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Was meinen wir, wenn wir von Realität sprechen? Was bedeutet Realismus im Denken? Wie tritt der Mensch in Kontakt mit der Wirklichkeit und bildet ein Bewusstsein von ihr aus? Diese Grundfragen der Philosophie haben Hans Blumenberg zeit seines Lebens beschäftigt und sind als wichtige Unterströmung in vielen seiner Bücher präsent. Eine eigene Monographie zum Thema hat er nie publiziert, er hat sie aber projektiert, wie aus seinem Nachlass hervorgeht. Dort findet sich unter dem Kürzel REA ein umfangreiches Konvolut druckreifer Texte aus den 1970er Jahren, und auch einen Buchtitel hatte sich…mehr

Produktbeschreibung
Was meinen wir, wenn wir von Realität sprechen? Was bedeutet Realismus im Denken? Wie tritt der Mensch in Kontakt mit der Wirklichkeit und bildet ein Bewusstsein von ihr aus? Diese Grundfragen der Philosophie haben Hans Blumenberg zeit seines Lebens beschäftigt und sind als wichtige Unterströmung in vielen seiner Bücher präsent. Eine eigene Monographie zum Thema hat er nie publiziert, er hat sie aber projektiert, wie aus seinem Nachlass hervorgeht. Dort findet sich unter dem Kürzel REA ein umfangreiches Konvolut druckreifer Texte aus den 1970er Jahren, und auch einen Buchtitel hatte sich Blumenberg schon notiert: »Realität und Realismus«.

In intensiver Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbegriff, und zwar sowohl in systematischer als auch in historischer Hinsicht, arbeitet Blumenberg meisterhaft dessen historische, anthropologische und kulturelle Dimensionen heraus. Er zeigt unter anderem, dass die Thematisierung dessen, was wir Wirklichkeit nennen, auf Umwegen geschieht und auch erst dann, wenn wir durch eine Störung gezwungen werden, unseren selbstverständlichen Weltzugang zu hinterfragen. Realismus und Realität ist ein Glanzstück und entscheidender Baustein von Blumenbergs Theorie der Lebenswelt.
Autorenporträt
Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ¿Halbjude¿. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«. Nicola Zambon, geboren 1983, hat über Hans Blumenberg promoviert und ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin. Die ontologische Distanz ist nach Phänomenologische Schriften 1981-1988 und Realität und Realismus seine dritte Blumenberg-Edition im Suhrkamp Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2020

Umwege führen zur Kultur

Realität ist, was unsere Erwartungen enttäuschen kann: Zum hundertsten Geburtstag von Hans Blumenberg am kommenden Montag erscheint auch ein weiterer Band aus seinem Nachlass. Sondiert werden in ihm verschiedene Begriffe von Wirklichkeit.

Aus dem Nachlass des 1996 verstorbenen Philosophen Hans Blumenberg werden seitdem in einem fort Manuskripte publiziert. Wir zählen inzwischen etwa zwanzig Bände; mehr als zu Lebzeiten des Autors erschienen waren. Weit entfernt, dass es sich dabei nur um die Versammlung bis dahin verstreut publizierter Aufsätze, um Liegengelassenes (eine Mappe zu Ernst Jünger) oder um Marginalien handelt, sind Hauptwerke darunter - eine Anthropologie, eine Theorie der Lebenswelt und eine Theorie der Subjektivität -, fertige Monographien - über Fontane und über den Umgang mit Löwen in der Ideengeschichte - sowie Manuskripte, zu deren Vollendung vermutlich nicht viel Lebenszeit gefehlt hätte.

Nimmt man hinzu, dass Blumenberg nach seinem Werk "Höhlenausgänge", einer 1989 herausgekommenen Denkgeschichte der Zwei-Welten-Lehren seit Platons Höhlengleichnis, bis zu seinem Tod nichts mehr in Buchform veröffentlicht hat, lässt sich von einer bewusst auf den Nachlass hin angelegten Produktion sprechen. Blumenberg hat früh die Einstellung der ersten Astronomen gepriesen, die Beobachtungen festhielten und studierten, von denen sie wussten, dass erst nachlebende Kollegen etwas mit ihnen würden anfangen können. Er selbst exemplifiziert eine solche Haltung: die Bevorzugung der fortlaufenden Verbesserung von Gedanken gegenüber dem Miterleben ihrer Wirkung.

Der vorliegende Band zeigt das besonders deutlich. Er führt Gedanken aus, die Blumenberg 1964 zur ersten Tagung der legendären Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" beigesteuert hatte. Danach lassen sich den philosophischen Großepochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Moderne vier Begriffe von Wirklichkeit zuordnen. Als "wirklich" kann bezeichnet werden, was durch momentane Präsenz, vor allem Sichtbarkeit, unwidersprechlich wirkt. Dem aus Platons Höhle Befreiten schlägt Licht in die Augen, in dem sich allmählich die Originale der Schattenbilder zeigen, die ihm bis dahin wirklich schienen.

Hingegen gilt als wirklich im mittelalterlichen Denken, was durch eine dritte Instanz zwischen Bewusstsein und Welt verbürgt ist. Da Gott verkannt wurde, sich also nicht evident zeigte, muss an ihn umso mehr geglaubt werden, je mehr seine Wiederkehr auf sich warten lässt. Er wiederum muss sich, ebenso wie die Zeugen seines Wirkens, beglaubigen. Das führt von Prophezeiungen und Wundern bis zu den Fingerabdrücken Jesu im Stein der Benediktinerabtei Einsiedeln in Schwyz, aber auch zu Bibelphilologie und zu Descartes' Spekulation über einen bösen, unverlässlichen Gott, der uns alle Wirklichkeit nur vorspielt.

Wenn schon, antwortet Leibniz, der für Blumenberg exemplarisch neuzeitliche Denker. Wäre alles eine von Gott veranlasste Täuschung, so könnten wir so lange damit leben - und es bliebe uns auch gar nichts anderes übrig -, als diese "Wirklichkeit" in sich schlüssig erschiene. Realität ist, was uns nicht ständig mit Enttäuschungen unserer Erwartungen konfrontiert. Mehr als Konsistenz plus Auffüllbarkeit etwaiger Erfahrungslücken und -brüche ist nicht zu haben.

Blumenberg geht zahlreichen Implikationen dieser Wirklichkeitsbegriffe nach, etwa wie sie sich zum ästhetischen Schein verhalten. Das Theater wirft andere Täuschungsfragen auf als die Erzählung oder die Bildkunst. In Wirklichkeitsbegriffen liegen Handlungsprogramme: Erst die Neuzeit öffne die Erfahrung prinzipiell für Neues, mache Überraschung erwartbar und traue sich zu, jedwede Unstimmigkeit aufzulösen. Zugleich enthält der spät aufkommende Begriff "Lebenslüge" eine Kritik des Konsistenzkriteriums für Wirklichkeiten, indem er auf Menschen hinweist, die sich alle Tatsachen nach ihren Wünschen zurechtlegen und womöglich sogar - Blumenbergs Beispiel ist Hitler - die ganze Wirklichkeit als abhängig von ihrem Willen auffassen, sofern sie sich nur gegen Widerspruch abschließen lässt. Eine andere Variation gilt dem unsichtbaren Wirklichen in Gestalt von Erregern, Kampfgasen und Strahlungen.

Das führt zu den Passagen des Manuskripts, die sich mit dem modernen Wirklichkeitsbegriff befassen, der zwei Merkmale hat. Zum einen bedeutet Realismus modern die Negation von Wünschen. Hier, bei Freud etwa, ist Realität gleich Widerstand. Man holt sich Beulen an der Wirklichkeit, ihr Inbegriff ist der Schmerz als das, was sich niemand - "den fabulösen Masochismus ausgenommen", wie Blumenberg notiert - wünscht. Wirklichkeit zwingt als Widerstand zu Umwegen, also zu Kultur.

Zum anderen sind gerade in der Kultur nichtrealistische Einstellungen institutionalisiert: Luxus, Phantasie, Rebellion, Moralismus, das unrealistische Drängeln, jeder denkbare Fortschritt müsse in der nächsten Legislaturperiode beschlossen werden. Blumenberg hält typische Wirklichkeitsverluste der modernen Gesellschaft fest: Je weniger unmittelbare Erfahrungen im Umgang mit Kindern gegeben sind, desto mehr blühen beispielsweise als Pädagogik oder Psychoanalyse angebotene Spekulationen über deren Leben, die "etwas von der theoretischen Qualität der Welteislehre haben". Je weiter sich in der Gesellschaft die Welt der Dienstleistungsberufe ausdehnt, desto stärker entsteht der Irrtum, durch Beratung, Beschluss und Entschließung lasse sich die Wirklichkeit in eine wünschenswerte Form bringen. Man will Geschichte durch Resolutionen und andere Formen symbolischen Fußaufstampfens machen: "Dabei weiß jeder, wenn er es nur wissen will, was aus solchen Resolutionen schon am folgenden Tag geworden ist." Blumenberg, der an seinem Manuskript zwischen 1970 und 1984 arbeitete, reagiert hier wie an anderen Stellen ersichtlich auf die zeitgenössische Resolutionsfreude. Die Vermutung, dass sich die gegenwärtige nicht stark von ihr abhebt, liegt nahe.

Vielleicht war es diese Vielfalt an Motiven, die in die oft implizite Begriffsgeschichte von "Wirklichkeit" hineinspielen, die verhindert hat, dass aus dem Manuskript ein Buch wurde. Der ungläubige Thomas und Newton, Judas als Realist und die Rolle der Rhetorik als Störfaktor zu einfacher Wirklichkeitskonzepte, der ästhetische Realismus bei Diderot und das Unbewusste als Grenzfall von Wirklichkeit - sie alle sind hier anregungsreich und in einer völlig entspannten Sprache in eine große Skizze eingebracht. Es steckt ein Dutzend Bücher in diesem Nichtbuch.

JÜRGEN KAUBE

Hans Blumenberg:

"Realität und Realismus".

Hrsg. von Nicola Zambon. Suhrkamp Verlag,

Berlin 2020. 232 S., geb., 30,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension

Rezensent Eckart Goebel lernt, was er schon weiß, bei Hans Blumenberg: Der Weg ist das Ziel. Als (Lehr-)Meister der Umwege erscheint ihm der dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiernde Philosoph in diesem von Nicola Zambon "kompetent" aus dem Nachlass herausgegebenen Band, als Wegweiser durch die Philosophie als "Wunscherfüllungsersatz". Wie Blumenberg Wirklichkeitsbegriffe erkundet, von den alten Griechen über Goethe bis Hitler, scheint Goebel lehrreich. Den Höhepunkt des Buches erkennt er in Blumenbergs Diskussion eines Mittelwegs zwischen Widerstand gegen die und Resignation angesichts der Wirklichkeit als eines, ja, Umwegs.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2020

Bewusstsein für die verlorene Zeit
Technikaffin, brillant und ein unwiderstehlicher Monologisierer:
Zum 100. Geburtstag von Hans Blumenberg untersuchen zwei Biografien das Leben des Philosophen
VON LOTHAR MÜLLER
Mehrfach taucht in den Schriften Hans Blumenbergs das Teleskop auf. Es holt das bis dahin Unsichtbare in die Sichtbarkeit hinein, beflügelt die Entgrenzung der Neugier und trägt zu dem Epochenbruch bei, als den Blumenberg „Die Genesis der kopernikanischen Welt“ (1975) schildert. Galileo Galilei, der insgeheim seit längerem dem kopernikanischen Weltsystem anhängt, sieht 1609 in Venedig im Fernrohr die Chance, die sinnliche Anschauung gegen jene Buchgelehrten in Stellung zu bringen, die das Weltbild des Aristoteles durch Zitate glauben verteidigen zu können, und richtet es gegen den Sternenhimmel.
Blumenbergs großer Essay „Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit“, der 1965 als Einleitung zu Galileis „Sidereus Nuncius“ (1610) und Auftaktband der „sammlung insel“ erschien, erzählt nicht die Geschichte eines Triumphs der Evidenz. Der Blick durchs Fernrohr in den Himmel wird verweigert, was Galilei sieht, wird bestritten, es braucht Zeit, Abstraktion und Mathematik, bis Keil zwischen Sichtbarkeit und Wirklichkeit getrieben, ein neues Wirklichkeitsbewusstsein erschlossen ist. Erst im Zusammenspiel mit der theoretischen Anstrengung zeigt das technische Instrument, was in ihm steckt, wird die Erde Stern unter Sternen und tritt den leuchtenden Himmelkörpern an die Seite.
Seinem jüngeren Kollegen Kurt Flasch hat Hans Blumenberg um 1974 erzählt, wie früh sein Interesse an Teleskopen ausgeprägt war. Er war Jahrgang 1920, hatte 1939 in seiner Geburtsstadt Lübeck Abitur gemacht. Nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen als „Halbjude“ eingestuft, da seine Mutter jüdischer Herkunft war, war er „wehrunwürdig“ und musste 1940 sein Studium an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt abbrechen, ab 1942 Arbeitsdienste leisten. So kam er, auf Vermittlung des Vaters, in die Draegerwerk AG. Dort habe er, so Blumenberg, Bücher über die Optik und ihre Geschichte gelesen, denn die Firma habe Teleskope für U-Boote produziert. Kurt Flasch hat diese Selbstauskunft an den Beginn seines großen Buches „Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland. Die Jahre 1945 bis 1966“ (2017) gestellt.
Einer der Schlüsselbegriffe Blumenbergs ist „Geschichtlichkeit“. Er dient dazu, in scheinbaren Kontinuitäten Brüche und Widersprüche aufzuspüren, zu markieren, was überhaupt in einer Epoche denkbar ist. Der Begriff führt dazu, dass die „Legitimität der Neuzeit“ (1966) als Selbstbehauptung aus eigenem Recht erscheinen kann, dass der Absolutismus der einen, festgefügten Wirklichkeit dem Plural der „Wirklichkeiten, in denen wir leben“ (1981) weicht. Nun, zum hundertsten Geburtstag, ist die erste umfassende Biografie des Philosophen erschienen. Rüdiger Zill, wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum, hat ihr den Titel „Der absolute Leser“ gegeben. Das akzentuiert die Gelehrsamkeit des Philosophen, der nie den Eindruck erweckt, an einer tabula rasa zu sitzen und nur aus dem Eignen zu denken, der seine Zitate nicht nur den Werken der Philosophen entnimmt, sondern ebenso häufig Romanen und Memoiren, Tagebüchern und Fabeln, Briefen und Broschüren. Der Untertitel – „Eine intellektuelle Biographie“ – klingt nach Vorrang der Gedanken und theoretischen Entwürfe und nach Nebenrolle der Soziologie des Lebenslaufs. Aber was dann folgt, ist sehr viel mehr und schließt eine sehr genaue Erkundung der Lebensumstände und der Karriere eines erfolgreichen Universitätsprofessors und einflussreichen Akademikers ein.
Die nun erschienene, bisher unveröffentlichte, 1947 in Kiel vorgelegte Dissertation „Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie“ und die zwei Jahre später entstandene Habilitationsschrift „Die ontologische Distanz“ liest Zill nicht nur als Einsatzpunkte der Auseinandersetzung mit den Schriften Martin Heideggers und Edmund Husserls, sondern zugleich als Laufbahnschriften, die von Briefen an die akademischen Lehrer und Auseinandersetzungen mit den Gutachtern verbunden sind.
Der perspektivische Fixpunkt in Zills Darstellung des jungen Blumenberg ist die Deportation in das bei Dessau gelegene Arbeitslager Zerbst der Organisation Todt im Februar 1945. Als er nach zwei Monaten von dort entkam und sich nach Lübeck durchschlug, fand er dort Unterschlupf in einer Dachkammer der Schuhmacherfamilie Heinck, deren Tochter wenig später seine Frau wurde.
Die Abiturrede, die der junge Blumenberg, obwohl Jahrgangsbester, 1939 nicht halten durfte, der nationalsozialistische Direktor, der ihm sogar den Handschlag verweigerte, die Behinderung seines Studiums gehören zur Vorgeschichte der Lagererfahrung. Minutiös präpariert Zill heraus, wie das Bewusstsein der „verlorenen Zeit“, die es aufzuholen, in die Eile eingeht, mit der Blumenberg seine Laufbahnschriften so rasch wie möglich unter Dach und Fach bringen will. Die Biografie beginnt mit dem Verlust der gesamten bis dahin aufgebauten Bibliothek bei der Bombardierung Lübecks Ende März 1942. En passant korrigiert Zill ein Detail der von Flasch berichteten Teleskop-Anekdote Blumenbergs. Die Draegerwerke produzierten nicht Fernrohre, sondern Belüftungsanlagen für U-Boote.
Von den Ruinenstädten Kiel und Hamburg führt die akademische Karriere Blumenbergs in die Gelehrtenwelt der alten Bundesrepublik, von Gießen über die Neugründung Bochum bis nach Münster, das 1970 seine letzte Station wird. Ein Strang dieser Geschichte der Geisteswissenschaften in Deutschland handelt vom Umgang des als „Halbjude“ verfolgten Blumenberg mit denjenigen Kollegen, die vor 1945 sporadisch oder dauerhaft den Verfolgen nahegestanden hatten.
Wie die Infrastrukturen und Netzwerke, die Konkurrenzen und Rivalitäten des akademischen Lebens treten in Zilles Biografie die inneren Schichtungen und kommunizierenden Röhren der Autorschaft dieses Philosophen hervor, auch seine Verlagsbeziehungen, nicht zuletzt seine Konflikte mit Siegfried Unseld. Lange war Blumenberg ein Mann der Aufsätze, ehe er voluminöse Bücher veröffentlichte, schon als junger Mann publizierte er Feuilletons unter dem Pseudonym „Axel Colly“.
Es gibt im Prozess der theoretischen Neugier des Philosophen Hans Blumenberg ein Instrument, das für ihn so wichtig ist wie für Galilei das Fernrohr: den Zettelkasten. Es ist vielleicht kein Zufall, dass er nicht nur in Zills Biografie eine prominente Rolle spielt, sondern auch in ihrem Gegenüber, Jürgen Goldsteins nicht minder umfangreichem Buch „Hans Blumenberg. Ein philosophisches Portrait“. Es verhält sich zum Leben des Porträtierten sehr diskret, ohne es auszublenden, und ist ein luzider, in einem überaus klaren und unangestrengten Stil geschriebener fortlaufender Kommentar zum Gesamtwerk in allen seinen Facetten, von den Bemerkungen zu Kafka und den „Nihilismus“, das Modethema der Nachkriegszeit bis zur lebenslangen Faszination durch Goethe wie durch die Technik. Beide, Zill wie Goldstein, porträtieren den Hochschullehrer Blumenberg, der seit dem Sommersemester 1978 keine Seminare und Kolloquien mehr, sondern nur noch Vorlesungen anbot, als so unwiderstehlichen wie gegenüber dem Publikum rücksichtslosen Monologisierer. Als junger Student hat Goldstein Blumenberg noch erlebt.
Zill erläutert den Zettelkasten Blumenbergs im Rückblick auf Schreibprozesse, in denen kurz vor ihrer Abdankung die Techniken analoger Gelehrsamkeit noch einmal kräftig aufblühen. Ein Bravourstück ist sein „close reading“ der Lektürespuren, mit denen Blumenberg den kurz zuvor erschienenen Aufsatz Niklas Luhmanns über dessen Zettelkasten versehen hat. Zills Focus ist nicht nur hier das Archiv samt der penibel geführten Lektüreliste, die produktive Zone, in welcher der „absolute Leser“ seine Autorschaft vorantreibt.
Blumenberg ist am 28. März 1996 gestorben, aber er führt seitdem als Autor ein überaus reiches Nachleben. Jürgen Goldstein kennt die Archivexistenz Blumenbergs, aber sein Focus ist die Bibliothek, aus der die Lektüren kommen und in die sie eingehen. Zu recht mag er ihn auf eine Formel nicht festlegen, etwa die von Odo Marquard in seinem Nachruf ins Spiel gebrachte, sein Zentralmotiv sei die „Entlastung vom Absoluten“ gewesen: der mythischen Gewalt, des christlichen Willkürgottes, der Übermacht des Politischen.
Und er nimmt Blumenbergs Hang zur Anekdote gegen das Misstrauen in Schutz, hier suche einer Erholung von den Anstrengungen des Begriffs im Spiel mit den Formen der Literatur. Das Misstrauen traf einen gewissen Hang zum Virtuosentum, aber nicht den Kern von Blumenbergs Interesse an Metaphern und an einer „Theorie der Unbegrifflichkeit“. Es zielte nicht auf Ermäßigung begrifflicher Anstrengung oder Flucht in die Anschaulichkeit, sondern auf die Vervollständigung und Selbstaufklärung der Begriffsgeschichte durch eine Überprüfung der Metaphern, die unvermeidlich und notwendig zur Geschichte des Denkens gehören. Für die Lektüre von Blumenbergs nun aus dem Nachlass herausgegebenes Buch „Realität und Realismus“ ist Goldstein der ideale Begleiter. Nicht nur, weil er Blumenbergs Deutungen der Wirklichkeitsauffassungen in Antike, Mittelalter, Neuzeit und Moderne so gut kennt, sondern vor allem, weil er die „Geschichtlichkeit“ in Blumenbergs Denken und Werk mit der konkreten Zeitgeschichte verknüpft. Durch die Bücher von Zill und Goldstein tritt die Geschichte als Schreibhintergrund hervor, vom Nationalsozialismus über die Atomdebatten bis zur Mondlandung. Man lese in „Realität und Realismus“ die Passage, in der Blumenberg die Lebenserinnerungen des Anklägers im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, Robert M.W. Kempner, kommentiert.
Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Herausgegeben von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 232 Seiten, 28 Euro.
Hans Blumenberg: Realität und Realismus. Herausgegeben von Nicola Zambon. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 230 Seiten, 30 Euro.
Jürgen Goldstein: Hans Blumenberg. Ein philosophisches Porträt. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 624 Seiten, 34 Euro.
Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie. 816 Seiten, 38 Euro.
Weil seine Mutter Jüdin war,
stuften ihn die Nationalsozialisten
als „wehrunwürdig“ ein
Der Zettelkasten war für ihn
so wichtig wie
für Galilei das Fernrohr
Sein Hang zum Virtuosentum,
zum intellektuellen Hochseilakt,
erregte auch Misstrauen
Hans Blumenberg im Mercedes des befreundeten Ehepaars Schorr, circa 1958.
Foto: Archiv Bettina Blumenberg
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»Blumenberg beobachtet und beschreibt hinreißend, dass die Menschen in dem Augenblick, in dem der Brunnen gebohrt und das Leben gesichert ist, sofort anfangen, Umwege zu gehen. Jeder kennt das aus eigener Erfahrung: dass man etwas eher losgeht, um den längeren, aber schöneren Weg zum nächsten Termin nehmen zu können, den Umweg.« Eckart Goebel DIE WELT 20200711