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Nahezu jeder zweite Kinderarzt in Deutschland - ein Drittel davon Frauen - war nach 1933 im Sinne der nationalsozialistischen Gesetze jüdischer Herkunft oder galt als politisch missliebig. Dieses damals noch junge Spezialfach hatte besonders viele junge jüdische Ärztinnen und Ärzte angezogen. Ihre Erfolge und vor allem ihre Beliebtheit erregten schon vor 1933 die Missgunst vieler ihrer nichtjüdischen Kollegen.
Die Judenpolitik der Nationalsozialisten traf die Kinderheilkunde besonders hart.
Den jüdischen Kinderärzten wurde ab 1933 die Lebensgrundlage entzogen, sie wurden gedemütigt, aus
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Produktbeschreibung
Nahezu jeder zweite Kinderarzt in Deutschland - ein Drittel davon Frauen - war nach 1933 im Sinne der nationalsozialistischen Gesetze jüdischer Herkunft oder galt als politisch missliebig. Dieses damals noch junge Spezialfach hatte besonders viele junge jüdische Ärztinnen und Ärzte angezogen. Ihre Erfolge und vor allem ihre Beliebtheit erregten schon vor 1933 die Missgunst vieler ihrer nichtjüdischen Kollegen.

Die Judenpolitik der Nationalsozialisten traf die Kinderheilkunde besonders hart.
Den jüdischen Kinderärzten wurde ab 1933 die Lebensgrundlage entzogen, sie wurden gedemütigt, aus dem Land getrieben oder ermordet. Gleiches galt nach 1938 die anderen annektierten Gebiete.

Mit der vorliegenden Studie untersucht zum ersten Mal eine deutsche medizinische Fachdisziplin die Hintergründe der Verfolgung ihrer über 750 betroffenen Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Wien und Prag. Biographische Daten, Selbstzeugnisse und Briefe berichten von ihren einzelnen Schicksalen.

Ein besondere Anliegen dieser Untersuchung ist nicht nur die Erinnerung wach zu halten, sondern auch dem weiteren Vergessen und Verdrängen entgegen zu wirken.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "eindringliche und bedrückende Studie" zum Schicksal von Kinderärzten in Deutschland, Wien und Prag, die im Sinne der NS-Gesetze als Juden galten, stellt Manfred Gasper dieses Buch vor. Mittelpunkt der Dokumentation bilde "ein biografisches Lexikon von rund 750 Personen", je nach Quellenlage "auf lebensgeschichtliche Daten reduziert oder mit umfangreichen, zumeist autobiografischen Begleitinformationen" versehen. Der Bildteil zeige neben Fotos auch Faksimiles. Der Rezensent lobt die unprätentiöse Form, mit der Medizinhistoriker Eduard Seiler seine Fakten präsentiere. Seine Ergebnisse würden vom Autor selbst als unvollständig bezeichnet, worin auch eine Mahnung zu lesen sei, die Untersuchung weder als abgeschlossen, noch die Bürde der Vergangenheit abschütteln zu dürfen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2000

Gefährliche Fragezeichen
Die Verfolgung der jüdischen Kinderärzte im "Dritten Reich"

Eduard Seidler: Kinderärzte 1933-1945. Entrechtet - geflohen - ermordet. Bouvier Verlag, Bonn 2000. 494 Seiten, 28 Seiten Abbildungen, 58,- Mark.

Im Mai 1980 fand parallel zum 83. Deutschen Ärztetag in Berlin ein Symposion über "Medizin und Nationalsozialismus" statt. Heftige Attacken der Bundesärztekammer und des Hartmannbundes erfolgten daraufhin gegen die Veranstalter. Diese werteten die Reaktionen nicht nur als Ausdruck verletzter Standesehre, sondern auch als Ausdruck der Betroffenheit darüber, daß ein Thema öffentlich angesprochen wurde, das zu vergessen, zu verdrängen oder zumindest zu retuschieren man sich sorgfältig bemüht hatte.

Die Tagung hatte Impulscharakter wider das Vergessen, und dennoch: Trotz zahlreicher Forschungsaktivitäten und Publikationen zu medizinhistorischen Themen aus der Zeit des Nationalsozialismus klaffen immer noch riesige Wissenslücken über die Geschehnisse dieser Epoche. Um so bemerkenswerter ist es, daß mehr als 50 Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin als erste deutsche medizinische Fachdisziplin die Hintergründe der Verfolgung ihrer Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland sowie aus Wien und Prag darstellt. Autor der eindringlichen und bedrückenden Studie ist der Freiburger Medizinhistoriker Seidler.

Den Mittelpunkt der Dokumentation bildet ein biographisches Lexikon von rund 750 Personen, nach Herkunftsorten geordnet und - abhängig von der Quellenlage - auf lebensgeschichtliche Daten reduziert oder mit umfangreichen, zumeist autobiographischen Begleitinformationen versehen. Ein Bildteil zeigt neben Fotos der Betroffenen auch Faksimiles, wie die Austrittserklärung des Wiener Professors Rudolf Neurath aus der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde (DGfK): "Ich melde meinen Austritt . . ., da, wie ich vermute, meine Mitgliedschaft der Gesellschaft ebenso unerwünscht sein dürfte wie mir selbst." Als besonders makabres Dokument mag das Handexemplar des Mitgliederverzeichnisses der DGfK gelten, in dessen Ausgabe aus dem Jahre 1932 Fritz Goebel (Schriftführer der Gesellschaft) Mitglieder, die er für "nichtarisch" hielt, von Hand ankreuzte und die ihm in der Abstammung fraglichen Mitglieder mit einem Fragezeichen versah.

Der Dokumentation vorangestellt ist eine exzellente Einführung. In unprätentiöser Form präsentiert Seidler eine Vielzahl von Fakten über Juden in der Kinderheilkunde, den Antisemitismus an den Universitäten und in der Medizin, über die Judenpolitik der DGfK, über Demütigungen, Deportationen und Vernichtung. So entsteht in komprimierter Form eine Sozialgeschichte deutscher Juden im Arztberuf. Zwischen 15 und 16 Prozent der Ärztinnen und Ärzte waren um 1933 - im Sinne der NS-Gesetze - jüdischer Abstammung. Bei einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 0,9 Prozent gewinnt diese Zahl eine zusätzliche Dimension in der Kinderheilkunde. Von 1253 aus verschiedenen Quellen für 1933 nachgewiesenen Pädiatern im Gebiet des Deutschen Reiches wurden 611 Kinderärztinnen und Kinderärzte ermittelt, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter die Rassegesetze fielen. Somit war oder galt nahezu jeder zweite Kinderarzt als Jude.

Der Autor begründet dieses Phänomen mit der besonderen Anziehungskraft der Kinderheilkunde auf jüngere Mediziner, die er einerseits auf die rasante Aufwertung des Faches durch meßbare wissenschaftliche Erfolge zurückführt, andererseits auf die unter nationalökonomischen Aspekten wachsende Aufmerksamkeit für die Pädiatrie. Schließlich vertieften der Sozialdarwinismus und auch der Nationalismus das seit der Epoche der Aufklärung für die Heilkunde wichtige Motiv, daß der Staat an einer großen Zahl überlebender und gesunder Kinder interessiert sein muß.

Während sie in der Bevölkerung ein hohes Ansehen genossen, wurden jüdische Ärzte in der antisemitischen Propaganda Zielscheibe heftiger Polemik insbesondere gegen ihre hohe Zahl, gegen ihre hohe Repräsentanz im fachärztlichen Bereich und vor allem gegen den traditionell antijüdischen Topos vom unkollegialen "Geschäftsgeist" und der "Gewinnsucht", die dem Ansehen des Ärztestandes zuwiderliefen.

Seidler betont, daß diese Anschuldigungen keineswegs für einen nur "medizinischen Antisemitismus" typisch waren, sondern in gleichem Maße auch für Juden anderer intellektueller Berufsgruppen galten. Daher müsse von einem allgemeinen Antisemitismus auch in der Medizin gesprochen werden. Seidler bezeichnet die vorgelegten Ergebnisse als unvollständig. Dies zu akzeptieren wertet er als Mahnung, seine Untersuchung weder als abgeschlossen zu betrachten noch die Bürde der bedrückenden Vergangenheit abschütteln zu dürfen - ein Diktum, dem Signalwirkung auf andere medizinische Fachgesellschaften zu wünschen ist. Nur zur Erinnerung: Fast jeder zweite Arzt in Deutschland war Mitglied der NSDAP.

MANFRED GASPAR

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