu werden. Schließlich darf in einer Hansestadtsaga der Bezug auf die "Buddenbrooks" nicht fehlen. Willem geht zwar der hanseatische Unternehmergeist ab, mit dem Motiv der Dekadenz wird aber nur gespielt, trotz Arterhaltungsverweigerung neigt Willem zum Vitalismus.

So ist die Charakterisierung des Protagonisten einerseits zitathaft vom "Mann ohne Eigenschaften" bis zurück zur List des Odysseus, der das Lied der Freiheit vernimmt, ohne ihm zu verfallen, der sich verleugnet, um sich zu erhalten, und der sich bei James Joyce in einen vertrödelten Lebenskünstler verwandelt. Andererseits gelingt es Dohrmann, in der Figur glaubhaft die bundesrepublikanische Geschichte der letzten achtzig Jahre zu spiegeln, ohne dass der Held zum bloßen Prototyp geriete. Das Individuelle und das Allgemeine werden vielmehr in ein reizvolles, oft witziges Wechsel- und Widerspiel gesetzt. Der Leser merkt schnell, dass Willem eine kulturkritische Allegorie ist, versagt ihm dennoch nicht die Anteilnahme als literarische Person.

Willem Kronhardt soll eines Tages die Stickerei der alteingesessenen Familie übernehmen, die vom Kaiserreich bis in die Nazizeit schon gute Geschäfte gemacht hat und nun auch im Wirtschaftswunder floriert. Sein Vater ist bei einer Hafenrundfahrt auf mysteriöse Weise zu Tode gekommen, so wird das Kind von der dünkelhaften und in ihrer Sprache und Pädagogik mangelhaft entnazifizierten Mutter und dem Stiefvater streng erzogen und überwacht. Das Rattern der Stickmaschinen aber wird dem Jugendlichen bald zum Ausdruck eines fremdbestimmten Lebens. So wird er hellhörig für die Weisheit von Außenseitern wie dem kauzigen Hausarzt der Familie, der unter der Naziherrschaft zum Zyniker geworden ist und sein Erbarmen in misanthropischen Sprüchen verbirgt, oder dem alten Wachmann Zirbel, für den nach wie vor gilt, dass sie einen immer noch nicht sein lassen wollen, wer man ist. Auch in der Begegnung mit Menschen aus anderen Schichten und Kulturen entzieht er sich dem hanseatischen Elitebewusstsein und seiner Bestimmung zum Chef. Vor allem aber sucht er in der Beobachtung der Natur eine Gegenwelt zur Zweckrationalität des Gesellschaftlichen. In der eingehenden Untersuchung weiblicher Körper findet er tatsächlich einen höchst befriedigenden Gegensinn.

Dennoch studiert Willem Betriebswirtschaft und tritt in die Firma ein. Der autoritären Mutter widersetzt er sich eher subversiv, zum Revolutionär taugt er nicht, für Ideologie, ob linke oder rechte, hat er keinen Sinn. In der patenten Tuchhändlerin Barbara findet er gleich doppelt sein Glück. Mit ihr genießt er, da ein Stammhalter nicht möglich und gewünscht ist, eine von Zwecken freie Intimität, zugleich ist mit ihrem von Zwecken durchaus nicht freien Engagement die Firma gesichert. Auch Barbara ist traditionskritisch, freilich eher im neoliberalistischen Sinn der Wachstumsdynamik, und möchte daher, dass sich Willem gegen das Regime der Alten mehr "einbringt". Sie liebt aber genug, um Kompromisse zu akzeptieren, und so kann der standhafte Willem als Teilzeit-Oblomow mehr denn je seinen Interessen und der Kontemplation nachgehen.

Als seine Mutter stirbt und dem Leser bei aller Bewunderung von Dohrmanns epischem Atem langsam ein wenig die Puste ausgeht, setzt der Roman in einer Wendung nach der Art Shakespeares noch einmal neu an. Wie Hamlet entschließt sich Willem, den Tod seines Vaters aufzuklären. Das ist aber keine Frage von Sein oder Nichtsein, es geht eher amüsant zu. Dafür sorgen Ramow & Ramow, zwei Detektive, die einem Slapstick entsprungen scheinen. Die Ermittlungen dauern allerdings ziemlich lange, findet Willem und der Leser auch. Es handele sich eben um Grundlagenforschung, verteidigen sich die in ihrer Kompetenz bezweifelten Detektive, namentlich um die Aufklärung menschlicher Niedertracht in einer erneuten Inspektion der jüngeren deutschen Geschichte von der Nazizeit über die DDR zurück in den Bremer Hafen, in dem der finale Lokaltermin stattfindet, ehe Willem von seiner Barbara wieder in die Arme geschlossen wird.

Die Grundannahme des Romans formuliert Doktor Blask, wenn er, während der kleine Willem im Krankenbett liegt, reflektiert, "dass gerade Kinderköpfe offen sind für eine andere Wirklichkeit - eine Welt vielleicht, in der die Zeit rückwärtsläuft oder die Naturgesetze sich auflösen". Das ist im Grunde die frühromantische Vision einer grenzenlosen Bildsamkeit des Menschen. Willem hört "mit großen Augen" zu, und diese großen Augen wird er bald auf die Natur richten. Auch die Naturbeschreibungen des Romans sind in der Tradition der Romantik zugleich Blicke in die Außenwelt, die Freiheit von gesellschaftlicher Einengung und die eigene Befindlichkeit, die sich gleichwohl der naturwissenschaftlichen Beobachtung annähert. "Bald sahen die Jungs eine Libelle; die mathematische Anmut ihrer Geraden, und sie spürten diesen Augenblick in sich, diesen Blick, wenn man frei ist." Die scheinbare Schönheit und Mannigfaltigkeit der Natur erscheint als Beweis, dass der Sinn des Lebens das Lebendige selbst ist.

Frei aber wird Willem nur in der Beobachterperspektive, zu einer radikalen Änderung seines Handelns, zur "Metabolie" dringt er nicht durch. Dass es in der Menschenwelt kein richtiges Leben im falschen gibt, wird im Roman theoretisch nicht widerlegt, obwohl doch die Natur anderes zu verheißen scheint. Aus der Begegnung mit anderen Kulturen weiß Willem, dass man auch einfacher leben kann, ganz scheint er aber auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation nicht verzichten zu wollen. Im reflektierten Annehmen seiner eigenen Inkonsequenz aber dringt Willem wenigstens zu einem gemischten Selbstsein in Offenheit für das andere durch. So darf man sich Willem seinem Autor zufolge schließlich "als einen glücklichen Menschen vorstellen".

Willems Beobachterperspektive verschränkt sich mit der des Erzählers und äußert sich in einer stilisierten Mündlichkeit, durchsetzt mit philosophischen und metaphorisch gebrauchten naturwissenschaftlichen Kategorien. Das ist selbst die Sprache eines Beobachters, der nach Präzision strebt, sich aber nicht von einem durchgängigen Stilprinzip disziplinieren lassen will. So schweift die Erzählung nicht selten ab in allerlei sinnliches Durcheinander, Klamauk, Gefühlsplunder oder postkartenhafte Naturklischees. Gleichwohl betont der Roman seinen Kunstcharakter und setzt sich deutlich vom landläufigen Neorealismus der Darstellung bundesrepublikanischer Geschichte ab. Auch die Länge des Romans, der Elemente des kulturkritischen Essays in sich vereint, erscheint programmatisch. Dem Zwang zur Kürze und zur Schnelligkeit, der in den "Spielregeln für Sieger" obenan steht, will sich weder Willem noch der Erzähler beugen. Kompliment an das Lektorat, das offenbar auf das übliche Zurechtstutzen eines ambitionierten Debüts verzichtet hat.

Ralph Dohrmanns überraschender und kühner Erstling ist über manch eine Strecke mühsam zu lesen, aber dann immer wieder unterhaltsam und erhellend. Er öffnet auf so kunstvolle wie unverkrampfte Weise die Augen für die Widersprüche der Individuation in der modernen Gesellschaft. Dohrmann bedient sich höchst kreativ der Tradition des Bildungsromans und führt ihn zugleich witzig auf eine verlorengeglaubte Funktion der Literatur zurück. "Kronhardt" ist auch ein Stück intelligenter Ratgeberliteratur für Individuen, die sich in der modernen Gesellschaft unbehaglich und gestresst fühlen, namentlich ein überzeugendes Plädoyer dafür, sich für das angebliche oder tatsächliche Gemeinwohl unter Vorbehalt und am besten in Teilzeitbeschäftigung zu engagieren.

FRIEDMAR APEL

Ralph Dohrmann: "Kronhardt".

Roman.

Ullstein Verlag, Berlin 2012. 922 S., geb., 24,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2012

Etwas Besseres als Stickwaren findest du überall
In Ralph Dohrmanns Roman „Kronhardt“ verschlägt es einen Sofa-Nichtsnutz
von Bremen bis nach Südamerika – und am Ende gerät der literarische Realismus ins surrealistische Drogenmilieu
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Natürlich standen die ehrbaren Bürger Lübecks Kopf, sobald sie Thomas Manns „Buddenbrooks“ gelesen hatten: Höhnisch verzerrt war aus ihrer Sicht, wie der Autor die Wesenszüge ihrer Hansestadt literarisch charakterisiert hatte. Derartige Exaltationen der Bürger der Freien und Hansestadt Bremen braucht Ralph Dohrmann bei seinem Roman „Kronhardt“ nicht zu fürchten. Zwar werden sich ehemalige Schüler des „Alten Gymnasiums“ ärgern, dass der Name ihrer ehrwürdigen humanistischen Lehranstalt hier dem real existierenden „Hermann Böse Gymnasium“ übergestülpt und alles Mögliche kräftig verdreht wird, was die Schule einmal ausgemacht hat.
  Auch ist historisch vieles, was die Nachkriegszeit anlangt, verquer oder kommt gleich gar nicht vor – so liegt der Marktplatz Anfang der Fünfzigerjahre noch in Trümmern, doch weder gibt es die Sturmflut von 1962 noch die heftigen Demonstrationen Mitte der Sechzigerjahre oder gar die Gründung der Universität. Für einen Roman mit dem Anspruch, eine fiktive Bremer Firmengeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben, sind dies schon seltsame Fehlstellen.
  Die Stadt selbst bleibt auf Postkarten-Anblicke reduziert: Markt, Dom, Schnoor, Böttcherstraße, Wallanlagen, ein Eckchen vom Ostertor-Viertel, der Fluss, der Hafen – dies sind die Schauplätze. Und dann wieder muss man grinsen, wenn der Autor seinen noch kindlichen Helden an einem Nachmittag 40 Kilometer bis ins Teufelsmoor und dann die ganze Strecke wieder zurück radeln lässt: schon ein kleiner Teufelskerl, dieser Willem Kronhardt, künftiger Alleinerbe der von Mutter und Stiefvater geführten „Bremer Stickwaren Manufactur“, aber am Geschäft von Anfang an nicht interessiert.
  Um diesen Kronhardt geht es hier. Um sein Aufwachsen unter Drohgestalten, zu denen einem Skizzen von George Grosz einfallen, auch die Schulkameraden wirken befremdlich: Mal sind sie adlig, Abkömmlinge von Bankiers oder Staatsanwälten, mal heißen sie „Achim-das-Tier“, stammen aus Arbeiterfamilien und halten sich aufgrund einer obskuren Quotenregelung an der elitären Schule. Nur einer sticht heraus aus der Karikaturen-Versammlung, Kronhardts Freund Schlosser, der daheim einen Alkoholikervater und Zwillinge zu versorgen hat.
  Mit ihm brettert Willem auf einem frisierten Moped durch die Landschaft, mit ihm macht er die ersten sexuellen Erfahrungen, ihn begleitet er bis zu dessen Studienbeginn in Berlin, wo die Studentenbewegung in der Grand-Guignol-Szenerie einer „Kommune“ mit Drogen, Politik, Sex und Wahnsinn flott zusammengerafft wird. Den Ausflügen mit Schlosser aber verdanken wir andererseits auch intensive Naturbeschreibungen: Wer der Fauna und Flora der norddeutschen Tiefebene bislang nichts hat abgewinnen können, hier könnte er anderen Sinnes werden.
  Kronhardt selbst ist bei alledem vor allem Zuschauer und bleibt es im Wesentlichen auch, als Barbara auf den Plan tritt, Erbin einer alteingesessenen, am Rande der Pleite balancierenden Tuchhandelsfirma und bald Willems Ehefrau. Sie hat Spaß am Geschäft, und sobald sie ihr Familienunternehmen mit der Stickerei der Kronhardts fusioniert hat, geht es wirtschaftlich steil bergauf. Willem, der gern Naturwissenschaftler geworden wäre, aber auf elterlichen Wunsch ein Betriebswirtschaftsdiplom erworben hat, leistet dabei eher widerwillig Halbtagsdienste, die Führung bleibt Barbara überlassen. Und während sie als tüchtige Geschäftsfrau ihren Herzenswunsch nach Jaguar und Landhaus befriedigt, liegt Willem zumeist auf dem Sofa, liest naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, trinkt Kaffee, Wein und edle Schnäpse, hört Musik und geht abends mit seiner Frau beim Mexikaner Hector Luna essen, der sich mit Barbaras bester Freundin Inéz liiert. So weit, so ruhig, so betucht und gediegen.
  Bis Willem im zweiten Teil des Romans von einem Kriminellen der Floh ins Ohr gesetzt wird, sein Vater sei keineswegs eines natürlichen Todes auf einem Hafenrundfahrtsdampfer gestorben – er sei ermordet worden. Dies ist das Signal für den Auftritt des Detektiv-Duos Ramow & Ramow, und was knapp 600 Seiten lang eine etwas holzschnittartige Erzählung über einen gutwillig-versponnenen Sonderling war, erhält jetzt zunehmend surreale Elemente. Nach umwegigen Nachforschungen der Ramows enthüllt sich nämlich, wer der Bösewicht nicht nur in Kronhardts Familiengeschichte, nein, nachgerade in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war: Dr. Dr. Gustav von Wrangel, der in der Uckermark eine „Russenhure“ und deren Zwillingspärchen finanziell unterhält und in Diensten der Nationalsozialisten ebenso erfolgreich unterwegs ist wie in denen der Russen oder der Stasi. Mit diesem Mephisto und den inzwischen geheimdienstlich aufs Töten dressierten Zwillingen kommt es zu manch gefährlicher Situation; die Detektive aber, in wechselnde Kostüme gehüllt, behalten den Überblick. Und tuckern im dritten Teil mit Willem Kronhardt auf einem Hafenrundfahrtsdampfer bis nach Südamerika – oder war dies nur ein drogeninduzierter Traum? Wer das wüsste.
  Wirklich wichtig aber ist es auch wieder nicht. Wen es im ersten Teil nicht schon aufgrund der mal erdigen, dann wieder steilen, insgesamt an Erwin Strittmatter gemahnenden Erzählweise aus der Kurve getragen hat, der wird auf den folgenden abgedreht-phantastischen 320 Seiten wohl weiter bei der Stange bleiben. „Willem spürt das Zudringen fremder Körper und Gesichter, spürt Lockung und Berührungsfurcht; er verschmiert in der gleichgeschalteten Namenlosigkeit, verschmiert in der Zivilcourage seiner Landsleute, die sich die glänzenden Motive über ihrer Stadt, die Motive ihrer Herzen nicht nehmen lassen“ – so wird hier erzählt: Bewegungen gehen gern „stoßend“ vonstatten („das Taxis stößt ein ins Städtische“), sonst „zieht“ man oder „treibt“.
  Dergleichen muss der Leser, nebst dem häufigen „Verschmieren“ von Sinneseindrücken, schon mögen. Und muss Sympathien für den über Gott und die Welt räsonierenden Sofa-Nichtsnutz hegen, sonst wird nichts aus der Langzeitlektüre. Wer sich jedoch nicht irritieren lässt von Kronhardts stiller Freude an sich selbst und seinen Nächsten, der wird schließlich mit phantastischem Realismus belohnt. Und mit Naturbildern, die in der Gegenwartsliteratur kaum ihresgleichen finden.
Ralph Dohrmann: Kronhardt. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2012. 920 Seiten, 24,99 € .
Durch eine Quotenregel hält sich
„Achim-das-Tier“, Arbeiterkind,
am elitären Bremer Gymnasium
Dr. Dr. Gustav von Wrangel
entpuppt sich als Mephisto des
20. Jahrhunderts
Ralph Dohrmann, geboren 1963, ist in Bremen aufgewachsen. Jetzt hat er seinen fast tausendseitigen Debüt-Roman vorgelegt: Sein Held ist Sprössling einer Bremer Unternehmerfamilie, der zum Geschäftsmann nicht taugt.
FOTO: GERALD VON FORIS
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr