Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 25,00 €
  • Buch

Die Förderung der "sudetendeutschen Volksgruppe" durch die jeweiligen bayerischen Staatsregierungen gilt bis heute im Allgemeinen als Paradebeispiel für die vorbehaltlose finanzielle und politische Subventionierung einer Vertriebenengruppierung durch eine staatliche Institution der Bundesrepublik Deutschland. Dass die in der so genannten Schirmherrschaft institutionalisierte Beziehung weitaus komplexer war, zeigt die vorliegende Studie, die im Kern den Zeitraum von der Übernahme des patenschaftsähnlichen Verhältnisses im Jahr 1954 bis zur Ratifikation des Prager Vertrages zwischen der BRD und…mehr

Produktbeschreibung
Die Förderung der "sudetendeutschen Volksgruppe" durch die jeweiligen bayerischen Staatsregierungen gilt bis heute im Allgemeinen als Paradebeispiel für die vorbehaltlose finanzielle und politische Subventionierung einer Vertriebenengruppierung durch eine staatliche Institution der Bundesrepublik Deutschland. Dass die in der so genannten Schirmherrschaft institutionalisierte Beziehung weitaus komplexer war, zeigt die vorliegende Studie, die im Kern den Zeitraum von der Übernahme des patenschaftsähnlichen Verhältnisses im Jahr 1954 bis zur Ratifikation des Prager Vertrages zwischen der BRD und der Tschechoslowakei 1974 behandelt. Sie untersucht nicht nur die praktisch-politischen Funktionen des wechselseitigen Verhältnisses, sondern darüber hinaus auch die signifikante Identitätskonstruktion der Sudetendeutschen nach 1945. Ausgehend vom vielschichtigen Integrationsprozess zwischen Einheimischen und Neuhinzugekommenen wird mit der diskursanalytischen Reflexion der Schirmherrschaftsbeziehung implizit auch ein Beitrag zur bis heute aktuellen Debatte um die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs geleistet.

K. Erik Franzen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Collegium Carolinum, München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2010

Weißblauer Schirmherr
Die enge Verbindung zwischen der CSU und der Sudetendeutschen Landsmannschaft 1954 bis 1974

Baden-Württemberg und Bayern übernahmen im Jahre 1954 Patenschaften über die Donauschwaben beziehungsweise die Sudetendeutschen. Beide Länder erklärten zu ihren Partnern allerdings formal nicht die jeweiligen Landsmannschaften, sondern die "Volksgruppen" - so die damalige offizielle Diktion -, wobei der weißblaue Freistaat sogar von einer Schirmherrschaft sprach und die Sudetendeutschen zum "vierten Stamm" neben den Franken, Schwaben und Altbayern erklärte. Erik Franzen geht der Entstehung und Entwicklung dieser Sonderbeziehungen nach.

Dass die von Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) auf dem Sudetendeutschen Tag 1954 in München bewusst ausgesprochene Bezugnahme auf die "Volksgruppe" keineswegs eine Distanzierung von der Ende der vierziger Jahren entstandenen Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) bedeutete, macht Franzen überzeugend deutlich. Vielmehr entsprach dies durchaus dem Selbstverständnis der SL, die bis heute beansprucht, für alle sudetendeutschen Heimatvertriebenen und deren Nachkommen zu sprechen. Indem Bayern (endgültig 1962, als die 1954 nur verkündete Schirmherrschaft förmlich verbrieft wurde) die SL als bevorzugten Partner akzeptierte, wurde deren Führungsanspruch auch gegenüber anderen sudetendeutschen Organisationen und Vertriebenen, die nicht Mitglied der SL sind implizit anerkannt. Dies dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass die SL im Freistaat immer noch ein nicht unwichtiger politischer Faktor mit Ausstrahlung auf ganz Deutschland ist. Ihr ist es, obgleich die Vertriebenenverbände heute in der öffentlichen Wahrnehmung eher randständige Phänomenen sind, gelungen, sich dem Marginalisierungsprozess der vergangenen Jahrzehnte partiell zu entziehen. Die SL ist vergleichsweise mitgliederstark und gut organisiert. Nicht zuletzt wegen ihres Eintretens gegen die von der Tschechischen Republik aufrechterhaltenen "Benes-Dekrete" und wegen ihrer Entschädigungsforderungen gegenüber Prag ist die SL immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten und erfreut sich einer bleibenden, wenngleich nicht immer positiven medialen Aufmerksamkeit. Die Haltung des Autors zur SL ist kritisch distanziert; insbesondere versucht er, deren Alleinvertretungsanspruch zu delegitimieren, indem er herausarbeitet, dass die "sudetendeutsche Identität" keineswegs Ergebnis einer kontinuierlichen historischen Entwicklung, sondern vielfältiger Brüche und Konstruktionen ist, innerhalb derer die Schirmherrschaft und der Mythos vom vierten Stamm eine zentrale Rolle einnehmen.

Die enge Verbindung zwischen der SL und Bayern respektive der CSU als stärkster politischer Kraft und seit 1962 mit absoluter Mehrheit regierender Partei im Freistaat war trotz des hohen Anteils der Sudetendeutschen an der bayerischen Nachkriegsbevölkerung keineswegs von vornherein so absehbar. Vielmehr entdeckte die CSU das Wählerpotential der Vertriebenen erst in dem Moment, als vor dem Hintergrund des "Wirtschaftswunders" die Maßnahmen zur Vertriebenenintegration zu greifen begannen und die Bayernpartei als partikularistische Konkurrenzpartei rechts von der CSU ab Mitte der fünfziger Jahre an Bedeutung verlor. Die Schirmherrschaft, die nicht ohne Grund vor den Landtagswahlen 1954 verkündet wurde, kann als Teil der Bemühungen der CSU gewertet werden, neue Wählergruppen zu erschließen. Bezeichnend ist, dass in den Jahren danach, auch über die kurze Oppositionszeit der CSU (1954 bis 1957) hinaus, erst einmal Stillstand in den Beziehungen zur SL herrschte.

Erst ab 1962 kam es zu einer weiteren Vertiefung, als die CSU sich anschickte, die Reste der Vertriebenenpartei GB/BHE (Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, seit 1961 nach Fusion mit der Deutschen Partei offiziell GDP, also Gesamtdeutsche Partei) zu beerben. Seither gelang es der CSU vor dem Hintergrund der neuen Ost- und Deutschlandpolitik sich als Sachverwalter heimatpolitischer Interessen der Vertriebenen zu profilieren - wobei Franzen allerdings darauf hinweist, dass jene Aktivität nicht so weit ging, gleichsam eine Art Nebenaußenpolitik zu betreiben. Vielmehr habe sich die Unterstützung im Verbalen beziehungsweise in symbolischer Politik erschöpft.

Franzen kennzeichnet das Kalkül aller bayerischen Staatsregierungen gegenüber der SL seit 1954 als aktive Klientelbindung bei gleichzeitiger Kontrolle, wobei die Ministerpräsidenten den einzuschlagenden Kurs bestimmten. Die für beide Seiten vorteilhafte Politik war zwar immer mit Gratwanderungen verbunden, aber sie förderte die Integration der Vertriebenen in die bayerische Nachkriegsgesellschaft entscheidend, indem sie die Möglichkeit eröffnete, sich nach außen erfolgreich als "Volksgruppe" darzustellen.

Die Sonderbeziehungen zwischen Bayern und der SL existieren bis heute. Als Bayern 1978 ein Patenschaftsabkommen mit der Landsmannschaft Ostpreußen (LO) - nicht mit der "Volksgruppe" beziehungsweise mit der Provinz - abschloss, wurde die SL informell an den Verhandlungen beteiligt. Es gelang ihr hierbei, die LO auf Abstand zu halten und die eigene Vorrangstellung zu wahren. Die Studie stellt - auch wenn man nicht allen Bewertungen folgen will - einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Vertriebenenintegration sowie zur noch zu schreibenden Gesamtgeschichte der Sudetendeutschen nach 1945 dar.

MATTHIAS STICKLER

K. Erik Franzen: Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954-1974. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2010. 513 S., 59,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Matthias Stickler schätzt K. Erik Franzens Studie über die enge Verbindung zwischen der CSU und der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) von 1954 bis 1974. Wie er berichtet, charakterisiert der Autor das Kalkül der CSU gegenüber der SL als aktive Klientelbildung bei gleichzeitiger Kontrolle. Die für beide Seiten vorteilhafte Politik habe die Integration der Vertriebenen entscheidend gefördert. Stickler weist auf die kritische Haltung Franzens gegenüber der SL hin. Auch wenn er bei den Bewertungen nicht immer mit dem Autor einer Meinung zu sein scheint, würdigt er die Arbeit insgesamt als einen "wichtigen Beitrag" zur Geschichte der Vertriebenenintegration und der Sudetendeutschen nach 1945.

© Perlentaucher Medien GmbH