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"Am Anfang war das Wort - und das Wort tötete": Ein literarisches Epos über eine Welt, in der die Sprache der Kinder ihre Eltern umbringt. Zuerst sind es nur die Juden, bald schon trifft es jeden: Die Sprache der Kinder wird für Erwachsene unerträglich, sie macht krank und tötet. Claire, Sams Frau, ist bereits schwer erkrankt und erträgt die Nähe ihrer Tochter Esther nicht mehr, die sie über alles liebt. Unaufhaltsam breitet sich die Epidemie aus, Panik greift um sich, und die letzten Radiosendungen verkünden, dass die Menschen ihre Kinder und Häuser verlassen, um in die Wildnis zu fliehen.…mehr

Produktbeschreibung
"Am Anfang war das Wort - und das Wort tötete": Ein literarisches Epos über eine Welt, in der die Sprache der Kinder ihre Eltern umbringt.
Zuerst sind es nur die Juden, bald schon trifft es jeden: Die Sprache der Kinder wird für Erwachsene unerträglich, sie macht krank und tötet. Claire, Sams Frau, ist bereits schwer erkrankt und erträgt die Nähe ihrer Tochter Esther nicht mehr, die sie über alles liebt. Unaufhaltsam breitet sich die Epidemie aus, Panik greift um sich, und die letzten Radiosendungen verkünden, dass die Menschen ihre Kinder und Häuser verlassen, um in die Wildnis zu fliehen. Als Claire kurz vor dem Zusammenbruch steht, scheint auch ihnen kein anderer Ausweg zu bleiben, aber am Vorabend ihres Aufbruchs verschwindet Claire, und Sam macht sich auf den Weg, um ein Heilmittel zu finden. Dabei gerät er in eine gefährliche Schattenwelt.
Ben Marcus erzählt ebenso brillant wie literarisch funkelnd von der Macht der Familie, zu lieben und zu
zerstören.

"Ben Marcus hat ungeheures Talent, dies ist ein traumwandlerischer, eindrucksvoller Roman."
New York Times

"Ben Marcus gehört zu der außergewöhnlichsten Art von Schriftstellern: Nämlich ein absolut notwendiger. Es ist nicht mehr möglich, sich die literarische Welt und damit die Welt selbst ohne seine mutigen Bücher vorzustellen."
Jonathan Safran Foer
Autorenporträt
Marcus, BenBen Marcus, geboren 1967, unterrichtet Creative Writing an der Columbia University in New York. Er hat zahlreiche Kurzgeschichten und Essays u. a. im New Yorker sowie drei Romane veröffentlicht. Auf Deutsch erschien von ihm 2012 der Roman Flammenalphabet..

Melle, ThomasThomas Melle, geboren 1975, ist Autor und Übersetzer - u. a. von William T. Vollman und Ben Marcus - und lebt in Berlin. 2011 erschien sein Roman Sickster. Im September 2014 erscheint sein neuer Roman 3000 Euro bei Rowohlt Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2012

Worte aus Feuer
Ben Marcus hat lange mit der Sprache herumexperimentiert. Jetzt ist ein grandioser Thriller dabei herausgekommen

Etwas stimmt nicht mit der Sprache.

Sie hat sehr viele Menschen schon sehr krank gemacht, von innen zersetzt, von außen aufgefressen, die Körper aufgelöst, den Geist verwirrt. Mit leichten Kopfschmerzen hatte es angefangen, später ließ sich das Gefühl am besten als "Zerschmetterung" beschreiben; aber wer hätte das noch tun wollen: etwas beschreiben? Nicht nur die Sprache war unerträglich geworden, auch die Schrift, am Ende vermied man sogar den Anblick stummer Mundbewegungen. Irgendwann gab es eine letzte Warnung im Radio, dann herrschte Stille. Nur die Kinder spürten nichts.

Also macht Sam sich an die Arbeit: Er setzt die Buchstaben neu zusammen, er mischt die Sprachen, erfindet neue Alphabete. Er weiß nicht, was es ist, das krank macht. Ist die Sprache zu komplex geworden, zu laut, zu voll? Ist sie erschöpft oder degeneriert, verseucht durch Ironie oder Direktheit? Ist ihre Darstellung das Problem, ihre Materialität? Sam experimentiert wild herum: Er brennt Rongorongo-Buchstaben in Holz, er tropft zarte Wasserzeichen auf Papier, probiert die verschiedensten Rhythmen und Stile aus, aber nichts hilft, weder die Liebesbriefe noch Sätze, die er mit Absicht voller Fehler hinschreibt, "Sätze von schlechtem Geschmack, gutem Geschmack, von überhaupt keinem ersichtlichen Geschmack. Grammatische Regeln, Regeln des Sprachgebrauchs, Regeln, die Rhythmus und Schweigen steuerten, ich brach sie alle unerbittlich."

Sprache als Material zu nutzen: Das ist die originäre Aufgabe des Dichters. Und so ist dieser Sam, die Hauptfigur in Ben Marcus' Roman "Flammenalphabet", nichts anderes als ein Handlanger seines Schöpfers. Seit Jahren schon gilt Marcus in Amerika als großer Alchemist der Sprache, als Autor, der eher an ihren Möglichkeiten interessiert ist als daran, sie mit einer vermeintlichen Wirklichkeit zur Deckung zu bringen. Und auch wenn solche literarischen Kategorien nicht besonders viel taugen, weil sie sich ihrerseits nur einer semantischen Ordnung verdanken, hat Marcus seinen Ruf als leidenschaftlicher Vertreter der experimentellen Literatur sicher verdient.

Erarbeitet hat er sich diesen Ruf schon vor siebzehn Jahren mit seinem Buch "The Age of Wire and String", einer Art Bedienungsanleitung für das vernetzte Zeitalter, das selbst nur von unentwirrbar verknäulten Fäden zusammengehalten wird. Im Vergleich dazu war "Notable American Women", sein erster Roman, fast schon konventionell, immerhin erzählte er eine Geschichte, nämlich jene von einem Jungen namens Ben Marcus, der von einer okkulten Feministengruppe namens "Silentists" gefangen gehalten wird, die eine emotionslose Gesellschaft anstreben und zu diesem Zweck allerlei bizarre wissenschaftliche Tests an ihm vornehmen. Vor allem von Schriftstellerkollegen wurde Marcus für beide Bücher als Genie gefeiert. Wer aber nicht viel übrig dafür hat, wenn es sich bei den Protagonisten eines Buches vor allem um Sätze handelt, wenn sich seine Spannung aus der Ordnung der Wörter ergibt und sein Plot aus der Entwicklung der Gedanken, der konnte das leicht unverständlich finden, unzugänglich, unlesbar.

Dass sich Marcus im "Flammenalphabet" scheinbar komplett von dieser stilistischen Radikalität verabschiedet, das konnten, als das Buch im Januar in Amerika erschien, die meisten Kritiker dann trotzdem kaum glauben. Die meisten hatten noch den Text im Kopf, der Marcus endgültig zum offiziellen Anwalt avantgardistischer Erzähltechniken gemacht hatte. In einem Essay in "Harper's Magazine" antwortete er auf einen zuvor im "New Yorker" erschienenen Angriff auf jene Art von Literatur, die es ihren Lesern nicht ganz so einfach macht. Es war eine Attacke von ganz oben, Jonathan Franzen hatte sie geschrieben, vor allem gegen William Gaddis, dessen Werk Franzen als "schwierig" und elitär kritisierte. Es war ein unangenehm besserwisserischer Text, dessen Kraft vor allem aus dem Recht des Stärkeren resultierte, als sei Franzens kommerzieller Erfolg ein Indiz für die literarische Überlegenheit einfach gestrickter Texte. Was er "schwierig" finde, entgegnete Marcus, das sei der abgestandene Atem literarischer Traditionen, Charaktere, die durch ihre Kindheit erklärt werden, oder ermüdende Landschaftsbeschreibungen. "Ich finde Literatur schwierig, die jeder schreiben hätte können."

Insofern ist die Frage, ob Marcus in seinem neuen Buch (dem ersten, das auf Deutsch erscheint) auf Konventionen der realistischen Schule zurückgreift, vor allem eine Frage der Perspektive. Aus seiner Sicht nämlich konnte es kaum ein größeres Experiment geben, als sich auf erprobte Erzähltechniken einzulassen, eine chronologische Handlung zum Beispiel, ein nachvollziehbares Setting und einen halbwegs verlässlichen Erzähler. "Ich hatte keine Ahnung, wie ich das machen soll", sagt er im Gespräch. "Für mich bestand das größere Risiko darin, es war für mich Neuland. Und ich glaube nicht, dass diese Techniken Eigentum des Realismus sind."

Der Verzicht auf stilistische Abenteuer aber heißt nicht, dass sich Marcus für all die Schwingungen der Sprache plötzlich nicht mehr interessiert, für ihre Macht und ihre Fähigkeiten. Der Trick, wenn man das so nennen kann, besteht darin, dass er sie in "Flammenalphabet" ganz einfach zum zentralen Motiv macht, und zwar nicht als Gegenstand einer durch eine Rahmenhandlung notdürftig vorangetriebenen Debatte, sondern als Naturgewalt. Schon immer lebten seine Texte davon, dass er Metaphern sozusagen wörtlich nahm, die Wörter als Materie behandelte, damit sie ordentlich Kraft ausüben können, sei es in Form von Stoff, Metall oder Flüssigkeit. Und diesmal eben tun sie richtig weh.

Es ist eine Epidemie, die da durchs Land weht. Anfangs sind es die Kinder, deren Worte die Menschen nicht mehr ertragen können, die Zungen werden lahm, die Haut bekommt Ausschlag, die Augen fallen ein, die Köpfe schrumpfen. Als es zu schlimm wird, müssen auch die beiden Eltern Sam und Claire ihre Tochter zurücklassen. Das Gift der Sprache ist nicht mehr zu ertragen, all die verzweifelten Versuche, die Symptome mit selbstgemischter Medizin in den Griff zu bekommen, versagen. Aber Sam gibt die Hoffnung nicht auf: Er erfindet "Verständnis-Blocker" und "phonische Salze", ein neues Medikament namens "Semantiril"; er versucht die toxische Wirkung mit Ohrenstöpseln einzudämmen oder mit Apparaten, die "Barrieren aus Zischlauten" über ihn ergießen.

Wie alle Menschen nach der Apokalypse der Kommunikation ist Sam ein Dilettant, und doch gibt es etwas, das ihn in dieser sprachlosen Welt von anderen unterscheidet: Seine Frau Claire und er gehören einer jüdischen Sekte an, den "Waldjuden", die ihre Gottesdienste in versteckten Hütten mit Erdlöchern abhielten. Die Löcher sind durch ein landesweites Tunnelsystem verbunden, die Predigten werden per Radioempfänger mit fleischiger Konsole übermittelt. Das Wichtigste dabei: Keiner der Gläubigen darf über ihren Inhalt sprechen. Für die Waldjuden nämlich ist nicht nur der Name Gottes unaussprechlich, sondern die gesamte Tora: Sie ist das Flammenalphabet, "das Wort Gottes, in Feuer geschrieben". Dieses vermeintliche Geheimwissen über die Kraft der Sprache macht Sam auch für den Schurken der Geschichte interessant, den undurchschaubaren Wissenschaftler LeBov, von dem man nie genau weiß, ob er schuld an der Seuche ist oder nur von ihr profitieren will. LeBov, von dem niemand genau weiß, wer er ist, Mann, Frau, zwei Menschen oder mehr - dieser LeBov ist ein Zyniker. Er weiß, dass nicht die Sprache das Problem ist, sondern der unbedingte Wille, sie verstehen zu wollen. Und trotzdem schreckt er vor nichts zurück, wenn es darum geht, sie wieder in Betrieb zu setzen. Wenn man so will, ist daher "Flammenalphabet" auch ein Thriller über die Möglichkeiten der Literatur (und Franzen wäre dann LeBov): die einen verzweifeln an der Sprache; die anderen tun so, als könne man sie meistern. "Der Plot verdichtet sich", sagt LeBov einmal, und Sam entgegnet ihm: "Der Plot ist scheiße."

Es ist ein ganzes Arsenal futuristischer Accessoires, die Marcus seinen Helden in die Hand gibt, biomechanische Adapter und elektrische Gels, organische Schnittstellen und Messgeräte für ungewöhnliche Kräfte. Aber trotz all dieser Anleihen bei Sciencefiction und Phantastik fällt Marcus nie den Gesetzen des Genres zum Opfer, jenen angeblich alternativen Realitäten, die am Ende doch nur ihren eigenen Gewissheiten gehorchen. Und so wenig Hoffnung es auch gibt in Marcus' gnadenloser Horrorstory (außer eben vielleicht der auf das Fehlen eines Happy Ends), so fremd ist ihm auch nur der leiseste Kulturpessimismus. Es ist ja nicht dystopisch, wenn man von einer sprachlich vergifteten Welt erzählt. Es ist der reine Realismus.

Für Marcus, für den die real existierende Ironie des Literaturmarkts eine Professorenstelle für "Creative Writing" an der Columbia University in New York vorgesehen hat, ist es nicht immer leicht, das seinen Studenten zu vermitteln: die Schönheit der Verwirrung, die Produktivität der Unsicherheit. Dass ihm jede Form von Autorität suspekt ist, könnten einfach nicht all seine Schüler akzeptieren: "Studenten investieren eine Menge in die Tatsache, dass ihr Lehrer weiß, wovon er spricht", sagt Marcus. "Aber ich mag es, nicht zu wissen, was ich denke oder fühle, auch öffentlich."

Womöglich ist es nämlich gar nicht die Sprache, mit der etwas nicht stimmt. Das Gift, das ist die Vorstellung, man könne eine Welt verstehen, die sich nicht in Worte fassen lässt.

HARALD STAUN

Ben Marcus: "Flammenalphabet". Übersetzt von Thomas Melle. Hoffmann & Campe, 288 Seiten, 22,99 Euro. Erscheint am 16. August.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Der neue Roman von Feridun Zaimoglu ist nicht nur "spannend", man kann sich auch schön darin verlieren, nur um sich später dann doch wieder zurecht zu finden, findet Detlef Kuhlbrodt. Ansonsten wägt der Rezensent beim Flanieren durch diesen Roman und dessen niederschlagend gezeichnetes Berlin deutlich ab: Manche Ecke in Berlin und dessen Bewohner erscheinen ihm durchaus etwas klischiert, auch stört es ihn ein wenig, wie häufig der Autor seine Figuren durch Berlin streifen lässt, als ginge es darum, einem touristischen Lesepublikum die Sehenswürdigkeiten Berlins zu präsentieren. Nicht zuletzt gibt es hier auch "viel Gewalt" und gelegentlich "wird es sexuell", allerdings nicht unbedingt zur Freude der Beteiligten, stellt Kuhlbrodt bei seinem losen Erkundungsgang durch diesen Roman fest.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012

Wenn die Zunge brennt
Furiose Sprachkritik: Im „Flammenalphabet“ des amerikanischen Romanautors Ben Marcus
sind „tödliche Worte“ keine Redewendung – sondern eine Infektionskrankheit
VON JENS-CHRISTIAN RABE
Es war wieder mal so, wie es ist, wenn, sagen wir, Thomas Gottschalk in irgendeiner Fernsehshow irrsinnig schlechte Witze macht und dreist Schauspielerinnen betatscht – man hat es nicht anders erwartet und ist doch verblüfft von der Selbstverständlichkeit, mit der es immer wieder passiert. Es saß also Josef Ackermann in der Talkshow von Günther Jauch am vorvergangenen Sonntag und sollte büßen für die Rolle der Banken in der Finanzkrise. Auf offener Bühne.
  Ackermann war schließlich bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, wo er mitten in der Krise gigantische Rendite-Erwartungen propagierte und daher vielen als Sinnbild des gewissenlosen Finanzmanagers gilt. Bei Jauch kam dann aber auch Daniel Cohn-Bendit, europäischer Supergrüner und einst wortgewaltiger Anführer der französischen und deutschen Studentenrevolten, nicht gegen ihn an. Mit dem Killerinstinkt des Spitzenmanagers schien der Banker zu spüren, dass niemand so gut vorbereitet war wie er. Er lächelte dementsprechend entwaffnend freundlich und gab Cohn-Bendit und Jauch erst mal überall da recht, wo es nicht weh tat: Ja, Steinbrück ist ein guter Kanzlerkandidat, sicher, Manipulationen am Libor-Zinssatz sind nicht in Ordnung, klar – und natürlich sind die Banken an der Krise mitschuldig. Überall da jedoch, wo es hätte brenzlig werden können, hatte er Sätze parat, die cleverer nicht sein konnten. Zum Problem etwa, dass die Banken an Finanzanlagen verdienten, die niemand verstand, bevor er sein Geld verloren hatte, fand er die schöne – und klaglos hingenommene – Formulierung: „Es ist absolut richtig, dass bis 2007 auch Produkte generiert wurden, die teilweise zu komplex waren.“
  Es war ein Fest der Sprache und der Kommunikation – und wieder einmal eine echte Katastrophe. Der konziliante Ton und der stumpfe Sinn des Vorgebrachten wollten einfach nicht zusammenfinden, aber alle fanden sich am Schluss sympathisch. Ein Wunder ist das nicht, längst verdienen Armeen von Kommunikationsberatern und Spin-Doktoren auf der ganzen Welt viel Geld damit, Geschichten zu erfinden, die die Sache ihrer Kunden gut und den Gegner schlecht aussehen lassen. Die an der Sprache so virtuos herumschrauben, bis am Ende das wahr ist, was den meisten am wahrsten erscheint. Und sei es reine Erfindung.
  Im Englischen gibt es dafür schon ein eigenes Wort: truthiness – Wahrheitlichkeit, die Tatsache, dass die Wahrheit einer Botschaft für wahrscheinlich gehalten wird. Um etwa das Image des vielen als zu risikofreudig geltenden neuen Deutsche-Bank-Chefs Anshu Jain zu verbessern, lancierte, wie die FAZ berichtete, der in der Branche hoch angesehene PR-Berater Alexander Geiser vor dessen Amtsantritt im Juni vergangenen Jahres die vielgedruckte Meldung, dass Jains Risikovorstand „ein besonders vorsichtiger Banker aus protestantischem Pfarrhaus“ werden solle, der „intern“ den Spitznamen „Dr. No“ trage. Der Spitzname war eine Idee Geisers.  
  So sieht es aus, und man muss das noch einmal so ausführlich erzählen, weil mit Ben Marcus‘ „Flammenalphabet“ nun auch auf Deutsch ein Buch erschienen ist, dem man sein ausgestelltes Unbehagen an Sprache und Kommunikation allzu leicht als etwas zu selbstreferenziellen und abgestandenen Spleen eines literarisch allzu gebildeten und ambitionierten Schriftstellers vorwerfen kann. Spätestens seit der Jahrhundertwende, seit Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief und Proust hat die Sprachskepsis in der modernen Literatur einen festen Platz. Die Unzuverlässigkeit der Sprache ist aber wie nur wenige andere Motive der anspruchsvollen Literatur ins Alltagsbewusstseins zumindest unseres immer vernetzteren, kommunikativeren Teils der Welt eingegangen.
  So fern und konstruiert, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag, ist die zentrale Idee der großen Parabel also nicht, die Ben Marcus in „Flammenalphabet“ erzählt: dass nämlich die Menschen furchtbar krank werden, wenn sie andere Menschen reden hören, dass die Sprache sie vergiftet. Marcus muss die Sache nur ein bisschen weiterspinnen, gerade bis es zu schmerzen beginnt: „Unsere Symptome waren (. . .) zunächst dem Zustand, wie wir uns sonst auch immer fühlten, zu ähnlich: ein wenig Schlick in unseren Systemen, sodass wir uns durchs Haus schleppten und lange schliefen (. . .). Und uns dabei erwischten, wie wir ins All starrten, während uns der Speichel aus dem Mund tropfte.“
  Samuel berichtet das, der Protagonist und Erzähler dieses Buchs, den es mit seiner Frau Claire früh erwischt: „Unsere Gelenke verhärteten, und unsere Muskeln waren fest, und wenn ich mich bückte, fiel mir das Atmen schwer. (. . .) Dann folgte der Verfall unseres Erscheinungsbildes. Claires Haar sah bald wie eine Perücke aus, als ob ihr Körper es als Ganzes abstoßen wollte. Ihre Hände hatten den porigen Plastikschimmer einer Puppe, ihr Körper sah aus, als wäre er mit etwas Künstlichem bestrichen und dann gekocht worden. Sie hatte nie viel Make-up getragen, doch jetzt spachtelte sie ihr Gesicht damit zu, und sie streunte mit den clownesken Zügen durch das Haus, die ein Bestatter seinen Leichen aufschmiert.“ – „She had never worn much makeup before, but now she was pasting her face with with it and she shuffled through the house with the clownish features an undertaker smears on his bodies."
  Thomas Melle, mit dem Erzählungsband „Raumforderung“ (2007) und dem Roman „Sickster“ (2011) selbst als Autor bekannt geworden, hat den Sound dieses Buches so geschickt übertragen, wie das im Deutschen möglich ist. Es läuft hier und da nicht ganz so rund wie im Original, aber dessen irritierend gemeine, niedere, stilistisch eindrucksvolle Lust am Schauer spürt man auch in der deutschen Ausgabe fast körperlich. Und den kalkulierten Kontrast zum abstrakten Ausgangspunkt des Buches. So wie Lord Chandos die hergebrachte Unterscheidung des Hohen und des Niedrige plötzlich fragwürdig erscheint, so verlaufen hier im besten Sinn unmerklich die literarischen Muster. Sprachkritik im Gewand eines schwarzen Science-Fiction-Thrillers.
  Wäre das schon alles, würde der 45-jährige Ben Marcus, der an der New Yorker Columbia Universität Creative Writing lehrt, von seinen Schülern wohl kaum wie ein Guru verehrt. Mit seinen beiden ersten, bislang noch nicht übersetzten Büchern „The Age of Wire and String“ (1995) und „Notable American Women“ (2002) hat er sich einen Ruf als hochtalentierter experimenteller Prosa-Autor erschrieben, der 2005 in in Harper‘s Magazine Jonathan Franzen und das gesamte amerikanische literarische Establishment als feige, anspruchslos und gefallsüchtig attackierte: „Es ist leider nicht besonders verbreitet, darauf hinzuweisen, dass beim Lesen auch das Gehirn eine Rolle spielen kann.“
  Der Fall der tödlichen Sprache liegt auch im „Flammenalphabet“ dann natürlich doch komplizierter. Tödlich ist zunächst nämlich nicht alle Sprache, sondern nur die der jüdischen Kinder. Weshalb Samuel und Claire, die einer Sekte die sich „Waldjuden“ nennt, angehören, ihre Tochter Esther, einen Teenager, auch bald schweren Herzens im Haus in Upstate New York zurücklassen müssen, „jeden Tag wurden wir steifer, kranker, blasser, erschöpfter von dem, was Esther nicht lassen konnte“.
  Claire stirbt und Sam macht sich allein auf die Suche nach einer Medizin. Er begegnet dabei irren rothaarigen Wissenschaftlern, Untergrund-Rabbis und den merkwürdigsten Gerätschaften, „Verständnis-Blockern“ etwa, „Dräger-Aerotest-Atemsets“ und Halsboxen, die Zischlaute von sich geben, um Kinder abzuschrecken. Irgendwann arbeitet er in einem Forschungszentrum verzweifelt an einer Sprache, die die Menschen verwenden können, ohne krank zu werden. Und es gibt einen Schurken namens LeBov, der überzeugt ist, dass die Waldjuden der Schlüssel zum Gegengift sind.
  Das alles ist sehr anspielungsreich, rätselhaft, surreal und düster, und am Ende hat man sicher kein Buch für die hellen Tage in der Hand gehabt. Aber zweifellos eines, dessen Deutungsfährten mitten in die tiefsten Untiefen des Seins und Bewusstseins der Gegenwart führen, in der die Sprache und Verständigung alles sind – und uns doch nicht viel bedeuten.
Längst ist die Sprachskepsis
der modernen Literatur in unser
Alltagsbewusstsein eingewandert
Tödlich ist hier zunächst
nicht alle Sprache, sondern nur
die der jüdischen Kinder
„Jeden Tag wurden wir steifer, kranker, blasser, erschöpfter von dem, was Esther nicht lassen konnte.“ – Buchstaben aus dem Figurenalphabet von Giovannino de Grassi.
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Ben Marcus: Flammen alphabet. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Melle. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2012.
430 Seiten, 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Ein grandioser Thriller.« Harald Staun FAS, 13.08.2012