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Kaum je in der Kulturgeschichte hat es ein so schicksalhaftes Verhältnis zwischen Potentat und Künstler gegeben wie dasjenige von Stalin und Schostakowitsch. Solomon Wolkow, langjähriger enger Mitarbeiter des großen Komponisten, hat sich wie kein zweiter in diese ungleiche Beziehung vertieft. Er versteht es meisterhart, sie als Lehrstück von macht und Kunst vor dem Hintergrund der von Repression und Aufbegehren geprägten russischen Kulturgeschichte zu erzählen.

Produktbeschreibung
Kaum je in der Kulturgeschichte hat es ein so schicksalhaftes Verhältnis zwischen Potentat und Künstler gegeben wie dasjenige von Stalin und Schostakowitsch. Solomon Wolkow, langjähriger enger Mitarbeiter des großen Komponisten, hat sich wie kein zweiter in diese ungleiche Beziehung vertieft. Er versteht es meisterhart, sie als Lehrstück von macht und Kunst vor dem Hintergrund der von Repression und Aufbegehren geprägten russischen Kulturgeschichte zu erzählen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2004

Im Schutz der Gottesnarrenkappe
Solomon Wolkow erzählt, wie Dmitri Schostakowitsch über Stalin triumphierte
Als Dmitri Schostakowitsch (1906 bis 1975) erfuhr, auf welche Weise der mit ihm befreundete Theaterregisseur Wsewolod Meierhold von der sowjetischen Geheimpolizei gefoltert worden war, fiel er in Ohnmacht. Er war also zartbesaitet. Doch war dies nur eine Seite seines Charakters. Er konnte auch hart sein und hartnäckig. Er nahm sogar den Kampf mit Stalin auf - doch führte er ihn auf seine Weise, mit Mitteln der Musik, wie Solomon Wolkow in seiner eindrucksvollen Untersuchung über das Verhältnis des Kremlherrn zu dem Künstler darlegt.
Wolkow hatte Schostakowitsch in dessen letzten Lebensjahren sehr nahe gestanden. Der weltberühmte Komponist hatte dem Leningrader Musikstudenten seine Memoiren diktiert. Das Manuskript konnte aus der Sowjetunion herausgeschmuggelt werden, die Publikation erregte Aufsehen im Westen, weil sie auch die Mechanismen der Kulturpolitik des Massenmörders Stalin aufscheinen lassen. Dem sowjetischen Leser erreichten sie nur über den Samisdat. Die Frage nach dem Antrieb und den Absichten Stalins in seinem Umgang mit Kunst und Künstlern steht auch im Mittelpunkt des Buchs Wolkows. Stalin ästhetische Maßstäbe waren kleinbürgerlich, sie orientierten sich am monumentalen Realismus des 19. Jahrhunderts. Die Moderne wollte und konnte er nicht nur nicht verstehen, er bekämpfte sie.
Dabei hatte Stalin laut Wolkow einen irrationalen Respekt vor „Gottesnarren”, die wichtige Figuren nicht nur in der russischen Geschichtsschreibung, sondern auch in der Literatur geworden sind: Sie durften dem über Leben und Tod entscheidenden Zaren auch unbequeme Wahrheiten aus dem Volk sagen. Solche Gottesnarren waren in den Augen Stalins offenbar der Dichter Boris Pasternak, der die Säuberungen überlebte, und eben auch der so zerbrechlich und weltfremd wirkende Schostakowitsch mit dem unschuldigen Knabengesicht, der seine Augen hinter einer dicken Hornbrille versteckte.
Wohl übten die Kulturfunktionäre Stalins auf ihn immer wieder starken Druck aus. Schon als junger Mann war er von vielen Zeitgenossen als Genie gefeiert worden war - Stalin duldete kein anderes Genie neben sich. Doch Schostakowitsch ließ sich nicht brechen, auch nicht durch den von Stalin verfassten oder zumindest genehmigten Prawda-Verriss seiner Oper „Lady McBeth von Mzensk” im Terrorjahr 1936. Er hatte wohl Todesangst. Vielleicht hätte er damals die Folterkeller der Lubjanka kennengelernt, wenn nicht der Prawda-Angriff in Westeuropa bemerkt worden wäre. Es gab Protest, Stalin sah seinen Plan, ein internationales Friedensbündnis gegen Hitler zu schaffen, gefährdet, und ließ zunächst von Schostakowitsch ab.
Dieser reagierte auf seine Weise: In seinen Werken bilden musikalische Zitate und bestimmte Tonfolgen einen Subtext. Und dieser äsopische Text, dessen Entstehung Wolkow spannend wie einen Detektivroman nacherzählt, reflektiert in der berühmten V. Symphonie von 1937 den Großen Terror; die X. Symphonie gestaltet Schostakowitschs zentrales Lebensthema: den Kampf zwischen Diktator und Künstler.
Stalin hatte ein Gespür für subversive Subtexte in der Literatur - manche Schriftsteller verloren deshalb ihr Leben, darunter Ossip Mandelstam. Satiriker wie Ilja Ehrenburg oder Michail Soschtschenko schrieben aus Angst nur noch eindimensional und verloschen somit literarisch. Anna Achmatowa und anderen Lyrikern wurde das Schreiben ganz verboten. Wolkow schildert ihre Schicksale in der Stalin-Zeit, wie auch das des Regiepioniers Sergej Eisenstein, der von dem Diktator wegen des ersten Teils seines Films „Iwan der Schreckliche” gelobt, wegen des zweiten aber verdammt wurde. Der Autor lässt das kulturelle Klima der Epoche wiederentstehen und leistet damit auch einen Beitrag zum Verständnis des postkommunistischen Russlands, das den Stalinismus nur fragmentarisch aufgearbeitet hat.
Stalin war in musikalischen Angelegenheiten ein Laie. Er befahl, „angenehme Melodien” zu schaffen. Was ihm unangenehm klang, war Kakophonie, eine Kategorie, die für einen Komponisten das Todesurteil bedeuten konnte. Stalins Musikexperten, darunter der Parteiideologe Andrej Schdanow, der die nach ihm benannte Schdanowschtschina, die antisemitische Kampagne nach dem Zweiten Weltkrieg, befahl, waren zu primitiv und zu ungebildet, um Schostakowitschs Subtext zu erfassen. Doch ein Teil der Musikwelt verstand ihn.
Bei mehreren Gelegenheiten bewies der Komponist indes auch öffentlich großen Mut. So unterzeichnete er keine Erklärungen, in denen für angebliche Volksfeinde die Todesstrafe gefordert wurde. Auf dem Höhepunkt der Schdanowschtschina komponierte er seinen Zyklus jüdischer Lieder. Vermutlich hielt Stalin in dieser Zeit die Hand über ihn, vielleicht auch, weil längst die Säuberung der von Schdanow geführten Leningrader Parteiorganisation beschlossen war. Schdanow selbst starb - angeblich erlag er einem Herzinfarkt.
Wolkow rekonstruiert durchaus überzeugend die Strategie Stalins, schließt aus dieser auf dessen Motive. Ihm ist ein überaus wichtiger und überdies lebendig erzählter Beitrag zu einem der großen Themen unserer Zeit gelungen: Verfügbarkeit und Instrumentalisierung der schöpferischen Intelligenz durch totalitäre Systeme. Stalin zeigte sich auch in seiner Kulturpolitik als Meister der Alternativen, der selten spontane Entscheidungen traf, sondern oft sehr lange Entwicklungen abwartete. Viele von Wolkow erstmals ausgewertete Berichte belegen, wie sehr Stalin sich auch gerade mit Schostakowitsch befasst hat, dass er dessen Genie wohl ahnte und es auch zu brechen versuchte, es aber letztlich nicht konnte. Schostakowitsch hat diesen Kampf, den er sehr genau wahrnahm, letztlich gewonnen: Er überlebte Stalin um 22 Jahre.
THOMAS URBAN
SOLOMON WOLKOW: Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler. Propyläen Verlag, Berlin 2004. 461 Seiten, 29 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Das Verhältnis zwischen dem Diktator Stalin und dem Komponisten Schostakowitsch war intensiv, aber auch gefährlich - dies natürlich nur für letzteren. Was den Komponisten angesichts des immer wieder aufbrechenden Unwillens Stalins gerettet habe, so Thomas Urban, war gelegentlich wohl Glück, dann aber auch der musikalische Unverstand des Diktators. Die subversiven "Subtexte", die Schostakowitsch in seine Sinfonien einbaute, habe nämlich weder Stalin wahrgenommen noch sein parteiideologisch gehorsamer Musikexperte Andrej Schdanow. Diese Verhältnisse weiß Solomon Wolkow glänzend darzustellen, lobt der Rezensent, passagenweise sogar so "spannend wie ein Detektivroman". Die Nähe des Autors zu Schostakowitsch - dieser hatte ihm in seinen letzten Lebensjahren seine Memoiren diktiert - kommt dem Buch zu Gute, das über das Verhältnis der beiden hinaus aber auch zum "überaus wichtigen und überdies lebendigen Beitrag zu einem der großen Themen unserer Zeit" geworden ist, nämlich zur politischen Verführbarkeit des Intellektuellen. So wird Wolkows Studie zu einer "eindrucksvollen Untersuchung".

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