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Franz Overbeck war einer der großen Denker des 19. Jahrhunderts. Sein Einfluss auf Nietzsche, Barth, Löwith, Benjamin, Taubes und viele andere ist unbestritten. "Werke und Nachlaß" erschließt erstmals Overbecks Gesamtwerk und stellt den Theologen und Historiker vor als einen skeptischen und zugleich sensiblen und distanzierten Beobachter der verschiedenen geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt für die gegenwärtige Diskussion über Geschichte, Mythos und (Post-) Moderne ist die Beschäftigung mit den Gedanken dieses "antimodernen Modernisten" wichtig. Band 7/2…mehr

Produktbeschreibung
Franz Overbeck war einer der großen Denker des 19. Jahrhunderts. Sein Einfluss auf Nietzsche, Barth, Löwith, Benjamin, Taubes und viele andere ist unbestritten. "Werke und Nachlaß" erschließt erstmals Overbecks Gesamtwerk und stellt den Theologen und Historiker vor als einen skeptischen und zugleich sensiblen und distanzierten Beobachter der verschiedenen geistigen und politischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt für die gegenwärtige Diskussion über Geschichte, Mythos und (Post-) Moderne ist die Beschäftigung mit den Gedanken dieses "antimodernen Modernisten" wichtig. Band 7/2 umfasst Overbecks Aufzeichnungen über seine wichtigsten Freunde Heinrich von Treitschke, Friedrich Nietzsche und Erwin Rohde. Overbecks Aufzeichnungen dokumentieren, wenngleich spät und retrospektiv verfasst, eine intensive Auseinandersetzung mit der Person und dem Denken Nietzsches, die auch auf den damals beginnenden Nietzschekult reagiert.
Autorenporträt
Barbara von Reibnitz, Studium der Klassischen Philologie, Philosophie und Religionswissenschaften; Promotion in Klassischer Philologie; Mitarbeiterin der Jacob-Burckhardt-Gesamtausgabe (Basel). Marianne Stauffacher-Schaub, diplomierte Naturwissenschaftlerin ETH Zürich; Redaktionsassistentin der Overbeck-Ausgabe.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Echo, wo bist du?
Im Archiv, wo denn sonst? Overbeck wollte Nietzsche vor den Deutern retten / Von Henning Ritter

Nachdem bei Friedrich Nietzsche der Wahnsinn ausgebrochen war, geschah alles Weitere in einer fast beängstigenden Raschheit. Als er am 25. August 1900 in Weimar starb, zeichnete er sich im Bewusstsein der Zeit als Philosoph der Zukunft ab. Die Geschichte seines aufgehenden Ruhms ist aber auch die Geschichte von Zerwürfnissen und Krisen, an deren Anfang Franz Overbeck steht, der den Wahnsinnigen aus Turin heimgeholt hatte. Er besaß eine Sammlung von Briefen und nachgelassenen Manuskripten, weshalb er sich um eine Ausgabe des Nachlasses bemühte. Die Aktivitäten der Schwester Nietzsches führten aber nach und nach zur wechselseitigen Entfremdung aller, die zu Nietzsche nähere Beziehungen gehabt hatten - Köselitz-Gast, Rohde und Overbeck -, und schließlich 1894 zu Overbecks Bruch mit Elisabeth Förster-Nietzsche und dem von ihr eingerichteten Archiv. Overbeck lag nun nur noch daran, seine "Nietzscheana" vor dem Zugriff der Schwester zu schützen und seine Beziehungen zu Nietzsche historisch genau zu dokumentieren. Im Unterschied zu Nietzsches Schwester scheute Overbeck die Publizität. Ein Jahr nach seinem Tod 1905 hat Carl Albert Bernoulli die Aufzeichnungen Overbecks über Nietzsche in der Neuen Rundschau auszugsweise veröffentlicht und 1908 in einer großen zweibändigen Monografie zusammen mit den zwischen beiden gewechselten Briefen verarbeitet.

Das gleichzeitige Erscheinen des Briefwechsels Overbecks mit Nietzsche und des Konvoluts der Aufzeichnungen "Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde", die hier zum ersten Mal in originalgetreuer Edition zugänglich gemacht werden, gibt Gelegenheit, Overbecks Part in dieser größten Schlacht um Nachruhm und Nachwirkung eines Denkers, die das zu Ende gegangene Jahrhundert beschäftigt hat, neu zu bedenken. Dabei ist Overbeck längst nicht mehr der wehrlose Kontrahent des Weimarer Archivs. Vielmehr hat er seit Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari philologisch über das von Elisabeth Förster-Nietzsche inspirierte Editionsunwesen den endgültigen Sieg davongetragen. Overbeck ist zum stillen Säulenheiligen der Kritischen Gesamtausgabe geworden, die sich als Entmythologisierung und Reinigung des unredlich kanonisierten Nietzsche versteht. Dem Vorbild Overbecks entsprachen Colli und Montinari auch in dem Willen, die Genese des Werks sichtbar zu machen und Bedingungen seiner Entstehung sogar über späte, ungesicherte Intentionen ihres Autors zu stellen. Aber die Frage der "Wahrheit" Nietzsches ist damit so unentschieden wie je. Overbeck hat gesiegt, aber hat er nicht auch über Nietzsche gesiegt?

Die Freundschaft zwischen Nietzsche und Overbeck hat etwas befremdlich Rätselhaftes. Der Theologe, dem der Glaube an das Christentum verloren gegangen war, über das er dennoch in seinem kirchengeschichtlichen Amt zu lehren versuchte, ließ sich durch die Anpassungen der Theologen seiner Zeit in ein tiefes inneres Zerwürfnis mit dem Christentum treiben und geriet in völlige Isolierung. In seinem Temperament und Wollen war er das gerade Gegenteil von Nietzsche, der mit Zweifeln und Verstörungen nicht haushielt, sondern ihnen vehementen Ausdruck gab, unter Verletzung aller wissenschaftlichen Disziplin, in deren Gehäuse Overbeck wiederum Halt fand. Der ungläubig gewordene Theologe und der den Tod Gottes ausrufende Pfarrerssohn, der Philologe und der Rhetor, waren gerade in der Frage, die sie einander am nächsten bringen musste, am weitesten voneinander geschieden. Und so in vielem, ja nahezu allem.

Liest man die Briefe, die sie gewechselt haben, als Zeugnisse einer Freundschaft, so kann Overbecks Aufmerksamkeit gegenüber den alltäglichen Beschwernissen Nietzsches nicht darüber hinwegtäuschen, dass ebendas, woran Nietzsche am verzweifeltsten litt, sein Verlangen nach einem Echo seiner Gedanken, unerwidert blieb. Overbeck beschwichtigte allenfalls, ohne antworten zu können. Als Nietzsche ihm "Jenseits von Gut und Böse" schickt, beschwört er seinen Freund, von seiner gewöhnlichen Zurückhaltung abzuweichen: "Nun kommt die Bitte, alter Freund: lies es, von vorne nach hinten, und laß Dich nicht erbittern und entfremden - ,nimm alle Kraft zusammen', alle Kraft Deines Wohlwollens für mich, Deines geduldigen und hundertfach bewährten Wohlwollens, - ist Dir das Buch unerträglich, so vielleicht hundert Einzelheiten nicht!"

Overbeck fügt sich der dringlichen Bitte, berichtet, dass er das "wunderbare neue Buch" auf eine Wanderung mitgenommen habe. Er habe das erste und zweite Buch "mit Andacht gelesen". Das konnte es nicht sein, was Nietzsche als Echo erhofft hatte. Wie aber soll es dem Empfänger entgangen sein, dass neben der litaneiartigen Klage über Krankheit, Schmerzen und Vereinsamung die erschütterndsten Passagen der Briefe Nietzsches an Overbeck jene sind, in denen er die Echolosigkeit seiner ganzen Existenz beklagt? Gegen solche Schmerzen hatte sich Overbeck in seiner eigenen Einsamkeit, die er sich als Weltablehnung deutete, wohl früh immun gemacht.

Das Pathos der "idealischen Dachstuben-Einsamkeit", einer Existenz, für welche die Erkenntnis zum "mächtigsten Affekt" wird, steigerte sich bei Nietzsche langsam zu einer Leidenschaft der Selbstüberwindung, die für Zuspruch und Warnung kaum mehr empfänglich war. Da mag sich der Freund nur noch als ein Zuschauer gefühlt haben, der wie ein Krankenwärter bloß gelegentlich davor warnt, sich zu viel zuzumuten. Was Nietzsche fehlte, hat er selbst erst an der Schwelle seines Wahnsinns ausgesprochen: "Dagegen will ich keinen Augenblick leugnen", schreibt er an Overbeck am 12. Februar 1887, "daß ein andres Faktum mir schrecklich weh tut und mir auch beständig gegenwärtig ist: dass in eben diesen fünfzehn Jahren auch nicht Ein Mensch mich ,entdeckt' hat, mich nötig gehabt hat, mich geliebt hat, und dass ich diese lange erbärmliche schmerzensüberreiche Zeit durchlebt habe, ohne durch eine ächte Liebe getröstet worden zu sein." Seine Briefe an Overbeck sind zu weiten Teilen diesem Thema der Krankheit und Einsamkeit und den geistigen Mitteln gegen sie gewidmet, eine einzige Unglückslitanei, für die es in der Literatur kaum Vergleichbares gibt. Dies ist umso bedeutsamer dadurch, dass die ganze Gedankenarbeit immer auch - ähnlich wie im einzig vergleichbaren Fall, bei Rousseau - den Charakter eines Heilmittels für diese Grundübel hat. Wahr sind Gedanken, die es erlauben, es mit solchen Erlebnissen und Erleidnissen auszuhalten, und am Ende, im beginnenden Wahnsinn, wird die gedankliche Euphorie jede Art von Klage hinweggefegt haben.

Seit den ersten Briefen aus Turin, Mitte Oktober 1888, ist es vorbei mit dem ewig kränkelnden, ewig kranken Nietzsche. Er fühlt sich wohl, die Welt und die Menschen kommen ihm entgegen, "es gibt auch keine Zufälle mehr". Die Linie zwischen Gesundheit und Krankheit möchte man dort ziehen, wo die Krankheit aufhört zu schmerzen und jubelnd die Gesundheit ausgerufen wird. Schwerer als die Vertauschung der Worte wiegt aber die Kontinuität des Lebensthemas von Gesundheit und Krankheit, von Jubel und Jammer. Die Mythologeme der ewigen Wiederkunft und des Übermenschen sind äußerste Zumutungen an den Leidenden und des Mitleids Bedürftigen: Selbstüberwindungen des Leidenden, der über sich selbst ewige Qualen verhängt und dennoch über die Hölle triumphieren will. Aus solcher Kontinuität des Leidens an sich selbst wurden erstaunliche Vorausdeutungen auf das Ende möglich. Schon im Januar 1882 sah Nietzsche sein Schicksal mit größter Präzision voraus: "Eine sehr langsame und lange Bahn wird das Loos meiner Gedanken sein - ja ich glaube, um mich etwas blasphemisch auszudrücken, an mein Leben erst nach dem Tode und an meinen Tod während meines Lebens."

Vieles an Nietzsches Philosophie wächst aus solchen Erfahrungen und Hellsichtigkeiten hervor. Sein Fluch über das Mitleid und seine Proklamation der Härte mochten aus dem so wenig hilfreichen Mitleiden der anderen ebenso entsprungen sein wie aus dem Scheitern aller aus Sympathie oder Mitleid entspringenden Zuwendung zu anderen. Und die Verherrlichung der Kraft des Gedankens mochte aus den täglichen Niederlagen stammen, die Schmerz und Krankheit Nietzsche beibrachten. All dies kann Overbeck nicht übersehen haben, als er sich nach dem geistigen Tod des Freundes daranmachte, Rechenschaft über ihre Freundschaft abzulegen. Umso mehr muss das kühle, fast buchhalterische Abwägen Overbecks erstaunen. Er bediente sich desselben Verfahrens der Sonderung der Probleme auf Karteikarten, das er für die Kirchengeschichte und Polemik gegen die zeitgenössische Theologie und Kultur anwandte: ein Mittel der Sonderung und Distanzierung, der Vergewisserung über den historischen Verlauf, vor allem aber ein Mittel der Abwehr von unliebsamen Interpretationen und Fiktionen.

Das Konvolut der Aufzeichnungen erweckt den Eindruck, Overbeck habe Material weniger für ein Buch als für eine Anklageschrift gesammelt - gegen die Nietzsche-Legende der Schwester. Das Nietzsche-Bild, das Overbeck zeichnet, will sich von aller Glorifizierung freihalten. Er kannte den Preis, der für Kanonisierung gezahlt wurde: In seinen Forschungen zur frühen Geschichte des Christentums hat Overbeck die Überlieferung auf die Pointe gebracht, dass die Kanonisierung geschehen sei um den Preis des Vergessens der Bedingungen für das Verständnis ihres Sinns. Das historische Verständnis will diese Bedingungen zurückgewinnen und entlarvt deswegen die Überlieferung als Täuschung über den ursprünglichen Sinn. Hätte man beides, Ursprung und Überlieferung, zusammen haben können, Urliteratur und Tradition? Es war der Traum der philologisch-historischen Kritik, diese Kluft schließen zu können. Aber durch die Zusammenführung von Ursprung und Überlieferung würde der Text als Potenzial einer belebenden, sinnstiftenden Lektüre zerbröseln. Es scheint geradezu eine Bedingung für die Überlieferung zu sein, dass sie den anfänglichen Sinn in Unverständlichkeit hüllt, ihn entstellt um der Möglichkeit eines neuen Verständnisses willen.

In dem Versuch der Kanonisierung Nietzsches durch die unredlichen Legendenbildungen der Schwester erlebte Overbeck nun ebenjenen Vorgang von nahem und als Beteiligter mit, dem er als Forscher aus großer zeitlicher Ferne nachging. Overbeck ergeht es mit Nietzsche wie den frühen Zeugen des Christentums mit dem neuen Glauben: Er hat den Freund "erlebt", aber nicht "verstanden", wie er verwundert feststellt. Die Bestandsaufnahme dessen, was er mit Nietzsche "erlebt" hatte und was er über ihn wusste, war von vornherein dazu verurteilt, so karg auszufallen und sich in Deutungen zurückzuhalten. Die Aufzeichnungen unter "Nietzsche (Friedr.) Allgemeines" beginnen, charakteristisch genug, mit der Feststellung: "Nietzsche war kein im eigentlichen Sinne großer Mensch." Vielmehr stach bei ihm das "Theatralische" ins Auge, wenn er eine Kulisse nach der anderen aus seinem "Dekorationsmagazin" hervorzog. Die fehlende "Größe" bemerkt Overbeck nicht nur an Nietzsches einzelnen Talenten, sondern vor allem an seinem "Willen zur Macht", den er mit so viel Beredsamkeit als sein Ideal aufstellte. Was ihn auszeichnete, war eine rhetorische Begabung, ein "Bestreben nach Größe, der Ehrgeiz im Wettkampf des Lebens" und die "Gewalt, mit der er sich behandelte".

Als das ungewöhnlichste seiner Talente erkannte Overbeck Nietzsches "Gabe der Seelenanalyse", "die ihm denn auch selbst, da er sie vornehmlich an sich übte, so tödlich gefährlich wurde und ihn ,entseelte', lange ehe er starb". Overbeck sah den Freund als ein Opfer seiner Psychologie als schon vor dem Ausbruch seines Wahnsinns "entseelt". Diese Diagnose tut unübersehbar alles, um die Voraussetzungen für die Legende vom Künstler und Philosophen Nietzsche im Keim zu ersticken. Das "Geniale" an ihm lag nach dem Zeugnis Overbecks in seiner "Begabung als Kritiker", die er allerdings gegen sich selbst richtete. Er glaubt sogar zu erkennen, dass Nietzsche an seine Genialität und letztlich an sich selbst nicht geglaubt und diese Zweifel durch die "äußersten Extravaganzen seines Selbstbewusstseins" übertönt habe.

Overbecks Aufzeichnungen über Nietzsche unterziehen diesen und ihre Freundschaft einer Echtheitsprüfung, die nur die Freundschaft besteht, nicht aber Nietzsche selbst. Vielleicht war dieser selbst am wenigsten der Gegenstand der Aufzeichnungen. Aber der Leser behält doch den Eindruck zurück, Overbeck habe einem Verführer widerstehen wollen. Er hat seine geistige Existenz von sich fern gehalten. Er handelt von Nietzsche als einem Gescheiterten. Selbst seine Einsamkeit beruhte auf einem Selbstmissverständnis, das seinem Ehrgeiz geschuldet sein mochte: Er war, meint Overbeck, "lange nicht so einsam, wie er sich vorkam", denn keiner seiner Gedanken sei "von Grund auf neu und unerhört" gewesen. Dieses Urteil zeigt ein erstaunliches Maß an "Unmusikalität" auch für das, was geistige Originalität ausmacht. Overbeck wollte Nietzsche untauglich machen für den Kultus, der seine Kanonisierung zum Philosophen der Zukunft begleitete. Sein Wahnsinn musste in den Augen Overbecks, der sich nun sogar in die psychiatrische Literatur der Zeit hineinzuarbeiten begann, umso deutlichere klinische Konturen gewinnen, damit das mythologische Potenzial des heiligen Wahnsinns nicht jenem Kultus zugute kam, den der kritische Philologe vor allem fürchtete.

Der Preis dieser Overbeckschen Kur ist bis heute zu spüren in einem treuherzig philologischen Umgang mit Nietzsches Philosophieren auf der einen Seite und in der um Philologie unbekümmerten Entfesselung einer geistreichen philosophischen Belletristik andererseits. Was der Philologe Overbeck verhindern wollte, ist eingetreten: Die Texte haben sich von ihren Verstehensbedingungen ihrer Ursprungssituation gelöst und sich an die immer rascher sich wandelnden Bedingungen der Rezeption angepasst. Mehr als bei jedem anderen Philosophen sind die Texte Nietzsches zu dem geworden, was man aus ihnen machen möchte. Auf etwas von Nietzsche Gemeintes ernsthaft zurückzukommen ist keine sinnvolle kritische Forderung mehr. So gibt es weder Kanonisierung mehr noch echte Kritik, weder Glauben noch Wissen.

Friedrich Nietzsche, Franz und Ida Overbeck: "Briefwechsel". Herausgegeben von Katrin Meyer und Barbara von Reibnitz. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2000. XXXII, 535 S., geb., 88,- DM.

Franz Overbeck: "Werke und Nachlass". Band 7/2: Autobiographisches. "Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde". Herausgegeben von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 1999. LVII, 347 S., geb., 138,-, bei Gesamtbezug 108,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2000

Von einem, der eins und doppelt war
Biografie im Zettelkasten: Franz Overbeck und sein nie geschriebenes Buch über Nietzsche
„Nietzsche-Zarathustra”, bemerkt Franz Overbeck einmal, „hat als seine Thiere Löwe, Adler und Schlange bei sich. ” Nietzsche selber aber fährt er fort, sei „auf seinem Lebensweg nur ein Spatz beigegeben gewesen, seine Schwester, die nun auch seine Biographin geworden ist, und als solche vollends ihre Spatzennatur der Welt kund thut. ”
Wenn Overbeck, der sonst so Zurückhaltende und Besonnene, sich erregt, will das etwas heißen. Zu Heinrich von Treitschke zum Beispiel, über dessen forciertem Patriotismus und erst recht dessen spätere Bekehrung die frühe Freundschaft sich empfindlich getrübt hatte, verliert er kein unfreundliches Wort. Nur wenn er auf das „Lama” – noch ein Tier! – zu sprechen kommt, Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, spitzt sein Ton sich regelmäßig zu. Und das nicht etwa aus Eifersucht oder Neid, auch wenn Overbeck beinah ohnmächtig zusehen musste, wie sich die Schwester mit Hilfe der „Reclameanstalt” des Weimarer Nietzsche-Archivs das Deutungsmonopol über Leben und Werk erfochten hatte. Einzig aus dem Pflichtgefühl, das Andenken des Freundes in Schutz nehmen zu müssen, sind die Notate dieses Bandes überhaupt entstanden – vorwiegend in Overbecks Ruhestandsjahren, zwischen 1901 und 1905.
Eine postume Auswahl, weniger als die Hälfte des vorliegenden Materials, hatte C. A. Bernoulli bereits 1906, ein Jahr nach Overbecks Tod, in der Neuen Rundschau veröffentlicht. Und darin unter anderen alle Angriffe gegen die Schwester unterdrückt. Indem die vorliegende kritische Edition die Aufzeichnungen vollständig, auf mehr als 200 Seiten und zumal in der von Overbeck hinterlassenen, nach Themen alphabetisch geordneten Form zugänglich macht, befriedigt sie ein seit langem akutes Desiderat.
Warum nur, fragt sich des öfteren der Leser oder vielmehr der Benutzer dieses Archivs, hat Overbeck sein Nietzsche-Buch nicht geschrieben? Man hätte dann wohl nicht bis zur Edition Karl Schlechtas warten müssen, um zu erkennen, wie sehr die Schwester Biografie und Werk verfälscht hatte. „Unsere Freundschaft verdient, wenigstens um des Antheils, den ich activ dazu gespendet, willen ein Denkmal nicht, und dieses ihr zu setzen ist mir nie in den Sinn gekommen”, schreibt Overbeck. Sechs Jahre, seit 1870, hatten sie Tür an Tür gelebt, der genialische, noch vor der Promotion nach Basel berufene Altphilologe, der die Hoffnungen der Zunft mit dem Eklat des Tragödienbuchs so bald enttäuschen sollte, und der Theologe, der laut eigener und der Aussage seiner Freunde keiner gewesen sei und sich einst öffentlich von der christlichen Kirche losgesagt hatte. Das „Contubermium” mit seinen ausschweifenden Debatten hatte eine Verbundenheit gestiftet, die zumindest für Overbeck allen folgenden Stürmen Stand halten sollte, auch den gelegentlichen Angriffen Nietzsches, der keinen noch so engen Freund verschonte. So dass es schließlich Overbeck war, der, von Jacob Burckhardt alarmiert, 1889 aufs heftigste erschrocken nach Turin eilte, um dort mit Nietzsches geistigem Zusammenbruch konfrontiert zu werden. Und zwar in Formen, über die er sich selbst in diesen der Schublade vorbehaltenen Aufzeichnungen Schweigen auferlegt.
Mit dem Wesen dieser Freundschaft befassen sich denn auch viele der Reflexionen. „Meister- und Schülerbeziehungen” hätten gleichsam „widernatürlich” hineingespielt, notiert der fast sieben Jahre und gleichwohl sich unterlegen fühlende Ältere. Zuerst Freund, dann eingestanden Schüler, entwickelte sich Overbeck schließlich, nicht minder aus Freundschaft, zum Kritiker Nietzsches. Gleichwohl, wie schon Heinrich von Treitschke, darf man auch Nietzsche zu Overbecks „Erziehern im Unchristentum” rechnen. „Mich hat kaum sonst etwas gründlicher von aller modernen Theologie getrennt als mein freundschaftlicher Verkehr mit Nietzsche”, heißt es einmal. Immer wieder aber kämpft Overbeck gegen das populäre Missverständnis vom „eigentlich” ja doch gläubigen Nietzsche an, bekämpft er das ihm „Ekelhafteste an der modernen Theologie”, ihren Nietzscheanismus.
Das protestantische Pfarrhaus als Schicksal – auch die Theologenlaufbahn Overbecks folgt den signifikanten Bahnen des 19. Jahrhunderts, als im Zuge der Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die heiligen Texte aus Heilslehre Ernüchterungswissenschaft geworden war. Obwohl an der Theologie verzweifelnd, ist er nicht, wie Hölderlin, zur Literatur oder, wie Nietzsche, zur Philosophie übergelaufen. Man erkennt heute im tradierten Bild des pedantischen Buchstabenkrämers nur schwer die Sprengkräfte der Philologie. Viten wie diejenige Overbecks aber führen einmal mehr vor Augen, wie sehr das Philosophieren mit dem Hammer, dessen Nietzsche sich rühmte, aus dem Geist des Zettelkastens geboren war.
Persona-Akten
Ob Nietzsche wirklich ein großer Mensch gewesen sei, fragt sich Overbeck einmal, um ihm an anderer Stelle das Genietum wohl zuzugestehen, freilich nur das eines Kritikers. Seine „Künstlerbegabung ist eine zu beschränkt rhetorische gewesen” – kaum zu leugnen, wenn man an die Angestrengtheiten des Zarathustra oder gar an die von Wagner zwar unsensibel, aber nicht von ungefähr verlachten Kompositionen denkt. Das Vorurteil von der Beschränktheit des Rhetorischen weiß Overbeck später freilich zu relativieren. Und zumal einen Verdacht auszuräumen, den theoriegestählte Literatur- und Kulturwissenschaftler, selbst wenn sie nicht mehr dem Foucaultschen Diktum vom Tod des Autors anhängen, hegen könnten: Wenn Overbeck in der eingangs zitierten Wendung Nietzsche mit Zarathustra gleichsetzt, reduziert er dann nicht das Werk umstandslos auf die Biografie? Das Werk eines Autors, der gesagt hatte: „Das eine bin ich, das andre sind meine Schriften. ” Dies aber in der Autobiografie Ecce Homo, dem nach wie vor verstörenden Skandal der Gattung schlechthin.
Andererseits hatte Nietzsche sich selbst, in einem Brief an Lou Salomé vom September 1882, zur „Reduktion der philosophischen Systeme auf Persona-Akten ihrer Urheber” ausdrücklich bekannt – nicht anders habe er in Basel Geschichte der alten Philosophie gelesen. Ein Widerspruch, der genau besehen, die Goethesche Weisheit des „Dass ich eins und doppelt bin” aufgreift, der es versteht, Leben ins Werk zu setzen und aus dem Werk Leben zu schöpfen. Der andere Weimarer Jubilar gehörte wohl nicht zuletzt deshalb zu den wenigen, denen Nietzsche vorbehaltlose Bewunderung gezollt hatte, weil ihm das Projekt gelungen war, im Spiel der Fiktionen, Masken und Selbstverwandlungen symbolisch Sinn zu stiften.
Nietzsche aber, so Overbeck, sei zum „Product der Gewaltsamkeit, mit der er sich behandelte”, geworden. Einer, der die Last der selbstauferlegten Fiktionen nicht tragen konnte – wenn man so will, erkennt Overbeck in ihm einen Märtyrer der Schrift, darin Kafka vergleichbar. Einen, der gleichsam an seiner intellektuellen Redlichkeit zugrunde gegangen ist, daran, erkannt zu haben, dass die Wahrheit der Wahrheit die menschengemachte Fiktion ist. Gegen die Verzweiflung vermochte der Wille zur fröhlichen Wissenschaft, der so leicht zum Mutwillen exaltieren konnte, nur temporär etwas auszurichten. Overbeck beschreibt Nietzsche als einen „Desperado” in exaktem Wortsinn, als einen Verzweifelten: „Er pocht auf die Schrankenlosigkeit seiner Phantasie gegen die Desperation und auf die Schrankenlosigkeit dieser gegen jener. ” Er wusste besser als jeder andere um 1900, dass Nietzsche nicht bloß eine, sondern mehrere Sprachen spricht.
Versuche, sich zu täuschen
Wer Nietzsche zu lesen verstehe, heißt es einmal, der werde in ihm den Rhetor erkennen. Am Ursprung der Wahrheit, so hatte der frühe Traktat „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn” befunden, steht die Lüge: in Gestalt der Sprache als ursprünglich metaphorischer, und das heißt von aller Wirklichkeit entkoppelter Setzung. Nietzsche wird daher zum Fundamentalrhetoriker, dessen Metamorphosen Overbeck als eine Folge von Selbstmaskierungen begreift. Alle seine Erfindungen seien „seine Versuche sich selbst zu täuschen”. Overbecks Notizen repräsentieren eine exemplarische Wahrnehmung der Physiognomie von Nietzsches Denken, die in mancher Hinsicht erst von der französischen Nietzsche-Rezeption der sechziger und siebziger Jahre eingeholt worden ist.
Es verwundert kaum, wenn Overbeck daher zu den Lehren vom Übermenschen oder von der ewigen Wiederkunft des Gleichen Abstand hält. Zumal Nietzsche ihm die letztere selber in einem derart manischen wie hilflosen Zustand mitteilte, der den Freund schon damals heftigst verstört hatte. Gelegentlich vermutet er retrospektiv schon den künftigen Wahnsinn, um sich an anderer Stelle ins Wort zu fallen: für Nietzsches Gedankenwelt sei gewiss häufig Exaltation, aber keine Geisteskrankheit verantwortlich gewesen.
So bleibt das Fazit: Im diametralen Kontrast zu seinem von seiner Mission gewaltig, vielleicht gewaltsam überzeugten Freund hat sich Overbeck selber leider nicht wichtig genug genommen. Wie bedeutsam er hätte sein können, davon kann man sich in dieser Edition überzeugen, deren Kommentar einen selten im Stich lässt. Gelegentlich hätte er vielleicht etwas weniger zurückhaltend ausfallen können.
UWE C.  STEINER
FRANZ OVERBECK: Werke und Nachlass, Band 7/2: Autobiographisches. Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde. Hrsg. Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart Weimar 1999.
347 Seiten, 138 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

"In einer Sammelrezension bespricht Ludger Lütkehaus vier Bücher, die seiner Ansicht nach zusammen Nietzsches Leben "so vollständig und anschaulich wie nie verfolgen" lassen.
1.) "Friedrich Nietzsche/Franz und Ida Overbeck: Briefwechsel" (J. B. Metzler Verlag)
Für Lütkehaus ist Overbeck der "eigentliche Held dieses Briefwechsels". Der Rezensent zeigt sich nicht nur beeindruckt von Overbecks langjähriger und aufrichtiger Treue seinem Freund Nietzsche gegenüber. Bemerkenswert findet er auch, wie sehr der Kampf um Nietzsche hier deutlich wird, gerade auch angesichts der verfälschenden Nietzsche-Vermarktung durch dessen Schwester Elisabeth Förster. Lütkehaus ist zwar der Ansicht, dass Overbeck wirklichen Konflikten in dieser Frage aus dem Weg gegangen ist und dadurch letztlich die fragwürdige Nietzsche-Rezeption späterer Jahre teilweise - unbeabsichtigt - mitverantworten muss. Deutlich werden nach Lütkehaus jedoch die Selbstvorwürfe Overbecks und die Themen, die beide häufig besprechen. Dies sind vor allem auch Tod und Wahnsinn. Was Nietzsches Briefe betrifft, so hält der Rezensent diese für seine eigentliche "Autobiografie".
2.) Franz Overbeck: "Werke und Nachlass in neun Bänden" (Metzler Verlag)
Für dieses Buch gilt nach Ansicht des Rezensenten in mehrfacher Hinsicht ähnliches wie für den Briefwechsel zwischen Overbeck und Nietzsche. Beide Bücher bezeichnet Lütkehaus als "unvergleichliche Dokumente", die darüber Aufschluss geben, wie sehr Overbeck um die Freundschaft und auch um sein Nietzsche-Bild, dass Elisabeth Förster bedrohte, gekämpft hat.
3.) Friedrich Nietzsche: "Chronik in Bildern und Texten" (Hanser Verlag)
Lütkehaus weist zunächst darauf hin, dass es sich hier um den Begleitband zur Weimarer Nietzsche-Ausstellung handelt. Zwar weist der Rezensent Kritik an der Ausstellung und an dieser Chronik als "philosophisch uninteressantes Potpourri" nicht zurück, allerdings ist er dennoch der Ansicht, dass auch "Nietzsche-Kenner" hier so manche Entdeckung machen können. Auch wird, wie der Leser erfährt, deutlich, inwiefern Örtlichkeiten einen Einfluss auf Nietzsches Leben wie auch auf sein Denken gehabt haben.
4.) David Farell Krell/Donald L. Bates: "Nietzsche - der gute Europäer" (Knesebeck Verlag)
Störend findet Lütkehaus an diesem Band, dass Nietzsche hier - "ästhetizistisch zugerichtet" - als "guter Europäer" präsentiert wird. Allerdings lobt er den Band als durchaus auch in philosophischer Hinsicht interessant. So werde deutlich - wie übrigens auch in der "Chronik" - wie sehr für Nietzsches Denken "die zeitliche Dimension zentral ist".

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"Overbeck wird durch diese Ausgabe von Werken und Nachlaß vom Außenseiter und Geheimtip zum Klassiker und Theologiekritiker." -- Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte
"Die nachgelassenen Aufzeichnungen Franz Overbecks und der kommentierte Briefwechsel zwischen Nietzsche und dem Ehepaar Overbeck, beides unvergleichliche Dokumente." (DIE ZEIT)
"Kein Zweiter ist Nietzsche in den formativen Jahren seiner intellektuellen Existenz buchstäblich so nah gewesen wie Franz Overbeck. Schon deshalb gehört das Konvolut von Aufzeichnungen, das er über Nietzsche und seine Freundschaft zu ihm verfasst und angelegt hat, zum Wertvollsten, was sich zu dieser Periode, aber auch zur Person Nietzsches überhaupt lesen lässt." (Berliner Zeitung)
"Im diametralen Kontrast zu seinem von seiner Mission gewaltig, vielleicht gewaltsam überzeugten Freund hat sich Overbeck selber leider nicht wichtig genug genommen. Wie bedeutsam er hätte sein können, davon kann man sich in dieser Edition überzeugen, deren Kommentar einen selten im Stich lässt." (Süddeutsche Zeitung)
"Dieser von Barbara von Reibnitz und Marianne Stauffacher-Schaub herausgegebene Band verdient, was das edit orische Angebot und die Gestaltung angeht, das höchste Lob. Der Leser hält mit ihm ein sorgfältig präpariertes Stück Geistesgeschichte in den Händen. ... Diese Aufzeichnungen sind von einer Nähe zu ihrem Gegenstand bestimmt, die in der philosophischen Literatur einzigartig ist." (Badische Zeitung)