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An den "Deutschen Auslandswissenschaften"zeigt sich beispielhaft, was unter "politischer Wissenschaft" im NS-Sinne zu verstehen ist. Diese 1940 begründete politikwissenschaftliche Disziplin war an der Praxis nationalsozialistischer Rassenpolitik ausgerichtet und fühlte sich zum "Einsatz" berufen - bis hin zum Massenmord.
Der Autor analysiert Entstehung und Aufbau des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts und der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin und das wissenschaftliche Selbstverständnis der neuen Disziplin. Organisation und Inhalt ihrer Forschung und
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Produktbeschreibung
An den "Deutschen Auslandswissenschaften"zeigt sich beispielhaft, was unter "politischer Wissenschaft" im NS-Sinne zu verstehen ist. Diese 1940 begründete politikwissenschaftliche Disziplin war an der Praxis nationalsozialistischer Rassenpolitik ausgerichtet und fühlte sich zum "Einsatz" berufen - bis hin zum Massenmord.

Der Autor analysiert Entstehung und Aufbau des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts und der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin und das wissenschaftliche Selbstverständnis der neuen Disziplin. Organisation und Inhalt ihrer Forschung und Lehre wurden von den Zielen des "Rassenimperialismus" bestimmt. Das DAWI wurde zum Instrument auswärtiger Kulturpolitik, sein "Europa-Seminar" sollte die politische Führung mit wissenschaftlicher Expertise versorgen. Auslandswissenschaftler übernahmen Funktionen in Staat, Partei, Wehrmacht und Besatzungsverwaltungen. Das Beispiel des SD macht deutlich, daß der "Einsatz" von Wissenschaftlern bis zur Beteiligung an Verbrechen der Einsatzgruppen führen konnte. "Politische Wissenschaft" erweist sich als zentrale Kategorie für die Erforschung nationalsozialistischer Wissenschaftspraxis und für die Analyse von Selbstverständnis und Interaktion nationalsozialistischer Funktionseliten.

Der Autor:

Gideon Botsch, Dr. phil., geb. 1970, Dipl.-Politologe, ist Wiss. Mitarbeiter der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, Berlin.
Autorenporträt
Gideon Botsch, Dr. phil., geboren 1970, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam im Forschungsschwerpunkt Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung und langjährige Tätigkeit in der historisch-politischen Bildungsarbeit und Gedenkstättenpädagogik. Seine Forschungsinteressen und Veröffentlichungen sind: Die extreme Rechte in Geschichte und Gegenwart; Rassismus und Antisemitismus; Jüdische Sozialgeschichte; Nationalsozialistische Herrschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2007

Doppelter Einsatz
Die "Auslandswissenschaften" in der Zeit des Nationalsozialismus

Mit einem modernen Begriff müsste man den Wissenschaftszweig, den Gideon Botsch in seinem Buch vorstellt, wohl anwendungsorientiert nennen. Gäbe es die von ihm beschriebenen Einrichtungen noch, würden sie heute als interdisziplinärer "think tank" des Auswärtigen Amts gelten. Während des Studiums wäre vermutlich ein Praktikum im Planungsstab des AA obligatorisch, und die Absolventen hätten sicher einen Bonus bei der Zulassung zur Diplomatenausbildung. Doch eine Auslandswissenschaftliche Fakultät gibt es an den Berliner Universitäten nicht mehr, und die Auslandswissenschaften selbst gehören längst zur Disziplingeschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. Über "braune" Flecken auf dieser Geschichte muss man nicht mehr verwundert sein. Eher schon, wie lange die Selbstbeschreibung als unbelastete Demokratiewissenschaft bestimmend geblieben war.

Erste Gehversuche einer spezifischen Auslandskunde hatte es am Berliner Seminar für orientalische Sprachen seit Ende des 19. Jahrhunderts gegeben. Schon in der Deutschen Hochschule für Politik in den zwanziger Jahren war die Perspektive besonders auf das Ausland fokussiert worden. Diese Form der Auslandskunde erweiterte sich zu den Deutschen Auslandswissenschaften, die sich als Teildisziplin der Politikwissenschaften verstanden. Ihre Vertreter strebten eine Integration unterschiedlicher Basiswissenschaften wie Kultur- und Politikgeschichte, Volkskunde und Geographie, Wirtschaft und Recht, Staats- und Kulturphilosophie an. Im Mittelpunkt standen neben der Erforschung der internationalen politischen Vorgänge auch deren von Land zu Land verschiedene kulturelle und innenpolitische Prämissen. Mit der Wendung zum Völkischen als der Grundlage des Politischen überhaupt beanspruchte das Fach die Funktion einer nationalsozialistischen Leitwissenschaft. Insofern lag es nahe, die Auslandswissenschaften nicht einer schon bestehenden Fakultät zuzuordnen, sondern an der Friedrich-Wilhelms-Universität eine zusätzliche Abteilung einzurichten und mit dem Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut ein eigenständiges Reichsinstitut zu gründen. Die Neugründungen abseits der traditionellen Universität und der bestehenden außeruniversitären Institute eröffneten dem Reichserziehungsministerium eine sehr viel unmittelbarere Einflussnahme. Dem Ziel direkter politischer Steuerung dienten auch das Führerprinzip und ein Beirat aus Partei und Verwaltung. Dagegen war der Einfluss der SS geringer als bislang angenommen.

Botsch beschreibt ausführlich die Organisation des neuartigen Forschungszweiges, die Verfassung und den Aufbau der Auslandswissenschaftlichen Fakultät, die Entwicklung des Studiums und dessen Prüfungsanforderungen. Er schildert die Arbeitsbedingungen und die Forschungsschwerpunkte. In einem Anhang stellt er zudem das Lehrpersonal in kurzen Biogrammen vor. Aus der akademischen Ausbildung sollte die neue NS-Funktionselite in Politik, Verwaltung, Militär, Geheimdienst und Wirtschaft hervorgehen. Darüber hinaus sollte in dem Reichsinstitut forschend die Kenntnis vom Ausland erweitert, diese in Publikationsreihen popularisiert und zugleich im Ausland propagandistisch verwertet werden. Es ist erstaunlich, wie viel von diesen Ansprüchen noch in den Kriegsjahren umgesetzt wurde. Außerordentlich interessant der Abschnitt über ein Europa-Seminar, in dem man sich 1944/45 mit dem Föderalismus als politischem Prinzip beschäftigte.

Zu den wesentlichen Charakteristika der Auslandswissenschaften zählte der Wille zum "Einsatz", das heißt der Verbindung von Lehre, Forschung und konkretem Handeln. Das begann bei dem allgemeinen kulturpolitischen Auftrag, setzte sich fort in den Praktika und Arbeitseinsätzen der Studenten und gipfelte in geheimdienstlichen Operationen für den SD. In letzter Konsequenz hatte eine politische Wissenschaft im Nationalsozialismus eben keine beratende Instanz, sondern eine mitgestaltende Kraft zu sein. In ihrem praktischen Einsatz wurden Auslandswissenschaftler zu Mittätern bei den nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere den rassepolitischen Verfolgungen. Sie nutzten ihr Fachwissen zum Raub von Bibliotheken, Archiven und Sammlungen, zur Zerstörung wissenschaftlicher und kultureller Einrichtungen in den besetzten Gebieten. In Einzelfällen weist der Autor die Teilnahme von Auslandswissenschaftlern an der Liquidierung "gegnerischer Führungsschichten" bei Aktionen der Einsatzgruppen des SD nach. Zugleich war aber die Auslandswissenschaftliche Fakultät auch der Ort, an dem sich die Widerstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen traf.

Das Buch ist reich an Details, ohne jedoch den Leser mit Einzelheiten zu überfordern. Bedauerlich nur, dass Botsch für sein Thema die Akten des Auswärtigen Amts nicht herangezogen hat. Neben Franz Alfred Six, der als Direktor der Auslandswissenschaftlichen Fakultät zugleich die Kulturabteilung des AA leitete, wäre die eine oder andere Personalie vermutlich interessant gewesen. Denn eine Reihe der Absolventen des Auslandswissenschaftlichen Studiengangs sind noch während des Krieges als Angestellte (Wissenschaftliche Hilfsarbeiter) im Auswärtigen Amt zum "Einsatz" gelangt, wo ihre akademischen Lehrer schon Aufträge oder Funktionen übernommen hatten.

MARTIN KRÖGER

Gideon Botsch: "Politische Wissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. Die "Deutschen Auslandswissenschaften" im Einsatz 1940-1945. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2006. 362 S., 49,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Erhellend findet Martin Kröger diese Arbeit über die "Auslandswissenschaften" in der Zeit des Nationalsozialismus, die Gideon Botsch vorgelegt hat. Er bescheinigt dem Autor eine detaillierte Darstellung des Forschungszweiges, der zur nationalsozialistischen Leitwissenschaft mit eigenem Institut avancierte. Gründlich informiert fühlt er sich über Verfassung und Aufbau der Auslandswissenschaftlichen Fakultät, die Entwicklung des Studiums, Prüfungsanforderungen, Arbeitsbedingungen, Forschungsschwerpunkte und Lehrpersonal. Dabei unterstreicht er den praktischen Akzent der Auslandswissenschaften, die Verbindung von Lehre, Forschung und konkretem Handeln, das von Praktika bis zu geheimdienstlichen Operationen für den SD reichte und Institutsangehörige sowie Studenten vielfach zu Mittätern bei den nationalsozialistischen Verbrechen machte.

© Perlentaucher Medien GmbH