Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • ISBN-13: 9783421057150
  • ISBN-10: 342105715X
  • Artikelnr.: 24362033
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2003

Das Medium war die Ortschaft
Im Vorprogramm: Kurt Oesterle erzählt eine frühe Fernsehkindheit

Ein Leben ohne das Fernsehen und seine kollektiv vermittelten Bilder ist heutzutage undenkbar. Und doch ist es nur wenige Jahrzehnte her, daß die Vorfahren der "Generation Golf" überhaupt erst lernen mußten, die Möglichkeiten des neuen Mediums für sich zu nutzen. Das war in den fünfziger Jahren nicht immer einfach, waren doch Fernsehgeräte damals längst noch keine Selbstverständlichkeit, und viele der Älteren begegneten der neumodischen "Flimmerkiste" mit Mißtrauen, ja mit offener Ablehnung.

Von solchen Erfahrungen erzählt der 1955 geborene Kurt Oesterle, selbst ein Kind der ersten Fernsehgeneration, in seinem kleinen, elegant geschriebenen Roman. Die Hauptfigur des Buches, offenbar ein Alter ego des Verfassers, durchlebt eine bemerkenswerte Karriere als "Fernsehgast". Was es mit dieser eigentümlichen Bezeichnung auf sich hat, wird schnell deutlich.

Der aufgeweckte Junge, Sohn eines Tischlers, wächst in den fünfziger und sechziger Jahren in ländlicher Abgeschiedenheit auf. Das heimatliche Dorf erlebt er in einer Phase des Übergangs. Am Dorfrand entstehen Neubaugebiete; Brachflächen verwandeln sich über Nacht in Bauerwartungsland; Familientraditionen werden durch "Traumberufe" abgelöst. Wichtigstes Zeichen der voranschreitenden Moderne sind aber eben die Fernsehgeräte, die bereits in vielen Häusern des Dorfes stehen und die ehemals "guten Stuben" in fortschrittliche Wohnzimmer verwandeln. Die seltsam gedoppelte Formulierung "fernsehgucken" wird zum Signum all dieser Veränderungen.

Zum Kummer des Sohnes widersetzen sich Eltern und Großeltern aber dieser verlockenden Neuerung, so daß der phantasievolle Knabe dem gewohnten Familienleben mehr und mehr seine "Bilderlosigkeit" vorwirft, die er überhaupt erst durch die Existenz des Fernsehens als Mangel wahrzunehmen beginnt. Heute, wo in zahlreichen Kinderzimmern ein Computer neben Fernseher und Videogerät steht, sind das nostalgische Nachrichten aus einer fernen Vergangenheit. Vor aller verklärenden Beschwörung einer guten alten Zeit bewahrt Oesterle aber seine erzählerische Genauigkeit und vor allem die leise Ironie, mit der er von der Bildersucht seines jungen Helden erzählt.

Als einziger Ausweg aus dem fernsehlosen Dasein bleibt dem Knaben nämlich die Flucht in ein Doppelleben. Kaum verläßt er das elterliche Heim, verwandelt er sich zielstrebig in einen hartnäckigen "Fernsehgast", der jeden Fernsehapparat im Dorf kennt und sich allerlei Tricks einfallen läßt, damit er von wildfremden Menschen die Erlaubnis bekommt, seine geliebten Fernsehserien möglichst ungestört betrachten zu können. Fernsehen wird auf diese Weise zu einem riskanten Abenteuer, denn stets droht dem ungeladenen Gast die Gefahr, vor die Tür gesetzt zu werden, bevor die Schlußmelodie einsetzt.

Allmählich weitet sich die persönliche Erinnerung, die niemals die kindliche Perspektive verläßt, zur erhellenden Zeitdiagnose. Denn idyllisch ist die traditionelle Welt des Dorfes auch vor dem Siegeszug der Fernseher nicht. Ein wütender Bulle trampelt unversehens seinen stolzen Besitzer zu Tode; die scharfen Sägen und Messer in der väterlichen Werkstatt behalten auch in der Hand des erfahrenen Handwerkers ihre zerstörerische Kraft.

Eine größere und dunklere Bedrohung als in den konkreten Dingen aber liegt in der Vergangenheit. Der Krieg wird in den Erzählungen der Erwachsenen zum Inbegriff der Gegenwelt zur heimischen Geborgenheit. Verstört bemerkt der aufmerksame Knabe die Unterschiede zwischen den phantasievollen Erzählungen des Großvaters aus dem Ersten Weltkrieg und den vagen Andeutungen des Vaters über jenen zweiten großen Krieg, der die Welt nachhaltig in Unordnung gebracht hat und über den jedes direkte Gespräch vermieden wird. Ohne je in einen altklugen Ton der Besserwisserei zu verfallen, beschreibt Oesterle die Sprachlosigkeit der Kriegsheimkehrer, die viele Kinder der fünfziger und sechziger Jahre an ihren Eltern erlebt haben. Zugrunde liegt diesen Erfahrungen die kleinbürgerliche Mentalität, die sich vor zukunftsweisenden Veränderungen fürchtet und zugleich den bedrückenden Erinnerungen ausweichen will. Zum Sinnbild für diese Bemühungen, die Zeit stillstehen zu lassen, werden die langen Abende in der Familienküche, bei denen die Großeltern geduldig und wortlos den Einbruch der Dunkelheit erwarten.

Es war nicht zuletzt das Fernsehen, das solch häusliches Stilleben nachhaltig in Bewegung gebracht hat. Was heute rückblickend als mediale Revolution erscheint, vollzog sich zunächst ganz unscheinbar innerhalb der familiären Gewohnheiten. Wie stark aber das Private und Individuelle zum Spiegel für gesellschaftliche Veränderungen werden kann, das demonstriert Oesterle anschaulich an seinem hartnäckigen Fernsehgast. In seinem unbedingten Vertrauen in die Macht der bewegten Bilder werden sich viele der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen wiedererkennen.

SABINE DOERING

Kurt Oesterle: "Der Fernsehgast oder Wie ich lernte die Welt zu sehen". Roman. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2002. 192 S., geb., 18,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Sabine Doering gefällt der Roman über die Wandlung der Gesellschaft in den fünfziger Jahren durch das Fernsehen ausnehmend gut. Oesterle zeige anschaulich, wie das Private als "Spiegel für gesellschaftliche Veränderungen" dienen könne. Ein Junge, dessen Eltern kein Fernsehgerät haben, lädt sich bei allen möglichen Leuten als "Fernsehgast" ein, was die Rezensentin gut nachvollziehen kann. Fernsehen als Abenteuer zu betrachten, liegt den Menschen der heutigen Mediengesellschaft eher fern, und gerade dadurch wird Oesterles Beschreibung zu einer "erhellenden Zeitdiagnose", urteilt Doering. An die Bildergläubigkeit und die daraus entstehende Macht des Fernsehens erinnert sich die Generation der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen sicher noch, wie sie meint. Gleichzeitig stelle Oesterle ohne altkluge Besserwisserei die Situation nach dem zweiten Weltkrieg dar, als in den Familien über die Kriegsereignisse nicht geredet wurde, weil man die Erinnerungen daran lieber verdrängte.

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