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Auf zehn Streifzügen durch Mitte, den Westen, Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Neukölln erkundet Holger Tegtmeyer die Stadt an der Spree und vermittelt ein faszinierendes Bild ihrer Spannung und Atmosphäre. Dabei geht es ihm weniger um Vollständigkeit in der Behandlung einer schier endlosen Fülle von großen Namen und Schauplätzen, Szenen, Salons und Cafes von Lessing bis Brecht, Fontane bis Döblin, Rahel Varnhagen von Ense bis Christa Wolf, als vielmehr um die exemplarische Auseinandersetzung mit diesen und einer Vielzahl weiterer Autoren, um zeigen zu können, wie überwältigend sichtbar und fühlbar…mehr

Produktbeschreibung
Auf zehn Streifzügen durch Mitte, den Westen, Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Neukölln erkundet Holger Tegtmeyer die Stadt an der Spree und vermittelt ein faszinierendes Bild ihrer Spannung und Atmosphäre. Dabei geht es ihm weniger um Vollständigkeit in der Behandlung einer schier endlosen Fülle von großen Namen und Schauplätzen, Szenen, Salons und Cafes von Lessing bis Brecht, Fontane bis Döblin, Rahel Varnhagen von Ense bis Christa Wolf, als vielmehr um die exemplarische Auseinandersetzung mit diesen und einer Vielzahl weiterer Autoren, um zeigen zu können, wie überwältigend sichtbar und fühlbar sich die Spuren von Literatur und Geschichte in das Gesicht der Stadt eingegraben haben. Faszination und Irritation der deutschen Hauptstadt im Spiegel der Literatur
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2004

Wo die Generation Irgendwie zuhause ist
Holger Tegtmeyer erkundet im literarischen Berlin den Zustand der heutigen Hauptstadt
Es gibt schlimme Berlin-Bücher und furchtbare Berlinbuch-Schreiber. Das sind meistens Menschen, die bei jedem großen Ereignis der jüngeren Geschichte irgendwie dabei gewesen sind, die jede Ecke kennen und denen zu jeder Destille, zu jeder Brücke eine Anekdote einfällt. Die Anekdote ist überhaupt das Rüstzeug vieler Berlinbuchschreiber. Selbst wenn sie von Zeiten berichten, die sie nicht miterlebt haben können, erzählen sie kleine Geschichten, in denen die Großen von damals wie liebe Bekannte in Salons und Weinstuben sitzen. Und die Berlinbuch-Schreiber reportieren dann in simulierter Zeitgenossenschaft, was sie ihnen abgelauscht haben. „Wir Kinder der Postmoderne, die wir eine Zeit lang glaubten, im Raum einer Nachgeschichte zu leben, können ihnen da nicht das Wasser reichen”, schreibt Holger Tegtmeyer über jene Autoren, die mit pflegender Hand die märkischen Dichtergärten bestellen. Da merkt man schon, dass Tegtmeyer diese distanzlosen Literaturgeschichtchen nicht liebt. Dass er nicht durch das literarische Berlin flanieren will wie durch einen still gelegten Musenhain.
Tegtmeyer unterteilt seine literarischen Inspektionen in zehn Rundgänge, da ist er ganz konventioneller Reiseleiter. Aber wo andere nur zeigen, wo was war, erzählt Tegtmeyer, wie sich die deutsche Literatur an Berlin abgearbeitet hat. Wie Peter Schneider, einst lauter Sprecher der Linken, den zarten Tabubruch beging, die Mauer nicht ohne weiteres als antifaschistischen Schutzwall zu deklarieren. Wie Jörg Fauser wiederum, hart und amerikanisch wie er sein wollte, die Mauer das einzig wirklich Absolute in einer durch und durch relativen Welt nannte. Das war das Spannungsfeld der literarischen Vätergeneration.
Holger Tegtmeyer, Jahrgang 1964, braucht die ideologischen Krücken nicht mehr, „denn schnell fließt die Zeit”, schreibt er, „so schnell, dass die Mauer bereits ins Sagenhafte zurückgesunken ist.” Aber was diesseits und jenseits der Mauer war, ist auch schon wieder Makulatur geworden. Der alte Westen, den der Flaneur Franz Hessel schon für die nachwilhelminische Zeit als Wohngegend verloren gegeben hat - heute „gleicht er bisweilen einer schiefen Ebene, die aus den zwanziger Jahren bis in unser Jahrhundert herüberragt: Abrutschgefahr.” Das in zig Filialen atomisierte Café Einstein, einst Erholungsstätte der Großstadtintelligenz, mag dafür symptomatisch sein. Überhaupt, die Kaffeehäuser, das Romanische Café, das Café des Westens: Dass es ihresgleichen heute nicht mehr gibt, sieht Tegtmeyer als Beleg dafür, dass sich unser frühes Einundzwanzigstes entliterarisiert hat. Keine Debatten, keine Utopien, nur noch die banalen Liebessorgen der Generation Irgendwie, welcher der Zorn fehle und die Lust, sich einzumischen.
Der Streit um den Stasi-Spitzel Sascha Anderson und die als falsche Avantgarde gescholtene Szene vom Prenzlauer Berg, die gerechte Wut der DDR-Dichter Biermann, Fuchs und Kunze und die Resignation des im Westen gestrandeten Thomas Brasch - all diese Debatten, Schicksale und Lebensläufe nehmen einen großen Raum ein in diesem Buch. Man liest und staunt, wie sich Holger Tegtmeyer dabei selbst als kritischer Autor positioniert. Wie er selbst Teil dieses neuen, abgerutschten Berlin wird, das sein Wahrzeichen, das Brandenburger Tor, mit Telekom-Reklame verhüllt und einen Modemacher den Reißverschluss öffnen lässt. In dem eine Kommission entscheiden darf, wie viel Geschichtskenntnis man den Deutschen zutrauen kann. Mit dem Ergebnis, dass sie eine Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust nicht ausreichend findet und ein Dokumentationszentrum fordert: „Mit diesem pädagogischen Anhängsel erklären die Experten halb Deutschland für unzurechnungsfähig.”
Tegtmeyers Berlin-Buch ist bereits der siebte in der Artemis und Winkler-Reihe „Literarische Streifzüge” erschienene Band. Und der literarisch ambitionierteste, weil er sich nicht auf eine Textform festlegt, mal Pamphlet ist, mal elegischer Abgesang, mal knurrige Gegenwartsanalyse. Eben ein schönes Stück Gegenwartsliteratur über ein Berlin, das es mal gab.
HILMAR KLUTE
HOLGER TEGTMEYER: Breitseite Berlin. Literarische Streifzüge. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2004. 255 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hilmar Klute staunt, wie aus dem ganz "konventionell" in zehn Rundgängen angelegten literarischen Reiseführer durch die Hauptstadt ein "schönes Stück Gegenwartsliteratur" wird über ein Berlin, wie es einmal war. Tegtmeyer zeigt nicht nur, wie viele andere vor ihm, was war, sondern schildert, wie sich die deutsche Literatur an Berlin "abgearbeitet" hat. Und positioniert sich dabei selbst als kritischer Autor. Ob die Atomisierung des Cafe Einsteins mit seinen vielen Filialen, das dauerbeworbene Brandenburger Tor oder Debatten um Biermann oder Sascha Anderson, bei Tegtmeyer deutet alles auf vergangene Bedeutung oder gegenwärtigen Verfall hin. Literarisch ambitioniert werde das Berlin-Buch, indem es nicht auf eine Textform festgelegt ist, sondern changiert zwischen "Pamphlet", "elegischem Abgesang" oder "knurriger Gegenwartsanalyse".

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