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Produktdetails
  • Verlag: Kindler
  • Originaltitel: Melancholia
  • Seitenzahl: 444
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 536g
  • ISBN-13: 9783463403984
  • ISBN-10: 3463403986
  • Artikelnr.: 24190204
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Religion am Rande des Nervenzusammenbruchs
Jon Fosses Roman "Melancholia" / Von Thomas Irmer

Der Dramatiker Jon Fosse nimmt gerade seinen Weg über die deutschsprachigen Bühnen. Es hat ein paar Jahre und einiges Geschick des Rowohlt-Theaterverlags gebraucht, ihn hier im richtigen Moment entdecken zu lassen. Denn Fosse bietet im leicht wiedererkennbaren Grundton seiner bislang zehn Stücke eine Alternative zu den überhitzt lauten und oft gewalttätigen Geschichten seiner britischen und deutschen Kollegen. Regisseure und Schauspieler sind fasziniert von der klaren Sprache, die mit ihren Wiederholungen und Pausen sehr musikalisch wirkt, und von der Rätselhaftigkeit seiner Bühnengeschichten, von denen "Der Name" derzeit am häufigsten inszeniert wird.

Fosses Material entstammt seiner westnorwegischen Heimat mit ihren kleinen Gemeinden an abgelegenen Fjorden. Sein Thema ist jedoch universell: spirituelle Verlorenheit und Außenseitertum in scheinbar nestwarmen Gemeinschaften, von denen die Familie seit Ibsens Rückgriffen auf die Antike auch bei Fosse die dramatisch ergiebigste Konstellation für das Theater bleibt.

Sein poetischer Minimalismus wurde mit der Formel "Ibsen, durch die Brille Becketts gesehen" geadelt und von begeisterten Theaterprofessionellen etwas voreilig als wegweisende Dramatik des einundzwanzigsten Jahrhunderts empfohlen. Kurios ist, daß der Erfolgsdramatiker zur Arbeit für die Bühne von einem Freund erst überredet werden mußte. Denn bevor im Jahre 1994 das Stück "Und wir werden uns niemals trennen" in Bergen von dem Regisseur Kai Johnsen uraufgeführt wurde, war Fosse in Norwegen vor allem als Lyriker und Prosaschriftsteller bekannt. Mit seinem ersten Roman "Rot, Schwarz" (1983) und nachfolgenden Essays hatte der damals 24 Jahre junge Autor sich von dem quasidokumentarischen Realismus, der in der norwegischen Gegenwartsliteratur vorherrschte, so weit weg geschrieben, daß die Kritik seine literarische Position als "scream of consciousness" bezeichnete. Die Dominanz der sprachlichen Gestaltung über eine äußerlich reduzierte Handlung und das Insistieren darauf, in erster Linie "Text zu schreiben" anstatt zu erzählen, irritierten zunächst ebenso wie das Umkreisen gnostischer Motive. Der in Bergen wohnende Autor galt als der erste "postmoderne" Schriftsteller Norwegens, und das ist - gerade bei allen stilistisch nur in etwa zutreffenden Vergleichen mit Thomas Bernhard - so stimmig wie ein Fjord als Freizeitbad.

Seit 1990 hat Fosse beinahe jeden wichtigen Literaturpreis Norwegens erhalten, den für ihn als Dramatiker auch eine Art Erblast darstellenden Ibsen-Preis 1996 noch dazu. Kurios ist in diesem Zusammenhang auch, daß vor ein paar Jahren bereits ein Band mit Erzählungen in deutscher Übersetzung herauskam und praktisch unbeachtet blieb. Die vom Autor so genannten Hundemanuskripte "Von Kötern, Kläffern und feinen Hundedamen" erschienen, aufgemacht wie ein Kinderbuch, im Hamburger Carlsen Verlag und wurden von Internet-fähigen Dramaturgen erst geordert, als sie sich mit seinen Stücken zu beschäftigen begannen.

"Melancholie" ist nun der große Auftritt des Dramatikers als Romancier, und wer ersteren auch nur ein bißchen kennt, wird sich in den anderen schnell vertiefen können und wollen. Eine Voraussetzung für diesen - auf den ersten Blick - Künstlerroman ist das freilich nicht, vielmehr eine Möglichkeit, die sich mit ihrer Verlorenheit quälenden Schriftstellerfiguren in "Der Name" und "Die Nacht singt ihre Lieder" mit der inneren Welt des Landschaftsmalers Lars Hertervig zu vergleichen.

Dieser liegt - "Düsseldorf, Nachmittag, Spätherbst 1853" - auf seinem Bett und sinniert über für ihn unlösbar miteinander verbundene Probleme: Zum einen weiß er nicht, ob er schon der Maler ist, der er werden wollte, und ob sein an diesem Abend ausgestelltes Bild von seinem Professor an der Akademie akzeptiert wird. Er weiß nur, daß er malen kann. Eine in der äußeren Welt urteilende Instanz mag er nicht, die innere, also höhere sucht er noch. Zum anderen wird er sein Zimmer aufgeben müssen, weil er sich in Helene verliebt hat, die Nichte von Herrn Winckelmann, bei dem er zur Untermiete wohnt. Er wird gehen müssen, zurück nach Norwegen, und das Künstlerlokal "Malkasten" vielleicht nicht noch einmal aufsuchen, wo die Lehrer und Kollegen an diesem Abend zusammenkommen werden. Die unmögliche Liebe ist mit der Unmöglichkeit vollkommener Kunst verbunden, für beides gibt es keinen Grund.

Äußerlich entwirft Fosse hier ein fast klischeehaftes Bild der Boheme im neunzehnten Jahrhundert - bis hin zum lila Samtanzug, den Lars Hertervig trägt, und der Pfeife, die er auf dem Bett zu rauchen pflegt. Als innerer Monolog über zweihundert Seiten ist dieser erste von insgesamt vier Teilen die grandios erzählte Stimme eines vielfach Zerrissenen: Malen zu können ist keine Garantie, auch Maler zu sein; jemanden zu lieben heißt nicht, wirklich Geliebter zu sein; sexuelles Begehren ist auch die Angst davor; und ein Künstler kann nicht Mitglied einer Künstlergemeinde sein, wenn er etwas gestaltet, das die anderen nicht genau so wie er empfinden.

Für die Gedanken- und zunehmend auch Erinnerungsgänge Hertervigs sind gewiß nicht nur bekannte psychologische Muster geltend zu machen. Der Autor hat sie tatsächlich eher nach kompositorischen Prinzipien strukturiert: Leitmotive und Variationen, Wiederholungen und dazwischen eingeschobene Rezitative und Duette lassen das Ganze als klangvoll imaginierte Gedankenoper lesen, ohne daß man die psychologische Dimension der so konkret beschriebenen Lebensproblematik aus den Augen verlieren würde. Eindringlichster Beleg für diese These ist, daß bald zu ahnen ist, wo dieser Geist enden wird: in einer Anstalt. Drei Jahre später setzt der zweite Teil in der "Irrenanstalt Gaustad in Christiana, Morgen, Weihnachten 1856" wie zu erwarten an, und der Maler erlebt die Pein eines ihm bei vollem Bewußtsein verlorengegangenen Lebens, als wäre er ein von Kierkegaard Gedachter, dem die Überschreitung des gleichwohl ersehnten Zusammenhangs nicht mehr möglich ist.

Fosses Kunstfigur hat ein reales Vorbild. Lars Hertervig gehört zu den Landschaftsklassikern der norwegischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts. Der 1830 bei Stavanger geborene Künstler studierte an der Düsseldorfer Akademie unter dem auch im Roman auftretenden Hans Gude. In dieser Schule spätromantisch kodifizierter Landschaftsmalerei schoß Hertervig mit seinen theatralischen Fjordlandschaften über das Lernziel phänomenaler Naturdarstellungen hinaus. Seine zumeist in ungewöhnlichen Blautönen gemalten Bilder wirken melancholisch, aber nicht schwerblütig. Auffallend sind die stets stürmisch bewölkten Himmel, hinter denen vereinzelt helles Licht auszumachen ist, was Interpreten als nicht recht zu erklärendes religiöses Motiv, gar als "luziden Mystizismus" gedeutet haben. Tatsächlich erlitt der junge Maler 1854 eine, wie es in der Fachliteratur heißt, schwere "Nervenkrise", die ihn zur Rückkehr nach Norwegen und in ein Leben unter schwierigsten Umständen zwang. 1902 starb Hertervig, der wohl gewußt hat, daß er malen konnte und daß er dennoch kein Maler sein konnte.

Um einen biographischen Roman handelt es sich dennoch nicht. Fosse lotet zwar aus, was der schweren Nervenkrise bei angehender höchster Künstlerschaft vorausgegangen sein könnte, aber die durch die Empfindungen des Malers vermittelten sozialen und psychischen Bedingungen sind nur eine Seite der Geschichte. Mit dem letzten Teil des Romans springt er um fast fünfzig Jahre in den Herbst 1902, einige Monate nach dem Tod von Hertervig. Seine fiktive Schwester Oline, eine leicht senile Greisin, versucht ihren späten Alltag in den Griff zu kriegen. Auf einem steilen Hang steht ihr Haus, unten an der Bucht gibt es Fisch zu kaufen. Der Rückweg ist so beschwerlich für die Alte, daß ihre Gedanken nur darum kreisen, ob sie es mit dem Fisch noch zum Toilettenhäuschen schaffen wird. Diese Szene wird wiederholt, denn nach dem ersten Mal muß sie noch einmal hinunter in die Bucht, um einen neuen Fisch zu kaufen. Dazwischen gibt es, wie bei Lars zuvor, Erinnerungen an die frühste Kindheit, die erkennen lassen, daß die Lebensproblematik der Hertervigs eine zutiefst religiöse Angelegenheit ist. Der auf Unabhängigkeit bedachte Vater widersetzte sich dem Protestantismus, ließ keines seiner Kinder taufen und hing den Quäkern an. Die Kinder Lars und Oline wollten sich als Kinder dieser Außenseiterfamilie wenigstens konfirmieren lassen. "Das müßt ihr selber wissen", sagt der Vater und läßt sie mit dieser Frage am Ende allein.

Daß es Fosse um die notwendige spirituelle Verankerung von Künstlerschaft geht, legt der dritte Teil des Romans nahe. Er ist der kürzeste und bedeutsamste. Hier sucht Anfang der gerade vergangenen neunziger Jahre ein Schriftsteller namens Vidme, der Fosse selbst sein könnte, den Kontakt zu einem Pfarrer der Norwegischen Kirche, weil er mit einem von ihm geplanten Roman über Hertervig nicht zurechtkommt. Nach einem Telefonat gerät er an die Vertretung, die weltlich verführerisch auftretende Maria, eine moderne Pfarrerin, die dem Schriftsteller Wein anbietet und darüber hinaus keine Antworten. Gerade das ist die Situation, die Vidme aus seinem "writer's block" befreien könnte, aber man erfährt das nicht, wenn man den Roman selbst nicht als die ganze Antwort nehmen möchte.

Das Buch ist die Katze, die sich in den Schwanz beißt. Denn erst der Glaubenszweifel gebiert die Glaubenssuche und diese wiederum die - fast - Gewißheit ihrer Unmöglichkeit. Das hat Hertervig in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in den von seiner Umwelt so festgestellten Wahnsinn getrieben, und das läßt Vidme am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, auch wenn die Umwelt nichts dergleichen mehr feststellen wird, noch einmal dieselben Fragen stellen. In diesem Punkt ist Fosse ein bohrender Realist des sogenannten postideologischen Zeitalters, das sein Heil allein in den Naturwissenschaften sucht. Er sucht und will seine Leser suchen lassen.

Theatergänger, die Fosses Stücke auf Bühnen in Deutschland und der Schweiz gesehen haben, werden sich über dieses Buch des Autors wundern. Seine den Leser sofort mitreißende erzählerische Technik, die dank der Übersetzung Hinrich Schmidt-Henkels bis in die filigrane Syntax funktioniert, verdankt sehr viel dem in Interviews ausdrücklich bewunderten Johann Sebastian Bach, und der hat bekanntlich das Göttliche in ein wirklich weltliches Musikverständnis gebracht, das die Frage nach Gott nur als Kunst selbst beantwortet. Nichts anderes ist dieser Roman und so sein Titel, der die Geschichte aller Verunsicherung mit den ältesten Fragen der Philosophie aufruft.

Jon Fosse: "Melancholie". Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Kindler Verlag, Reinbek 2001. 445 S., geb., 49,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rolf Michaelis betont, dass es sich hier- obwohl dieser Geschichte das Leben des Malers Lars Hertevig zu Grunde liegt - keineswegs um eine Biografie handelt. Es gehe mehr um das, was sich im Kopf eines Außenseiters abspielt, der mehrfach Ausgrenzung erlebt und aufgrund einer Schizophrenie letztlich in einer Anstalt landet. Dies erkläre auch etwas, was dem Leser zu Anfang des Buchs möglicherweise merkwürdig vorkomme, nämlich das stetige Wiederholen, Variieren und Umkreisen von Wortfolgen, "Endlosschleifen", bei denen sich Michaelis recht deutlich an "minimal music" erinnert fühlt, und die - so Michaelis - nichts anderes sind, als die kreisenden melancholischen Gedanken des Protagonisten, in denen es bestenfalls Akzentverschiebungen gibt. Ein anderer Aspekt, der dem Rezensenten überaus wichtig erscheint, ist die Rolle des Lichts: "Licht in allen Brechungen der Farbskala", das sogar bei den Schüben der Schizophrenie immer wieder bedeutsam wird. Insgesamt betont der Rezensent jedoch, dass Fosse hier keineswegs einen "Trauer-Roman, ein Vernichtungs-Buch" geschrieben hat, sondern einen faszinierenden Roman mit so zarten Szenen, wie man sie in der aktuellen "Rammelei-Literatur" nach Ansicht des Rezensenten nirgends finden könne.

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