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In ihrem Essay fragt die israelische Autorin Lilah Nethanel nach der Bedeutung von Mehrsprachigkeit und Transnationalität für die hebräisch-europäische Schreibkultur im frühen 20. Jahrhundert. Hierzu beleuchtet sie Leben und Werk des hebräischen und jiddischen Schriftstellers Zalman Schneur (1887 1959). Anhand bisher unbekannter persönlicher Korrespondenzen zeichnet Nethanel den Weg von der veröffentlichten Fiktion zurück zu den biografischen Hintergründen des Autors nach, die von so existenziellen Erfahrungen wie Krieg und Flucht, Emigration und Einsamkeit geprägt sind. Diese Dokumente, die…mehr

Produktbeschreibung
In ihrem Essay fragt die israelische Autorin Lilah Nethanel nach der Bedeutung von Mehrsprachigkeit und Transnationalität für die hebräisch-europäische Schreibkultur im frühen 20. Jahrhundert. Hierzu beleuchtet sie Leben und Werk des hebräischen und jiddischen Schriftstellers Zalman Schneur (1887 1959). Anhand bisher unbekannter persönlicher Korrespondenzen zeichnet Nethanel den Weg von der veröffentlichten Fiktion zurück zu den biografischen Hintergründen des Autors nach, die von so existenziellen Erfahrungen wie Krieg und Flucht, Emigration und Einsamkeit geprägt sind. Diese Dokumente, die erst mehr als fünf Jahrzehnte nach Schneurs Tod in Madrid entdeckt wurden, machen die moderne jüdische Schreibkultur in ihrer gesamten Komplexität sichtbar: Auf Deutsch, Französisch und Jiddisch verfasst, wurden die Briefe aus dem nachrevolutionären Russland, dem Weimarer Berlin und dem Paris der 1940er Jahre verschickt. Sie legen das vielschichtige biografische Mosaik offen, das in Schneurs literarisches Werk eingeflossen ist, und bieten neue Perspektiven für das Verständnis moderner jüdischer Schriften in Europa.

Autorenporträt
Lilah Nethanel lehrt am Department of Literature of the Jewish People der Bar-Ilan Universität in Ramat Gan, Israel und forscht zur modernen hebräischen Literatur. Zudem ist sie Übersetzerin und Schriftstellerin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2022

Vorwürfe konterte er mit Geschichten
Salman Schneur ist ein vergessener jiddischer Autor aus Belarus: Nun deutet Lilah Nethanel sein Schreiben für die Gegenwart

Im Mai 2018 flog Lilah Nethanel von Tel Aviv nach Madrid, weil dort die Flamencotänzerin Laura Toledo hochbetagt verstorben war und ihr zwei Kisten hinterlassen hatte. Nur einmal, im Sommer 2016, waren die beiden Frauen sich begegnet, als Toledo zum letzten Mal Israel besucht hatte. "Ich erinnere mich, wie ich in der Lobby auf sie wartete und dass ich sie, als sie aus dem Aufzug trat, sofort erkannte. Sie sah ihrem Vater ähnlich, ja sie sah genauso aus wie er." Dieser Vater, der Schriftsteller Salman Schneur, war damals schon seit fast sechzig Jahren tot und seine Tochter nun sechsundachtzig Jahre alt.

Doch der Anblick des verfallenden Körpers der alten Dame kann den Gedankenflug der Beobachterin nicht bremsen: "Schon damals hatte ich eine Art intime Nähe zu ihm verspürt. Ich war seinen Worten nah, dem Weg, den er in der Sprache gegangen war. Zehn-, vielleicht hundertmal hatte ich Fotografien von ihm betrachtet. Ich kannte die Kontur seines Gesichts sehr genau; ein längliches Profil, das eine gewisse Unbeugsamkeit verriet. Laura war ihm wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten." Leider ist diese Mischung von emotionaler Projektion und gedanklicher Ungenauigkeit bezeichnend für das leider oft etwas schwafelige (doch von Gundula Schiffer sehr lebendig übersetzte) Buch "Hebräische Schreibkultur in Europa". Allerdings bietet es auch imaginative Höhenflüge von mitreißender Intensität und Empathie, für die sich die Lektüre lohnt.

Lilah Nethanel, geboren 1979 in Israel, studierte Literatur zuerst in Paris, dann in Haifa und promovierte dort über den Schriftsteller David Vogel (1891 bis 1944). Sie entdeckte das Manuskript seines Romans "Eine Wiener Romanze" und schrieb selbst vier hochgelobte Romane. Als sie sich mit Toledo traf, arbeitete sie an einem Buch über Salman Schneur, einen der bedeutendsten hebräischen Lyriker seiner Generation und einen ungemein populären jiddischen Romancier - derart populär, dass er von 1925 an in einem stattlichen Haus in Paris leben konnte.

In den beiden Kisten, die Nethanel 2018 in Empfang nahm, befanden sich auch französische Briefe der Tochter an ihren Vater, jiddische Briefe der Mutter von Schneur an den Sohn und banale höfliche deutsche Briefe Schneurs an eine verheiratete junge Frau in Berlin. Da die Briefe für eine Edition wohl zu wenig hergaben, entschloss sich Nethanel, in drei Essays die emotionale Anspannung zu rekonstruieren, unter der Schneur wie viele andere jüdische Schriftsteller, die die Kleinstädte Osteuropas verließen, zeitlebens litt.

Schneur wurde 1887 in Schklow (Belarus) geboren. Mit dreizehn Jahren entlief er nach Odessa, dem Zentrum der modernen hebräischen Dichtung. Dort nahmen Joseph Klausner, ein Großonkel von Amos Oz, und der Dichter Chaim Nachman Bialik den blutjungen Dichter unter ihre Fittiche. Später schlug er sich mit Redaktionsarbeit in Warschau durch. Von 1906 an studierte er in Bern, seit 1908 in Paris. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er in Berlin unter Hausarrest. Dort veröffentlichte er zwischen 1920 und 1923 bibliophile Ausgaben seiner hebräischen Lyrik. Er heiratete 1924 und zog 1925 nach Paris, in die Hauptstadt der Moderne, wo er sich erstaunlicherweise zum jiddischen Schriftsteller wandelte, der in einem gigantischen roman fleuve akribisch und witzig die psychologisch komplexe Welt seines Heimatorts Schklow porträtierte. Leider ist bislang nur ein Bruchteil dieses aus vielen Novellen bestehenden Meisterwerks auf Deutsch erschienen ("Noah Pandre", 1936).

Prosaisch gesehen, ist die Verwandlung Schneurs schnell geklärt. Abe Cahan, Herausgeber der New Yorker jiddischen Tageszeitung "Forverts", erwarb 1927 die Schklower Geschichten, die seit 1913 entstanden waren, für sein Blatt, und Schneur musste regelmäßig nachliefern. Doch das emotionale Herz dieser Verwandlung erkundet Nethanel in einem fulminanten Kapitel anhand der klaren und klagenden Briefe, die Chaje Feige ihrem erfolgreichen Sohn schickt. Während Schneur zur Kur am Tisch der zu Korpulenten sitzt, schreibt seine Mutter, es gebe nur Brot aus Maismehl, das für sie zu hart zum Kauen sei. Jeder, der Eltern irgendwo zurückgelassen hat, um woanders modern und intellektuell zu werden, weiß, wie das ist, wenn ein Brief der Mutter allzu deutlich die Frage unterdrückt: Warum bin ich jetzt allein?

Schneur antwortete auf die entsetzlichen Briefe der Mutter - "Morgen ist schon Purim. Du hast mir nichts geschickt" - mit Kurzgeschichten. Nein, er überschreit sie mit den virilen Porträts der Einwohner von Schklow, die das Leben meistern. So wird Chaje Feiges Leben in Schklow "gleichsam die Schwelle zur schöpferischen Kraft der narrativen Fiktion", bilanziert Nethanel. Schade, dass wir die Briefe der Mutter nicht selbst lesen können.

Das zweite wilde Herz des Buches sind die wenigen Briefe von Schneurs Tochter Renée Rebekka an den Vater. Die Schneurs mussten 1940 aus Paris fliehen, sie ließen alles zurück, lebten in Dörfern um Vichy, schafften es über die Grenze, lebten in Madrid und schließlich in Sevilla, wo sie im August 1941 mit tausend anderen Juden einen Kohlefrachter nach New York besteigen konnten.

Renée wurde auf ein Internat in Connecticut geschickt. Schon als Kind in Paris hatte sie Ballett studiert. Sie tat dies auch in Amerika und schaffte es ins Corps der Metropolitan Opera in New York. Doch sie zog nach Paris, wurde Primaballerina einer spanischen Truppe, lebte in Madrid, lernte Flamenco und nannte sich Laura Toledo. Ihr Verhältnis zu den Eltern, von denen sie finanziell abhängig war, blieb gespannt. Im Juli 1958, sieben Monate vor dem Tod des Vaters, schrieb sie an die Eltern: "Was mich angeht, so kümmert euch das ja nicht, denn ihr habt entschieden, mich zum Kommen zu zwingen, obwohl ihr wisst, dass mir das unmöglich ist . . . Noch weniger kümmert euch, dass ich nichts esse . . . Lasst mich ein für alle Mal sterben . . . Vergesst mich, wie ihr es ohnehin schon getan habt."

Schneurs Entfremdung von der Mutter wiederholte sich in der Entfremdung der Tochter. Nethanel summiert: "Das Wissen, dass dein Leben nicht mehr dem deiner Eltern ähnlich sein wird, ja dass du und deine Eltern nicht einmal mehr dieselbe Sprache sprechen, ist vielleicht das entscheidendste Merkmal der modernen jüdischen Kultur im Westen." Allerdings kennt jeder, der aufbricht, diesen Verlust. Jüdisch ist die Möglichkeit der Rückkehr. Schneur liegt in Israel begraben neben seinem Mentor Bialik. SUSANNE KLINGENSTEIN

Lilah Nethanel: "Hebräische Schreibkultur in Europa". Zalman Schneurs verschollene Briefe.

Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. Vorwort von Yvaat Weiss. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022. 124 S., 5 Abb., br., 23,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Susanne Klingenstein liest neugierig in Lilahl Nethanels drei Essays über den populären hebräischen Dichter Salman Schneur und seine  Tochter Laura Toldeo. Die darin erzählte Lebens- und Wirkensgeschichte Schneurs findet Klingenstein höchst abwechslungsreich, Nethanels Stil aus "emotionaler Projektion" und gedanklicher Unschärfe behagt ihr weniger. Gundula Schiffers "lebendige" Übersetzung vermag das Schwafelige im Text leider nicht zu tilgen, bedauert die Rezensentin. Lohnend, da mitreißend findet sie die empathischen und imaginativen Momente im Buch, wenn die Autorin sich dem Inneren der Figuren zuwendet.

© Perlentaucher Medien GmbH