Produktdetails
  • edition suhrkamp 2166
  • Verlag: Suhrkamp
  • 2000.
  • Seitenzahl: 185
  • Deutsch
  • Abmessung: 11mm x 108mm x 177mm
  • Gewicht: 122g
  • ISBN-13: 9783518121665
  • ISBN-10: 3518121669
  • Artikelnr.: 08556862
Autorenporträt
Jamal Tuschick, geb. 1961 in Kassel, lebt seit 1987 als Schriftsteller und Journalist in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2000

Burroughs beerbt Becketts Enkel
Jamal Tuschicks enttäuschender Erstling: „Keine große Geschichte”
Wenn junge Autoren sich anschicken, die Geschichte ihrer Generation zu erzählen und beim Leser die prägenden Jahre der eigenen Initiation heraufzubeschwören, ist Skepsis angebracht: Lässt sich da am Leitfaden der eigenen biografischen Realität eine lesenswerte Geschichte entwickeln? Es muss ja keine große Geschichte sein.
Jamal Tuschick, geboren 1961 in Kassel, schildert in seinem Erstling eine Clique, die in Kassel aufwächst, dort zur Schule geht und versucht, im Musikgeschäft Fuß zu fassen. Die Musiker und ihr Anhang sind schon seit Schülerzeiten in wechselnden Konstellationen zusammen, und mit mäßigem Erfolg spielen sie gegen die Gleichgültigkeit ihres Publikums an. Sie zitieren William Blake und Mick Jagger und tragen in der Clique farbige Namen wie Burroughs, Joy oder Cat Stevens, doch bestimmen weder Farbe noch Freude noch Erfolg ihr Leben. Die Alltagsrealität der 70er und 80er Jahre, die hier dargestellt wird, erscheint eher seltsam verschleiert und dunkel bis zur Morbidität, gedämpft nicht zuletzt durch Drogen- und Alkoholkonsum. Im Mittelpunkt der Band, der Clique und der Erzählung steht der charismatische Teichmann, ein Borderliner, der gern mit imperialer Geste auftritt, aber sein Leben nicht meistern wird.
Teichmann hat, wie sein leibhaftiger Großvater Samuel Beckett, Schriftstellerblut in den Adern, und als er sich – in der Mitte der Erzählung, gegen Ende der 80er Jahre – plötzlich umbringt, gehen seine Aufzeichnungen und Tagebücher partienweise in die Erzählung ein. Fortan ist Selkirk Barrenboyne Burroughs der Erzähler, Teichmanns Antipode. Auch er, der Gitarrist der Band, ist eine janusköpfige Figur. Er führt uns in die 90er Jahre: Mit geborgtem Geld kauft er sich Aktien, und als im Nahen Osten der Krieg gegen Saddam Hussein beginnt, gehört er zu den ersten Kriegsgewinnlern.
Teichmanns Tagebuch ist für Burroughs ein Medium der Selbstbegegnung. Immer wieder zitiert er aus den Aufzeichnungen des Verstorbenen, und diese Zitate machen ein grundlegendes Problem des Romans deutlich: Sie unterscheiden sich in nichts vom Ton und Tenor der Gesamterzählung, und folglich hat Jamal Tuschick, ihr Autor, kein Register für die unterschiedlichen Stimmen seiner Erzähler gefunden. In allen Partien, in allen Zitaten, in allen sprachlichen Gesten herrscht derselbe strapazierte, gedrechselte und polierte Duktus vor, der auch den Verfasser charakterisiert.
Jamal Tuschick ist wie seine Figur Joy „detailsüchtig”, sein Interesse gilt dem einzelnen Satz, doch die Konstruktion seiner Geschichte gerät ihm aus dem Blick. So erschöpft sich sein Buch über weite Strecken im Beobachten, Beschreiben, Registrieren und findet nicht zum Erzählen. Den bemühten Sätzen geht vielfach die Poesie verloren („Angestachelt von der eigenen Grobheit, wirft der Sportler die silbenrunden Wortkörperchen der Hochsprache einer Mundart zum Fraß vor”), Umständlichkeiten verhindern Verständlichkeit („Das Sexgeschäft auf der Kaiserstraße war in einem Verdrängungsprozess schon unterlegen, der dem ambitionierten Mittelstand eine Bresche in die Gegend geschlagen hatte”), und selbst die einfachen Bilder sind nicht selten unstimmig oder gar unfreiwillig komisch: „Auf der Rückbank seines Peugeots lag eine Jacke, die er über ihre Beine breitete; ganz unbesorgt, dass die Jacke dabei schmutzig wurde. ” Was müssen das für Beine sein!
Es gibt Ausnahmen, kurze Passagen, in denen sich die Verkrampfung löst und das Erzählen gelingt: Teichmanns Zeit als Zivildienstleistender im Altenheim gehört zu den stärksten Passagen des Buches. Teichmann testet jedes Medikament selbst, misst Blutdruck, spritzt bald wie ein Arzt und lässt sich von den Alten in die Hand kacken, wenn er das Laken nicht wechseln will. Eindrucksvoll sind auch die Erlebnisse von Teichmanns Mutter, die dreizehnjährig die Luftangriffe auf Kassel erlebte. Für einen Roman freilich ist das zu wenig, selbst wenn „Keine große Geschichte” angepeilt wird.
LUTZ HAGESTEDT
JAMAL TUSCHICK: Keine große Geschichte. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000. 186 S. , 18,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2008

Der Dichter hinterm Tresen

Als Romancier kennen den "Kurt" die wenigsten. Er heißt Jamal Tuschick und hat jetzt "Die Zwillinge oder Vom Versuch, Geist und Geld zu küssen" veröffentlicht.

Von Eva-Maria Magel

Der Mann ist so ziemlich das Unprätentiöseste, was einem unterkommen kann. Sitzt entspannt im sonnigen Gastgarten, in Jeans und dem verwaschenen schwarzen T-Shirt mit dem schönen Stalburg-Theater-Slogan: "Voll im Trend? Och nö." Im Trend ist Jamal Tuschick nicht, obwohl sein jüngstes Buch doch eine gewisse Aufmerksamkeit genießt. Sie gilt allerdings den beiden Damen, deren Leben er in eine Erzählung gegossen hat: Gisela Getty und Jutta Winkelmann, Koautorinnen von "Die Zwillinge oder Vom Versuch, Geist und Geld zu küssen", stehen vermutlich auch heute, im Alten Literaturhaus, im Mittelpunkt.

Tuschick ist das nicht unrecht. Ihm sei es darum gegangen, das Buch zu machen, und obwohl es ganz anders geworden ist, als er zu Beginn erhofft hatte, sagt er: "Ich bin den Zwillingen dankbar." Geformt hat er die Erinnerungen der beiden "Hippie-Ikonen"; schließlich kennt er sie alle, die Schauplätze dieser Wunderkinderjugend, die Orte der Provinz-Boheme im Kassel der Nachkriegszeit. Viel hatte sich nicht verändert in den 15 Jahren, die zwischen Tuschicks Geburt und jener der Kasseler "Sterntaler" Gisela und Jutta liegen. Und Tuschick, Jahrgang 1961, deutsche Mutter, arabischer Vater, hat 2003 selbst schon mal mit einem Zwillingsbruder und seinen Kassel-Erinnerungen experimentiert - in seinem Roman "Bis ans Ende der B-Seite". Es musste ihn also reizen, als Rainer Weiss, Verlagsgründer von Weissbooks, ihn fragte, ob er sich nicht der Biographie der beiden "Hippie-Ikonen" widmen wolle. Denn mindestens so sehr wie Schriftsteller sei er nun mal Journalist, so Tuschick, der eine gute Geschichte spüre.

Das allerdings wissen die wenigsten, die Tuschick begegnen. Auf dem Rücken seines schwarzen T-Shirts steht groß "Schdaff". "Staff", Personal, ist seit langen Jahren seine Existenzform; als Packer, Fahrer, Türsteher hat Tuschick gearbeitet. "Mir liegen volkstümliche Beschäftigungen", sagt er, und er braucht immer etwas zu tun. Beinahe wäre er dabei geblieben, hätte er, nach zwei Ehrenrunden, angetrieben von der ersten großen Liebe, nicht doch noch Abitur gemacht. 1987 kam er nach Frankfurt, als dritter Stipendiat der Romanfabrik, gleich nach Peter Kurzeck, den er als einen nennt, den er bewundert. Seit dem dreißigsten Jahr sei er geselliger geworden, sagt Tuschick. Er scheint gefunden zu haben, was manche Leute ihr Leben lang suchen, ein prekäres Gleichgewicht, fast Glück zu nennen. Im Nordend sei er "vor Anker gegangen" und sagt, mit seinen 47 Jahren: "Ich bleib' jetzt hier, bis es vorbei ist."

Seit Jahren schiebt Tuschick Dienst als Küchenhilfe in der Frankfurter Apfelweinwirtschaft Stalburg. Man trifft ihn hinterm Tresen des Stalburg Theaters, wo er als "Buffet-Kurt" genauso bekannt ist wie als Kurt, der für das "Theaterchen" Michael Herls samstags in der Stadt das Programmheft verteilt. Im Sommer, wenn das Theater zum "offen Luft Festival" im Günthersburgpark einlädt, ist der Kurt allabendlich der bärigste, stillste und vermutlich auch charmanteste Bratwurstbrater der Stadt. Kein Wunder, dass die wenigsten Leute glauben, einen Schriftsteller vor sich zu haben - nichts, aber auch gar nichts gibt einen Hinweis darauf. Schon gar keine Autorenklischees, weder Allüren, Kreativitätsgehuber, ostentatives Leiden am Text oder geheuchelte Bescheidenheit. Er sei kein großer Schriftsteller, sagt Tuschick. Natürlich habe er sich mal erträumt, "große Sachen" zu machen. Schreiben aber hält er nach wie vor für den schönsten Beruf und sich selbst, mit Verve, für einen "Dichter". Einer mit dem Gespür für Kollegen - so kam es, dass er mit seiner Anthologie "Morgenland" als einer der ersten das Potential der neuen deutsch-türkischen Erzählergeneration erkannt hat.

Morgens trinkt er irgendwo Kaffee im Viertel, läuft viel herum. Dann schreibt er, Romane, Erzählungen, Fragmente, bis es Zeit für die Stalburg ist. An "freien" Tagen bespricht er für die "Frankfurter Rundschau" Konzerte und Theaterpremieren, schreibt Kneipenbesprechungen, die möbliert sind mit dem Lebensgefühl und dem Personal der jeweiligen Gegend. Schreiben falle ihm leicht, sagt Tuschick, jahrelang war es wie eine Sucht, von der er nicht lassen konnte, seit er mit 13 Jahren begonnen hat.

Es hat dann allerdings doch bis weit nach dem 30. Geburtstag gedauert, bis Tuschicks erster Roman, einer von dreien, bei Suhrkamp erschien: "Keine große Geschichte". Wie alle seine Texte ist auch dieser, irgendwie, autobiographisch, und so hat man fast erwartet, dass in den "Zwillingen" auch der Tuschick um die Ecke schauen würde. Er tut es, auf Seite 219. "Immer wieder übernachten durchreisende Hippies, Künstler und von zu Hause abgehauene Jugendliche im Turm - und so auch ein ganz stiller Junge aus Kassel. Jamal", heißt es da. Tuschick wäre damals noch viel zu klein gewesen für einen solchen Ausflug nach Italien, wo die Schwestern sich selbst erfanden. Aber er hat sich ihnen in die Erinnerungen und den Mund gelegt. Eine Strategie, mit der er auch sonst hantiert. Einen "umgeleiteten Jagdtrieb" nennt er seine Art des Recherchierens und Schreibens. Als "Flaneur" würde Tuschick sich nie bezeichnen, wie auch. Als "dandymäßigen Müßiggänger" würde ihn wohl niemand einschätzen. Seine "Stadtgängereien" seien schnell, unauffällig, überraschend. Als Schriftsteller sei er, sagt Tuschick, so etwas wie ein "schwarzes Loch". Auch das ist ihm recht: So kann er als Kurt in Ruhe beobachten und schreiben, alles ist ihm "Muse wider Willen" oder zumindest Wissen. Im Herbst erscheint bei Weissbooks sein neuer Roman: "Auseinanderbrechende Paare". Kein schlechter Titel für einen, der behauptet, die größte Kreativität habe er freigesetzt, wenn er Liebeskummer hatte. Er spricht in der Vergangenheitsform.

Heute um 20 Uhr Lesung und anschließend Party im ehemaligen Literaturhaus, Frankfurt, Bockenheimer Landstraße 102.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Es geht um "die Geschichte einer Jugend in der nordhessischen Provinz", die vor allem von einem bestimmt ist: der Rockmusik, in deren Zeichen der dagegen naturgemäß abfallende Alltag gelebt wird. Das rundet sich keinesfalls zu einer schönen Jugend, sondern - und da fühlt sich der Rezensent Friedmar Apel an Michel Houellebecq erinnert - es wuchert nur das "Geschwür der Hoffnungslosigkeit". Wenigstens die Beschreibung des "provinziellen Kampf- und Krampfgeschehens" scheint gelungen, jedenfalls lobt Apel die präzise Beobachtungsgabe des Erzählers und den "wunderbar zickigen Stil eines Flaneurs von heute". Darüber hinaus fallen ihm an Vergleichsgrößen noch Allen Ginsberg, Joyce und Beckett ein, und dennoch bleibt ein Bedauern, dass das ganze dann doch "keine große Geschichte" ist.

© Perlentaucher Medien GmbH"