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Daran kann man sich einfach nicht gewöhnen!Berlin ist und bleibt eine Zumutung. Die Kassen sind leer, der Bürgermeister findet die Stadt trotzdem sexy, und was sich so Bohème nennt, ist in Wirklichkeit nur ein immerwährendes Praktikum. Klar, alles schaut auf diese Stadt: Schon weil Berlin nicht auf sich selbst aufpassen kann. Neue Geschichten aus Berlin, unserer barbarischen Hauptstadt.
Im Sommer 2003 erschien Hier spricht Berlin: Die Berliner empörten sich, der Rest amüsierte sich über die kleinen, bösen Geschichten aus dem Alltag der sogenannten Hauptstadt - die Aufmerksamkeit war groß,
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Produktbeschreibung
Daran kann man sich einfach nicht gewöhnen!Berlin ist und bleibt eine Zumutung. Die Kassen sind leer, der Bürgermeister findet die Stadt trotzdem sexy, und was sich so Bohème nennt, ist in Wirklichkeit nur ein immerwährendes Praktikum. Klar, alles schaut auf diese Stadt: Schon weil Berlin nicht auf sich selbst aufpassen kann. Neue Geschichten aus Berlin, unserer barbarischen Hauptstadt.

Im Sommer 2003 erschien Hier spricht Berlin: Die Berliner empörten sich, der Rest amüsierte sich über die kleinen, bösen Geschichten aus dem Alltag der sogenannten Hauptstadt - die Aufmerksamkeit war groß, der Erfolg war es auch.Seither sind drei Jahre vergangen, in denen viel geschehen ist und es immer noch so vieles gibt, worüber mit Berlin dringend mal gesprochen werden muss: Das Leben, Leiden und die Lächerlichkeit der Bundespolitiker zum Beispiel. Den regierenden Bürgermeister und seine Freunde. Den Mietmarkt und seine immer tieferen Abgründe. Das Geld, das manchmal zu Besuch kommt in die Bohème, und plötzlich kriegen auch linksradikale Künstler ganz leuchtende Augen. Die Wolfskinder vom Prenzlauer Berg, die direkt aus ihren Käffern ins große Jugenddorf Berlin ziehen und das für die Großstadt halten. Den Untergang der Dörfer Charlottenburg und Wilmersdorf. Die sogenannte Neue Bürgerlichkeit. Die Kampfradler. Die lokale Presse, die sich an Lokalchauvinismus von niemandem überbieten lässt.

In kleinen Geschichten, in welchen es nicht groß um Meinung und Reflexion geht, sondern um Empirie und Anschauung, begegnen die Autoren diesem Berlin, diesem barbarischen Ort. Nur gut, dass sie sich dabei die gute Laune nicht verderben lassen. Denn gute Laune ist auch eine Form des Widerstands - gegen Berlin.
Autorenporträt
Seidl, ClaudiusClaudius Seidl, geb. 1959 in Würzburg, studierte in München, arbeitete als Kulturredakteur beim Spiegel und der Süddeutschen Zeitung. Heute ist er Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2007

Die Hauptstadt der Barbaren

Ist menschliches Leben möglich in der deutschen Hauptstadt - und wenn ja: Wird die Zivilisation dort jemals ankommen? Das sind so die Fragen, die sich stellen im Berliner Alltag. Und weil die schnellen Antworten meist die falschen sind, haben Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter, Claudius Seidl und Anne Zielke ein Buch geschrieben: "Schaut auf diese Stadt!" Ein Vorabdruck

Anne Zielke.

Der Aufzug.

Überall in Berlin wird gebaut. Man weiß zwar nicht immer genau, was und wieso, aber überall kann man ein eifriges Graben und Hämmern beobachten. Manchmal auch mehrmals an einem Ort: Wenn ein Haus in der Nachbarschaft renoviert worden ist, sieht man es im Jahr darauf mysteriöserweise wieder hinter einem Gerüst verschwinden. Es ist, als ob aufgrund einer monströsen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme die Stadt aufgebuddelt wird, dann rumort es in den Baugruben oder hinter Fassaden voller Plastikplanen, bis alle Anwohner am Ende sind, und bevor jemand überprüfen kann, was dort tatsächlich getrieben wurde, ob nicht alles eine große Simulation war, wird alles wieder zugeschüttet.

Eines Tages fingen sie auch am Rosenthaler Platz an. Ein Aufzug sollte hinunter zur U-Bahn gebaut werden. Die U-Bahn-Station Rosenthaler Platz hat vier Eingänge. Man geht eine Treppe hinunter, unten beginnt jeweils ein Tunnel, der nur auf den ersten Blick in eine Höhle zu führen scheint. In Wirklichkeit enden die Tunnel auf einer Art unterirdischem Treppenabsatz, auf dem wiederum ein Kiosk aufgebaut ist. Der Verkäufer ist nicht unfreundlich, nur an schlechten Tagen; er fühlt sich zwar auch von jedem potentiellen Zeitungskäufer gestört, schnauzt ihn aber wenigstens nicht an wie die blondierte Kioskbesitzerin oben an der Ecke Torstraße, die nur schlechte Tage kennt, und manchmal bedankt er sich, wenn er sein Geld erhalten hat. Von diesem Kiosk geht es noch eine Treppe nach unten; eine Treppe, die viel länger ist als all die anderen Treppen zusammen, meistens sitzen Hunde und Obdachlose Spalier, dann erst ist man auf dem Bahnsteig. Einen Aufzug hat es lange Zeit nicht gegeben. Ich habe ihn auch nicht vermisst, denn ich fahre sowieso nicht gerne U-Bahn, schon gar nicht mit Gepäck, und wenn ich mal hinabgestiegen bin an diesen dunkelgelb beleuchteten, gefliestten und zugigen Ort, dann nur, weil ich lieber ein paar Meter weiter gehe, als bei der blondierten Kioskbesitzerin eine Zeitung zu kaufen.

Als die Bauarbeiter abzogen, war zwar jeder der U-Bahn-Eingänge einmal verrammelt gewesen, dahinter monatelange und ohrenbetäubende Emsigkeit, ohne dass nach der Wiedereröffnung der Tunnel irgendetwas anders gewesen wäre, sogar die Graffiti waren noch an den Wänden. Dass aber tatsächlich etwas anders geworden war, davon zeugte das nagelneue gläserne Aufzughäuschen, das auf einmal oben am Platz stand, direkt vor der Dönerbude "Imbiss International". Es dauerte zwar noch ein bis zwei Monate, bis auch die letzten Sandhaufen davongekarrt und die letzten Absperrungen verschwunden waren, aber das Häuschen mit dem Aufzug war eine Tatsache.

Irgendwann stand ich davor und drückte auf den Knopf. Ich hatte einen Koffer bei mir, ich musste zum Bahnhof, überall in der Stadt waren die Straßen verstopft, weil irgendeine Demonstration stattfand und auch die Straße des 17. Juni gesperrt war. Der Aufzug kam. Das heißt, er kam nicht sofort, da er mit einer Kurbel betrieben zu sein schien, aber ein Kabel zitterte und zeigte an, dass sich da unten zumindest etwas nach oben bewegte. Die Tür öffnete sich, eine Stimme aus einem Lautsprecher half mir auf die Sprünge und sagte "Oberfläche". Drinnen war alles einfach und überschaubar, denn abgesehen von der Oberfläche gab es nur noch einen Knopf, das musste so etwas wie die Unterfläche sein - wie auch immer, da wollte ich jedenfalls hin. Mit einer ungeheuren Gemächlichkeit setzte sich der Aufzug wieder in Bewegung; über so etwas sieht man ja hinweg, wenn man nur nicht selbst seinen schweren Koffer die Treppen hinuntertragen muss. Der Aufzug hielt: Endstation. Ich stieg aus, nur von Gleisen war nichts zu sehen. Rechts neben mir brummte der Verkäufer im Kiosk irgendetwas zu einem potentiellen Zeitungskäufer, es war wohl einer seiner schlechten Tage, und links von mir führte die lange, lange Treppe vom Zwischengeschoss zum Bahnsteig hinab. Da bauen sie nun und bauen, großes Tamtam, das ganze Programm - und dann führt der neue Aufzug nur bis zum Mittelgeschoss.

Peter Richter und Claudius Seidl.

Kunst.

Es hat immer schon die Weißwein-Vernissagen gegeben. Es gibt Rotwein-Vernissagen. Es gibt Bier-Vernissagen. Es gibt seit kurzem in Berlin einen Galeristen, der zu seinen Eröffnungen nur Wasser oder Wodka reicht. Und manchmal gibt es auch Champagner-Vernissagen, aber dort ist die Kunst meistens nicht besonders. Champagner gibt es normalerweise erst zu den Essen, die im Anschluss an die Vernissagen ausgerichtet werden.

Dass so gut wie alle, die mit Kunst zu tun haben, dauernd in Berlin sind, heißt also nicht, dass der Kunstbetrieb hier keine Probleme hätte. Weil sich die Vernissagen immer an ein paar ganz bestimmten Wochenenden ballen, hat er zum Beispiel das Problem, zu viel durcheinanderzutrinken. Und ganz genauso sehen die Kunstbetriebsangehörigen an den Sonntagen danach oft auch aus.

Das Vernissagenwesen hat wegen solcher Sachen immer schon ordentlich kulturkritisches Kopfschütteln auf sich gezogen: Frivol sei das, die Leute stünden mit dem Rücken zur Kunst, schrieen rum und seien am Ende alle nicht mehr nüchtern, wirkliche Liebhaber genössen in Stille.

Mal davon abgesehen, dass die Annahme, sich einem Kunstwerk nur im Zustand innerer Isolationsfolter nähern zu dürfen, womöglich auf einem bildungsbürgerlichen Grundirrtum beruht, mal abgesehen davon also, dass selbst die störrischsten Kunstwerke manchmal viel bereitwilliger zu einem sprechen, je gesprächiger man selber gerade drauf ist: Etwas Interessanteres als ein Freitagabend mit Vernissagenmarathon durch Berlin kann einem eigentlich gar nicht passieren. Wem die Leute nicht gefallen, der schaut sich die Kunst an - und umgekehrt. So funktioniert jede Vernissage im Grunde wie ein Vexierbild. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass, wer Glamour will, diesen mittlerweile lieber auf den Terminen des Kunstbetriebs sucht als bei Berlinale-Partys, wo sich Vorabendschauspielerinnen die Beine in den Bauch langweilen. Wer was auf sich hält, stellt sich nicht mit dem ganzen Smallworld-Gesocks in Polsterdiskos, sondern geht zu Ausstellungseröffnungen nach Berlin-Mitte und hofft, dass er Hedi Slimane zu seinem schmalsten Anzug ever inspiriert. Es ist ja nicht so, dass der Kunstbetrieb nicht promigeil wäre. Es ist nur so, dass der Kunstbetrieb die sogenannten Prominenten, auf die er so geil ist, komplett ignoriert, wenn sie einmal da sind. Und manche meinen, das sei der Trick. Deshalb kämen sie überhaupt.

So entstehen an den Wochenenden oft Kunstwerke eigener Art, es entstehen Performances von eigener Wahrheit und immer wieder auch Momente großer Schönheit, besonders dann, wenn sich Kunst und Kulinarik kreuzen.

Schön war zum Beispiel der Abend in dieser kalifornischen Galerie, die in Kreuzberg eine Filiale mit einem Kuchenkunstwerk eröffnet hatte. Ein gigantischer Grabstein aus Kuchen. Alle waren begeistert, dann ging es nach nebenan zum Feiern, und als mitten in der Nacht jemand eine Foto-SMS von dem Kuchen schickte, musste man schon ganz genau hinsehen, um zu erkennen, dass der Kuchengrabstein auf dem Foto schon gar nicht mehr im Nachbarraum stand, sondern bei demjenigen zu Hause, der sich nun anschickte, das Kunstwerk aufzuessen, was nicht ohne kunsthistorische Referenzen war: Eine der legendärsten Ausstellungen der Neunziger in New York war die, bei welcher der Künstler eine Linie Kokain quer durch die Galerie gelegt hatte, ein Kunstwerk, das seine eigene Vernissage nicht überlebte, aber naturgemäß für ordentlich Gerede sorgte.

Schön waren bisher eigentlich alle Abende der Julia Stoschek, bei der es sich um eine Kunstsammlerin aus Düsseldorf handelt, die noch keine Dreißig war, als sie im Berliner Kunstbetrieb auftauchte, und in ihrem Tower-Apartment hoch über dem Potsdamer Platz augenblicklich zu dem wurde, was vorher so viele immer nur gewollt oder behauptet hatten, nämlich die Neuberliner Salondame zu sein, zu der wirklich alle wollten, und sei es nur, wie manche sich entschuldigten, der tollen Aussicht wegen. Man stand da hoch über Berlin. Die kritischsten Ironiker bekamen es hier mit entwaffnend freundlichen Anlageberatern aus Düsseldorf zu tun. Die kritischsten Hinterfrager saßen mit rheinischen Dressurreiterinnen am Tisch und diskutierten die Brechung von Sehgewohnheiten und/oder Pferdeknochen. Und wenn man sich verabschieden wollte, weil man nach dem vielen Champagner irgendwo noch eine Kleinigkeit essen gehen musste, wurde einem der Mantel wieder abgenommen, und der Zimmerservice vom "Ritz" brachte zweihundert Clubsandwiches mit Pommes frites unter gewaltigen Silberhauben.

Schön war es aber auch, wenn man nicht eingeladen war oder nicht kommen konnte, und dann traf man am nächsten Tag die, die dabei gewesen waren, und das Leuchten in ihren Augen war so hell, als spiegelten sich Banksafes voller Goldbarren darin. Viel hatten diese Leute eigentlich nicht zu erzählen, oder es fiel ihnen schwer, das, was es zu erzählen gab, in sinnvolle Sätze zu fassen. "Clubsandwiches, Hunderte", oder "fünfzehnter Stock, unfassbarer Blick hinunter auf die Stadt" oder auch: "Die Sofaecke ist größer als meine ganze Wohnung." Und die einzige Antwort, die man drauf geben konnte, war die: "Ich will da auch mal eingeladen sein!"

Schön war dann natürlich erst recht, wie nach der Eröffnung der RAF-Ausstellung in den Kunst-Werken der ganze Tross unbedingt noch mitwollte zu dem Empfang oben bei Julia Stoschek, und dann standen schwarzgekleidete Männer und Frauen, die gerade noch sensibel vom "Andreas" und der "Ulrike" gesprochen hatten, da oben im fünfzehnten Stock, und einer zog aus seiner Umhängetasche die Broschüre, die auf sein letztes linksradikales Kunstkonzept hinwies, er holte sich ein Glas Champagner nach dem anderen, zog eine Broschüre nach der anderen heraus und drückte sie den Gästen in die Hände, und es sah aber nur so aus, als ob er den freigewordenen Platz in seiner linksradikalen Umhängetasche sofort mit Julia Stoscheks Champagnerflaschen füllte; leerer schien die Tasche nicht zu werden - und als alle Broschüren verteilt (und die meisten unter der größten Sofagarnitur Berlins gleich wieder verschwunden) waren, fing der erste linksradikale RAF-Ausstellungs-Künstler an, in Zimmerlautstärke nach den weltberühmten Clubsandwiches zu fragen. Und die Frau, die für kurze Zeit die Kultursenatorin gewesen war, hörte sich schon ein bisschen lauter an, als sie, obwohl sie zumindest kleidungsmäßig auch sehr linksradikal war an diesem Abend, die legendären Clubsandwiches geradezu forderte, in einem Ton, der nach "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit" klang. Und dann, so klang es kurz nach Mitternacht, schien sich der ganze Kreis darauf geeinigt zu haben, dass zumindest dieses eine Menschenrecht sofort und notfalls auch mit Gewalt augenblicklich einzufordern sei: das Recht des Menschen auf ein Clubsandwich vom Zimmerservice des "Ritz-Carlton"-Hotels.

Und ganz besonders schön ist es, wenn bei solchen Gelegenheiten alle kauend meinen, der Wahnsinn hier sei im Grunde alles, was man brauche, um einen Schlüsselroman von balzacschen Ausmaßen zu schreiben, so etwas wie die "Verlorenen Illusionen" für das Berlin von heute. Und dass sie aber lieber noch ein bisschen weiterrecherchieren. Bevor sie nicht mehr eingeladen werden.

Nils Minkmar.

Der Neue.

Das Restaurant war fast völlig leer, ein kühl eingerichteter Italiener zwischen Reichstag und Brandenburger Tor, in dem jeder Gast empfangen wird wie ein Bundesminister, was den Wirt von der Mühsal befreit, sich auf dem Laufenden zu halten.

Der Mann war neu in der Stadt, neu in seinem Job und schüchtern. Es war unsere erste Begegnung. Ich wusste kaum etwas über ihn. Der "Spiegel" hatte eine hämische Glosse gebracht, niemand hielt große Stücke auf ihn. Ich hatte geschrieben, dass es ihn vielleicht gar nicht gibt. Ein anderer hätte danach geklagt, er lud mich zum Essen ein.

Ich sei natürlich sein Gast, bemerkte er, als die großen Karten kamen. Fahrig und unschlüssig studierte er das Angebot. "Vielleicht Fisch . . ."

"Ach ja, Sie kommen ja von der Küste . . ."

"Jetzt komm' ich gleich wieder von der Küste", stöhnte er, besorgt darum, auf ewig als Provinzler zu gelten in der Hauptstadt. Die ja wirklich, stellte er dann gleich fest, eine große Stadt ist.

"Kennen Sie etwa alle Stadtteile? Neulich habe ich mal Dahlheim gesagt statt Dahlem, da war was los."

In Berlin-Dahlem befinden sich weltweit berühmte Museen und die Freie Universität. Das nicht zu kennen war, in seinem neuen Job, wie der Carmen-Thomas-Versprecher, nur viel schlimmer. Außerdem, so erzählte er weiter, habe er die Angewohnheit, Sitzungen oder Veranstaltungen aufzulockern, und zwar mithilfe von, wie er es nannte, "Dschokes". Leider, das war ihm jetzt, nach den paar Wochen im Job, schon klar, schätzte man in der Hauptstadt und noch dazu auf seinem speziellen Arbeitsgebiet solche "Dschokes" nicht sonderlich, da war antikapitalistische Relevanz im schwarzen Rollkragenpullover gefragt, kein gebräunter Profi im Nadelstreifenanzug, der flott die lieben Leute von Dahlheim begrüßt und dann noch einen "Dschoke" draufsetzt. Und von der CDU ist. Es sah, wie ich fand, nicht gut aus an diesem Abend für den Mann. Aber wir waren ja erst bei der Vorspeise.

Er wollte seinen Job gerne behalten, darum hatte er sich was überlegt: Bei jedem Termin ließ er sich die Namen der Anwesenden auf einen Spickzettel schreiben. Jede größere Rede oder Eröffnung versuchte er, auch vor Ort zu proben. Englische Ausdrücke ließ er sich in Lautschrift übersetzen. Wenn er keine großen Schnitzer machte, werde die Sache schon schiefgehen. Die Politik sei schließlich sein Beruf. Die Kollegen, auch solche, die nie ins Theater und in die Oper gehen, vertrauten ihm. Wenn er sein Gewicht in die Waagschale werfe, dann kämen die Stimmen für ein Projekt zusammen. Das habe er all seinen Amtsvorgängern, den Berühmten und Begabten, voraus. Er habe schon in vielen Bereichen gewirkt, erklärte er weiter, nicht ohne zu prüfen, ob mich das auch interessiert. Dann erzählte er von der Zeit des Mauerfalls, von Raumfahrt und Fischfang. Eigentlich brauche man überall dieselben Techniken und Methoden, Politik sei ein Handwerk. Er sagte das alles ohne die Bitterkeit, die ich von Politikern in seinem Alter gewohnt war, vielleicht weil er nicht aus der politischen Ecke kam, die ich am besten kannte, aus der man gestartet war, die Welt und das Leben zu verändern. Er dachte stattdessen über den nächsten Fußbreit nach und darüber, wie er den zu sichern vermochte. Die große Geste war ihm fremd, als sein Hobby gaben die offiziellen Biographien das Akkordeonspiel an.

Alle Politiker sind große Bluffer. Manche übertreiben ihre kulturelle Kompetenz, andere verbergen sie. Andere pflegen ein Spezialgebiet und langweilen damit ausgiebig ihre Zuhörer. Dann gibt es die Bush-Sorte, die einen Hammer nach dem anderen bringen und darauf vertrauen, dass es den Journalisten zu peinlich ist, sie darauf aufmerksam zu machen. Mein Gegenüber machte es anders und gab sich auf berührende Weise ungeschützt: Auch so nimmt man Journalisten die Angriffslust.

Später rief er mich noch einmal an. Er hatte gerade jenen hochgeehrten, aber notorisch unzufriedenen Schriftsteller besucht, über den wir an dem Abend gesprochen hatten, und obwohl der sich im Stillen sicher über den hohen Besuch gefreut hatte, hörte er nicht auf, über seine Vernachlässigung durch das Establishment zu jammern.

"Ist der immer so?", wollte der Neue wissen, ganz ergriffen von so viel schlechter Laune.

Viele Fallen seines neuen Arbeitsfeldes waren ihm ja bewusst gewesen, dass ein blöder Versprecher, eine unbedachte Äußerung, eine Namensverwechslung schon das Aus in diesem an symbolischem Kapital so überfrachteten Feld sein können. Aber dass eine düstere Sicht der Dinge und der Zeiten auch dazugehören, dass die meisten etablierten Kreativen davon überzeugt sind, dass alles immer schlechter wird, und sich auch trotz des von ihm sichergestellten Geld- und Preisregens nicht freuen, sondern bloß den nächsten gemeinen Trick des Systems wittern, das dürfte ihn doch verblüfft haben.

Es ging dann schneller, als ich gedacht hatte. Im Frühjahr sahen die Dinge für die deutsche Kultur verdächtig gut aus: Berlin hatte einen Oscar gewonnen. Die Anwohner einer grauen Straße in Friedrichshain wurden daraufhin zu Helden der Lokalpresse. Der Regierende Bürgermeister und das Medienboard reisten nach Hollywood, um dort für Berlin als Drehort zu werben, es gab sogar einen Feueralarm während eines Ute-Lemper-Konzerts in L. A., und Wowereit schaffte es damit mal wieder in die Berliner "Bild"-Zeitungsausgabe. Alle konnten zufrieden sein. Da schaltete ich ins Morgenmagazin des ZDF, gerade wurden die Nominierungen für den Deutschen Filmpreis verkündet, es war eine glanzvolle Sache und nach allen Kriterien ein tolles Filmjahr gewesen.

Doch der inzwischen nicht mehr ganz so Neue machte eine gravitätische, ja verzweifelte Miene: Andere Branchen bekämen Milliardensubventionen, da könne von einer angemessenen oder gar überreichlichen Unterstützung des deutschen Films keine Rede sein, erklärte er Cherno Jobatey, der prompt ebenso bestürzt zu gucken versuchte. Ich schaltete wieder aus, noch bevor er nach einem neuen Fassbinder verlangen, das Sterben der Programmkinos auf dem Lande beklagen oder das Fernsehen als Wurzel allen Übels anprangern konnte. "Dschokes" machte er keine mehr, er war wirklich in der Hauptstadtkulturszene angekommen.

Georg Diez.

Das Licht.

Das Licht in Berlin wirkt tagsüber immer, als sei es ein wenig falsch eingestellt. Mal ist es zu grell, mal zu schwach, und manchmal wirkt es einfach so, als habe jemand ein Tuch über die Stadt gehängt, ein graues, schmutziges Tuch, das sie anderswo den Himmel nennen.

Es gibt zum Beispiel dieses Licht, das einen blendet, wenn man an einem Frühwinterabend mit dem Auto die Bismarckstraße aus der Stadt hinausfährt, nach Westen also, die Straße senkt sich erst ein wenig, und dann steigt sie wieder an, es hat gerade geregnet, es liegt noch ein feuchter Glanz über dem Asphalt, die Sonne bricht hinter dem Kongresszentrum durch, das immer ein wenig so aussieht wie eine stillgelegte Ölbohranlage in Baku, die Schilder, die Ampeln, die anderen Autos, alles verschwindet in diesem unwirklichen Leuchten, in diesem irren Glimmen - nordisch tut dieses Licht nur, ist es aber nicht, es ist eher das, was man bei Menschen manisch-depressiv nennt. Die Sonne wirkt gehetzt, nicht ganz bei sich, zu aggressiv, um schön zu sein. Berlin ist in solchen Augenblicken eine Stadt am Rande der Erinnerung.

Anders wirkt dieses Licht, dieses panische Frühwinterlicht, wenn man sich in einem Teil der Stadt befindet, in dem die Häuser enger beieinanderstehen. In Prenzlauer Berg zum Beispiel oder auf der Kastanienallee, dort also, wo Prenzlauer Berg nach Mitte hin abfällt. Hier strahlen an einem solchen Tag die Schienen der Trambahn, als flösse in ihnen Gold. Die Schatten an den Häusern sind so scharf, dass man sich an ihnen schneiden könnte. Die Radfahrer scheinen zu schweben auf dem transparenten Grund der Straße. Die schönen dünnen Mädchen von Berlin bewegen sich, als seien sie Figuren in einem Film, bei dem nicht 24 Bilder pro Sekunde laufen, sondern eher ein Bild alle sieben Sekunden. Sie wissen sich im Glanz eines Leuchtens, das größer ist als sie.

An solchen Tagen biegen die Autos nicht, wie üblich, am Zionskirchplatz nach rechts ab, sie fahren geradeaus weiter, auf die Sonne zu, immer weiter, durch die Luft. Auch das gibt es in Berlin, Momente von surrealer Schönheit. Irgendwie wirkt aber auch das hier manisch-depressiv.

Aber was soll man auch machen in einer Stadt, in der es im Sommer so viel leuchten und strahlen kann, wie es mag; in der sich im August der Himmel streckt und ein strenges, fahles Licht auf die Stadt krachen lässt, als sei hinter Frankfurt/Oder nur noch Steppe und Odessa die erste Oase; in der das Sommerstrahlen eine Weite hat, die einen eher verschreckt und gewiss nicht trägt; in einer Stadt, in der all der Sommerzauber doch immer mit der Gewissheit verbunden ist, dass der nächste Winter kommt und so wolkenschwer und bleiern sein wird wie der letzte. Der Sommer ist die Quittung für alle, die den letzten Februar überstanden haben.

Im Sommer bleicht die Stadt aus vor lauter Licht. Es flutet die Straßen, es kriecht in die letzten Ecken, es hetzt dir hinterher. Berlin, so scheint es an solchen Tagen, wenn die Temperatur zu heiß ist und kein Wind weht, Berlin also ist eine Stadt, die gegen die Natur gebaut ist. Es ist anders etwa als in Hamburg, wo die Düsternis vom Meer kommt und die Helligkeit aus den Wassern aufzusteigen scheint. Es ist anders auch als in München, wo die Sommernacht leuchtet, als seien Milliarden von Glühwürmchen in blaue Farbe gefallen, und wo bei Tag die letzten Gletscher ihr Funkeln schicken. In Berlin, das manchmal einfach so hingestellt wirkt, so großflächig fehl am Platz, in Berlin hat selbst das brüllende Sommerlicht etwas Künstliches, Unwirkliches, fast Verlogenes.

Am Potsdamer Platz zum Beispiel ist das fast immer so. Hier, wo es manchmal wirkt, als habe jemand einen Scheinwerfer direkt neben der Philharmonie aufgestellt, als habe er einen großen roten Filter daraufgeschraubt und sei verschwunden. So grell strahlt die untergehende Sonne, grell und voller Verzweiflung, eine archaische Geste fast. Es wirkt dann, als sei die Erde eine Scheibe und hinter dem Sony-Center lodere das Höllenfeuer; oder eben das, was Berlin als Sonnenuntergang bereithält.

Die Sonnenaufgänge dagegen können in dieser Stadt eine ganz andere Qualität haben. Dieses Glühen, das im Osten der Stadt, also dort, wo die Jugend wohnt, wie eine Art Kommunisten-Pop alles überstrahlt, was der Westen an Wandel gebracht haben könnte. Schwermütig und trotzig erhebt sich die Sonne etwa über der Frankfurter Allee, der Strom der Autos, der in die Stadt rollt, um im kapitalistischen Spiel mitzuspielen, wird überwölbt von einer Manifestation dessen, was sie damals gemeint haben könnten, als sie sangen "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit". Berlin ist an einem solchen Morgen wie eine Halluzination, wie eine große Bilderparade, bei der mit beschwingter Geste all die Untoten, die Verdrängten und Vermissten, die Panzer und die Helden, die Flieger und die Russen auffahren, die diese Stadt immer noch bevölkern. Denn Geschichte, das ist in diesem Licht klar, Geschichte ist nicht das, was vergangen ist. Die Geschichte, das sagt dieses kosmische Leuchten an einem Morgen im Juni, die Geschichte ist gleichzeitig das Licht und der Schatten, den wir werfen.

Das Licht also ist in dieser Stadt, wie so vieles andere auch, eine Demonstration. Es ist nie nur hell oder dunkel, es existiert nie einfach nur grauer oder blauer Himmel. Das Licht will immer gleich auch etwas bedeuten. Es soll etwas heißen. Es spricht einen sofort an, morgens gleich, den ganzen Tag über, bis in die Nacht. Das Licht ist nicht einfach da, es ist durch die Menschen da, es ist für oder eher gegen die Menschen da, wie um sie zu ärgern, sie herumzuscheuchen, sie aufzuwiegeln.

Das Licht, das ist in Berlin die letzte revolutionäre Kraft.

Georg Diez, Nils Minkmar, Peter Richter, Claudius Seidl, Anne Zielke: "Schaut auf diese Stadt - Neue Geschichten aus dem barbarischen Berlin". KiWi Paperback. 207 Seiten, 8,95 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Vor ein paar Jahren haben die damals frisch aus München in die Hauptstadt gezogenen Herausgeber dieses Bandes mit dem Vorgänger "Hier spricht Berlin" Furore gemacht, beziehungsweise sich den Ärger vieler Berliner zugezogen. Sie beschrieben die Stadt damals als Heimat barbarischer Spießer, als Pandämonium des schlechten Geschmacks. Im Nachfolgeband, stellt Wilhelm Trapp fest, hat sich das Entsetzen sichtlich gelegt. Es sind nur noch halb so viele Texte, die aber sind nun deutlich länger. Und analytischer, offenbar um Verständnis bemüht. Dem Rezensenten gefällt das nicht wirklich besser, der direkte Zugang zum "Unfasslichen" wäre ihm lieber gewesen als die Umwertung zu "Allegorien". Es scheint, meint Trapp, dass passiert, was man nach dem ersten Band kaum erwarten durfte: Die Hauptstadt-Verächter haben ihren "kleinen Frieden mit Berlin gemacht".

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»Da muss selbst der eingefleischte 'Berufsberliner' immer wieder hell auflachen - also trotz bissiger Kritik fast ein 'Gute-Laune-Buch' für den Hauptstädter.« Frankfurter Neue Presse