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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2003

Man soll den Reim
nicht schmähen
Eva Zellers Gedichtband
„Tübingen, Stiftsgarten”
Wo Rimbaud mit Verlaine die blutige „Neckarschlacht” begann, wo die „Stiftsköpfe” Kepler, Hegel, Schelling, Hölderlin, Mörike, Vischer, Strauss Mußestunden suchten und fanden, wo heute Abertausende Touristen den genius loci tot trampeln, da wohnt Eva Christina Zeller und macht die Augen auf und dichtet: „Stiftsgarten, Tübingen”. Lyrisches Scheitern oder Epigonalität scheinen fast zwangsläufig, beherrscht doch die Tradition von Hölderlin bis Celan das poetische Gebiet. Zeller nimmt selbst die Kritik im Gedicht vorweg: „zu antiquiert sing ich sagen die richtigen/ zeitgemäßen wo sind die brüche?”
Wer nur auf Reizworte reagiert, wird rasch Rückwärtsgewandtes, Glattes, Nachfolgertum und Naturfrommes bemerken: Specht und Kuckuck kehren ein ums andere Mal wieder, ebenso das Heraklit-Wort vom Identischen des „Auf und Ab”, Wolken, Luft und Winde durchziehen die Zeilen wie manche Anspielung auf Kirchenlied und Bibel, sogar „blaue Schlüsselblumen” und andere mythenschwere Blümelein werden bei ihrem Namen gerufen, Dornröschen beschwört Zeller wie Aschenputtel. Und wer stakt über den Neckar? Klar, der alte Styxexperte Charon.
Wer sich dann enttäuscht abwendet, verkennt die Tatsache, dass Glattes auch wohlgefügt sein kann, dass – wie Robert Gernhardt klarstellte – nicht unbedingt der ein Genie ist, der alte Reime wie „Liebe – Triebe” vermeidet, sondern derjenige, der dem scheintoten Reim neues Leben einflößt. Wenn Rimbaud sich seines Ausspruchs „Je est un autre” so freute, dass er ihn nur zwei Tage später wiederholte, warum sollte Zeller nicht spielerisch mitdichten „ich wollt wohl ich sein aber da ich ich bin will ich bloß fort”? Man muss den Mut begrüßen, die lyrischen Formen, Motive und ehrwürdigen Rhythmen nicht aufzugeben, sondern aufzunehmen, fortzuwirken an dem Textkorpus, statt auf Patchwork zu setzen. Tod, Sterben, Erinnerung, Natur, Liebe, der Wort- Hochseilakt – Zellers Themen sind alle nicht neu, doch ihr gelingen neue Beobachtungen.
Welt im Reisebüro
Nicht nur die sechzehn Gedichte des Titelzyklus dokumentieren, wie sehr es sich lohnt, Assonanzen zu ehren, Binnenreime einzustreuen, Inversionen und Ellipsen zu hegen, Motivketten zu pflegen, Kalauernähe in ernsten Versen zu wagen und die moderne Welt in genaue Naturschilderungen zu integrieren. Obwohl sie über einen langen Zeitraum hin entstanden, wirken die sieben Zyklen und elf weiteren Gedichte vielfach verwoben durch Lieblingswörter, Naturrhythmen, Freude am Kontrast zwischen Um- und Menschenwelt. Es eint sie zudem, dass neben dem „delectare” nicht selten das „prodesse”, gar das „docere” steht.
Zellers Lyrik klärt darüber auf, dass Moose und Flechten in zwanzigtausend Arten vorkommen, der Mensch nur in einer; dass die weiteste Pilgerfahrt nach Mekka unfreiwillig tausende Opferlämmer aus Neuseeland antreten; dass der Mond in Neuseeland aufhört, ein deutscher Trabant im Morgenstern’schen Sinn zu sein. Solche Erkenntnisse verdanken sich Zellers Zeit „down under”: antipodisch sieht man anders: „Welt im Reisebüro / plan an der Wand / fällt oben links Europa ins Nichts.” Gesucht eher denn gelungen wirkt allerdings ihre Rezeption maorischer Mythologie in „Land der langen weißen Wolke”. Dennoch gelingen ihr dort überzeugende Naturbeobachtungen: „Ohne müd zu werden liefen die Meerkämme / (...) / Als wollten alle Wellen / das Meer verlassen.” Zeller beweist hier, was man im 18. Jahrhundert „Einbildungskraft” oder „Witz” genannt hätte. Konsequenter eingesetzt, ersparte ihr diese Fähigkeit manche zu pathosschwere, konventionelle, oberflächliche oder zu hermetische Formulierung.
ROLF-BERNHARD ESSIG
EVA CHRISTINA ZELLER: Stiftsgarten, Tübingen. Gedichte. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2002. 91 Seiten, 14,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Schon Robert Gernhardt habe klargestellt, dass der Bezug auf die alten "ehrwürdigen" Formen keineswegs Stillstand bedeuten muss, führt Rolf-Bernhard Essig im Fall der Tübinger Dichterin Eva Christina Zeller an. Es komme vielmehr darauf an, ihnen neues Leben einzuflößen. Insofern kann Essig Zellers "Mut" nur begrüßen, die herkömmlichen lyrischen Formen und Motive aufzugreifen und fortzuführen. Es sind also die herkömmlichen Themen, die Zeller behandelt: Tod, Sterben, Erinnerung, Liebe, Natur. Am überzeugendsten findet Essig Zellers Naturbetrachtungen, zumal es der Autorin gelänge, die moderne Welt dahinein zu integrieren. Fein gewirkt seien die Verse, mit Assonanzen, Binnenreimen, Inversionen, alles was die Schule der Verskunst verlangt; manches kommt Essig dennoch zu glatt, zu hermetisch, zu "pathosschwer" daher. Die Autorin beweise viel "Einbildungskraft", resümiert Essig, diese hätte sie bloß noch etwas konsequenter und schärfer einsetzen müssen.

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