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Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des…mehr

Produktbeschreibung
Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. «Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren», steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.
Autorenporträt
Jörg Baberowski, geb. 1961, ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher Studien zur russischen und sowjetischen Geschichte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2012

Der ewige Stalin: Mit dem Bolschewismus siegte die Gewalt
Die Ideologie sei nur Vorwand gewesen und Brutalität alles: Jörg Baberowski übertreibt es ein wenig mit seiner psychopathologischen Darstellung der russischen Revolutionäre
An sich hätte Jörg Baberowskis neues Stalin-Buch lediglich eine aktualisierte Neuauflage seines alten Buches von 2003 werden sollen. Aber als er sich an die Arbeit machte, fiel ihm auf, dass er zu seinen alten Thesen nicht mehr stehe. „Anstrengend“ sei es, schreibt er jetzt im Vorwort mit leichter Ironie über andere Historiker, „immer mit der gleichen Meinung recht haben zu müssen“. Es gibt freilich Leute, auch Historiker, die bei ihrer Meinung bleiben, ohne „immer“ recht haben zu müssen. Baberowski lobt sich dafür, recht zu haben, weil er nicht bei seiner bisherigen Meinung bleibt. Es ist allerdings nicht per se schon ein Verdienst, seine Meinung zu wechseln, wenn dies nicht ordentlich begründet ist.
Früher glaubte Baberowski, die Bolschewiki hätten ursprünglich etwas Sinnvolles angestrebt, nämlich die Modernisierung ihrer rückständigen Gesellschaft. Gewalt und Terror seien nicht notwendige Begleitumstände der kommunistischen Herrschaft gewesen und Stalin „kein Zyniker“. Von all dem ist in dem neuen Buch nur eines geblieben: Die Masse des russischen Volkes, die Bauern, schildert Baberowski als bitterlich arm, verroht und voller Hass gegen das zarische Regime und alle Staatlichkeit. Im Ersten Weltkrieg und dem anschließenden Bürgerkrieg, als die Bauern bewaffnet wurden, seien „alle bürgerlichen Sicherungen, die es im zarischen Russland immerhin noch gegeben hatte“, verschwunden. Baberowski schildert mit beredten Worten und grauenhaften Beispielen, wie nun das Faustrecht regierte. Die Ideologie der Bolschewiki sei den Bauernsoldaten und den Bauern, die es in die Städte verschlagen hatte, einerlei gewesen. Soweit sind Barberowski und der Rest der Forschung sich einig: Bekanntlich hat Lenin lediglich 10 000 Anhänger gebraucht, um die Oktoberrevolution ins Werk zu setzen.
Eigen ist Baberowski hingegen darin, dass er auf die Ideologie der Bolschewiki nichts mehr gibt, genauer: Er betrachtet sie als irrelevant für den tatsächlichen historischen Verlauf. Die Bolschewiki hätten Erfolg gehabt, weil sie, gewalttätiger als alle anderen Fraktionen, „der Wut des Volkes eine Stimme“ gaben.
2003 konzedierte Baberowski den Bolschewiki noch, dass sie bei all ihren theoretisch guten Zielen an der Wirklichkeit des ländlichen Lebens scheiterten, von dem sie keine Ahnung hatten. Deshalb hätten sie zu brutalen Maßnahmen gegriffen, um ihre Ideen von Ordnung ins letzte Kaff zu tragen und dafür zu sorgen, dass überall in dem Riesenreich die Zentralregierung respektiert wurde. Heute denkt er anders: Das ganze bolschewistische Unternehmen schildert er als eine Orgie der Gewalt, die mit den Theorien des Marxismus lediglich verbrämt worden sei.
Das ist eine bedenkenswerte These. Problematisch ist freilich, dass ein Buch über Stalin – mag es auch so gut recherchiert sein wie das vorliegende – nicht dazu geeignet ist, sie zu belegen. Mit seiner Meinung, dass Stalin „kein Zyniker“ gewesen sei, hat Baberowski 2003 recht allein dagestanden. Die allermeisten Leser werden ihm hingegen zustimmen, wenn er Stalin heute einen „bösartigen Psychopathen“ nennt. Aber Stalin kam erst nach Lenins Tod an die Macht. Waren die Lust an Mord und Gewalt schon zuvor die (heimlichen) Motive der Bolschewiki?
Baberowski bezeichnet Lenin als einen „bösartigen Schreibtischtäter“, in seinen Augen war Lenin nicht besser als Stalin. Leider belegt er das nicht. Die „Neue ökonomische Politik“, die Liberalisierung, die Lenin 1921 anberaumte, als er sah, dass die Partei mit ihren diktatorischen Maßnahmen nicht weiterkam, hält Baberowski bloß für einen „taktischen Rückzug“. Leider belegt er das auch nicht. Dass Lenin gezielt Leute in Lager schickte, während Stalin auf Quoten aus war, erwähnt er nicht. Lenins „Testament“, in dem der Todkranke vor Stalin warnte, erörtert er nicht. Auch die parteiinternen Konflikte in den ersten Jahren nach 1917 erwähnt er nur nebenbei. Den russischen Bürgerkrieg hält er für „die Generalprobe für den Stalinismus“: Demnach hätten die Bolschewiki eine Herrschaft angestrebt, die Baberowski kennt, die sie selbst aber nicht kennen konnten.
Da seine neue These Baberowski wichtig ist, hätte er sie aus seiner Darstellung herleiten sollen. Die ausführlichen Beschreibung der barbarischen Grausamkeiten des Stalinismus helfen da nicht, ja sie sind auch gar nicht dringend nötig. Nachdem der Leser einmal begriffen hat, dass Stalins Herrschaft auf die Todesangst aller Sowjetbürger gegründet war, tun die detaillierten Schilderungen bestialischer Folterungen und Hinrichtungen dem historischen Verständnis wenig hinzu. Das Thema „Gewalt“ ist seit einigen Jahren in Mode. Und solange Baberowski Stalin nicht für einen Zyniker hielt, war es sinnvoll, dass er schilderte, was sich trotzdem unter seiner Herrschaft alles abspielte. Seitdem er das Sinnen und Trachten der Bolschewiki auf Lust an der Gewalt zurückführt, sind seine diesbezüglichen Aufzählungen vor allem gruselig. Wer Horrorfilme zu erschreckend findet, sich von Gewalt aber gern eine eigene Vorstellung macht, wird hier auf seine Kosten kommen.
Übrigens: Selbst Stalins Herrschaftschildert Baberowski vielleicht ein wenig zu monolithisch. Wolfgang Leonhard, der bis Kriegsende in der Sowjetunion lebte, hat beschrieben, wie die kriegsmüden Menschen bei der Stange gehalten wurden: Stalin, sagte er der Rezensentin, habe „den Geniestreich fertiggebracht, 1944 und 1945 seine Bevölkerung neue Hoffnung schöpfen zu lassen. Wenn ihr jetzt noch ordentlich kämpft, das war seine Botschaft, dann kriegt ihr endlich Freiheit. Eine so geniale Idee hat kein anderer Diktator gehabt“. Zu dieser Art differenzierter Betrachtung ist Baberowski nicht aufgelegt.
FRANZISKA AUGSTEIN
„Der Erste Weltkrieg war
die Generalprobe
für den Stalinismus.“
Jörg Baberowski
Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt
Verlag C. H. Beck, München 2012.
606 Seiten, 29, 95 Euro.
Josef Stalin war mordlüstern. Ein Paranoiker war er nicht ganz ohne Grund: Er wusste, wie er mit seinen Leuten umging, und wollte dasselbe nicht erleben.
Foto: SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Franziska Augstein ist nicht überzeugt von Jörg Baberowskis Stalin-Buch, in dem der Berliner Historiker seine These revidiert, dass Gewalt und Terror dem Bolschewismus nicht zwangsläufig eigen waren, sondern vor allem von Stalin ins Werk gesetzt wurden. In diesem Buch nun will Baberowski deutlich machen, dass die Bolschewiki von Anfang an ihre Herrschaft auf Gewalt und eine Verrohung der Gesellschaft stützten, die Ideologie sei dabei völlig nachrangig gewesen. Aber warum, fragt die Rezensentin, schreibt er dann ein Buch über Stalin, den pathologischen Gewalttäter? Und warum ergeht er sich dann in endlosen Beschreibungen von Folterungen und Hinrichtungen. Als der Autor noch meinte, Stalin sei "kein Zyniker" gewesen, da hätte Augstein die Aufzählung all des Horrors sinnvoll gefunden, aber jetzt findet sie all die Grausamkeiten als Beleg seiner These redundant.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2012

Alltag des Vernichters

Jörg Baberowskis neues Buch über Stalin zeigt einen Diktator, in dessen Reich alles möglich war, solange es nur dem Machterhalt diente. Das Instrument dafür: totale Gewalt

Stalin herrschte nicht nur über das Sowjetreich, die Rote Armee und das Gedächtnis der Insassen seines Landes, sondern auch über das Wetter. Jedenfalls mussten Köpfe rollen, wenn es, wie am 18. August 1946, anders ausfiel als vorhergesagt. Die Kaskade von Anschuldigungen und Erklärungen von allen möglichen Wetterdiensthauptverwaltern, wer für die falsche Vorhersage verantwortlich und wie mit dem Schuldigen zu verfahren sei, ist typisch für einen Staat, dessen Irrsinn immerhin ein Drittel eines Jahrhunderts währte.

Es konnte passieren, dass einer dieser Verantwortlichen für das falsche Wetter verhaftet wurde, gefoltert, erschossen. Es konnte auch sein, dass gar nichts geschah. In "Stalins Herrschaft der Gewalt", so der Untertitel von Jörg Baberowskis neuem Buch, war schlichtweg alles möglich. Die vollständige Unberechenbarkeit, das erschließt sich beim Lesen dieses frappierenden Berichts aus der totalitären Schreckenskammer, ermöglicht die vollständige Unterwerfung einer kompletten Gesellschaft. Dass diese dabei alle Züge eines Wirklichkeit gewordenen Albtraums annimmt, erschließt sich aus der minutiösen Rekonstruktion des Aufstiegs der stalinistischen Diktatur. Ich hatte bis zu der Lektüre von Baberowskis Buch immer gedacht, dass Michail Bulgakows grandioser Roman "Der Meister und Margarita" eine Satire auf den Stalinismus sei. Nun weiß ich, dass es sich um einen Tatsachenbericht handelt.

Neben der Rekonstruktion der Stalinschen Gewaltherrschaft, die in vielen Details Licht in den historischen Abschnitt von der Oktoberrevolution bis in die fünfziger Jahre bringt, der durch spätlinke Bemäntelung gelegentlich immer noch etwas verdunkelt war, besticht Baberowskis Studie besonders durch die Analyse, die der Gewalt als sozialem Herrschaftsinstrument zukommt. Sowenig der Stalinismus jenseits der Verlautbarungen über sich selbst auch nur das Entfernteste mit dem "neuen Menschen", gar mit Freiheit zu tun hatte, so wenig diente die allumfassende Gewalt, die das Regime unter der Führung Stalins gegen die komplette Bevölkerung richtete, irgendwelchen Zwecken außer der Aufrechterhaltung der Zwangsherrschaft selbst. Gewalt ist nicht etwas, das Stalin anwendet, um etwas anderes damit zu erreichen. Fast alle bolschewistischen Kämpfer hatten in der zarischen Zeit und im Bürgerkrieg Gewalt erlitten und ausgeübt; sie hatten ein direktes Verhältnis zur Gewalt, waren mit ihr aufgewachsen und hielten sie, wie Baberowski schreibt, "für eine alltägliche Ressource politischen Handelns".

Eine Führung, die ihre Herrschaft auf die schrankenlose Anwendung von Gewalt gründet, benötigt dafür nur zwei Dinge: ausreichend physische Machtmittel, also einen umfassend gewaltbereiten Staatssicherheitsdienst, sowie die Theorie, dass das eigene Land und das menschheitsbeglückende Projekt des Kommunismus von Feinden nicht nur umstellt, sondern im Innersten auch unterminiert sei. Jeder konnte ein Feind, ein Spion, ein Verräter sein, und wer es heute noch nicht war, konnte jederzeit "vom Ausland", "von den Kapitalisten" bestochen oder verführt werden, zum "Schädling" am Aufbau des Sowjetstaates und des Kommunismus werden.

Daher galt prinzipiell nicht der Denunziant als Verräter, sondern der, den er denunzierte, und deshalb war es gleichgültig, ob einer zu Recht oder zu Unrecht als "Saboteur" oder "Feind" beschuldigt wurde. Stalin unterzeichnete Todeslisten mit Tausenden von Namen darauf; Hunderttausende Bauern oder Angehörige unerwünschter Nationalitäten wurden deportiert, ermordet, Millionen kamen durch systematische Hungerpolitik zu Tode.

Zugleich beschränkte sich die Industrialisierung des Landes und die Entstehung einer Klasse von Arbeitern auf vergleichsweise wenig Zentren, während die bäuerliche Bevölkerung sowohl räumlich wie mental fernab von der Entstehung der neuen Gesellschaft blieb. Da die marxistische Theorie nun aber die Diktatur des Proletariats voraussetzte, musste die Agrargesellschaft erst mal proletarisiert werden. Die Bauern allerdings konnten sich von Landreformen, Zwangskollektivierung und Kolchoswirtschaft nichts versprechen, zumal das für sie immer nur darauf hinauslief, nichts von dem, was sie erwirtschafteten, für sich selbst nutzen zu können. Hier, auf dem Land, kam von den Glücksversprechen des Bolschewismus zu keinem Zeitpunkt etwas an, und genau deshalb wütete die unterschiedslose Gewalt der Geheimpolizei unter der Landbevölkerung am heftigsten und führte zu bis heute kaum vorstellbaren Opferzahlen.

Von daher war es kein Wunder, dass die vorrückende deutsche Wehrmacht an nicht wenigen Orten begeistert begrüßt wurde, und nach den Gewaltexzessen der Tscheka erschien es den meisten Dorfbevölkerungen auch nicht weiter beklagenswert, dass nun vor allem die Juden Opfer von Massenerschießungen wurden. Das Kapitel über den Zweiten Weltkrieg ist eines der interessantesten Abschnitte in Baberowskis Buch, arbeitet er doch heraus, dass Gewalt, auch kriegerische Gewalt, nur zu verstehen ist, wenn man sie als Interaktion begreift, die eine innere Dynamik zu entfalten vermag, die keiner der Akteure vorherzusehen und exakt zu steuern versteht. Hitler und die Generalität haben nicht gesehen, dass die Stalinsche Herrschaft auf Gewalt und keineswegs auf substantielle Zustimmung oder gar Identifikation gegründet war, weshalb die Einnahme Moskaus militärisch erfolgversprechender gewesen wäre als die weitere Expansion im Raum.

Und noch weniger haben sie gesehen, dass der Angriff auf die Sowjetunion Stalin ein Mittel in die Hand spielte, jene gesellschaftliche Kohäsion zu erzeugen, die seine Gewaltherrschaft zuvor fast vollständig zerstört hatte: Die Formatierung des Geschehens als "Großer Vaterländischer Krieg" bot dem Einzelnen erstmals einen Sinn für ausgeübte Gewalt und erfahrenes Leid und setzte genau jene Energien frei, ohne die die Diktatur wahrscheinlich viel früher implodiert wäre. So schreibt Dimitrij Schostakowitsch in seinen Erinnerungen: "Nicht nur ich verdanke dem Krieg die Möglichkeit, mich auszusprechen. Das geistige Leben, das vor dem Krieg völlig verdorrt war, erblühte neu, voll und dicht. Alles gewann an Kontur, an Deutlichkeit, an Sinn."

Paradoxerweise hob der Krieg die radikale Atomisierung der Einzelnen auf, die die totalitäre Gewaltherrschaft geschaffen hatte; paradoxerweise öffnete das Leiden unter der Kriegsgewalt Räume des Sprechens, die unter der innerstaatlichen Gewalt verschlossen worden waren. Nun ging es nicht mehr um die absonderlichen und unberechenbaren Forderungen "der Partei", sondern um das Zusammenstehen gegen einen identifizierbaren Feind. Die historisch beispiellose Extremgewalt, die der Überfall auf die Sowjetunion ausgelöst hat, ist das Produkt der Interaktion zweier Gewaltsysteme, keineswegs das Ergebnis einer ideologischen Konfrontation.

Man versteht totalitäre Systeme nicht, wenn man ihre ideologische Selbstbeschreibung damit verwechselt, was die Gesellschaftsmitglieder denken und warum sie etwas tun. So schreibt Baberowski: "Nicht weil sie Überzeugungen hatten, verrohten die Soldaten, sondern weil ihnen die Bedingungen keine andere Wahl mehr ließen. Die Wehrmacht hatte sich über alle geltenden Konventionen hinweggesetzt, und die Rote Armee zahlte es mit gleicher Münze heim, unter Bedingungen, die Technik und militärisches Können wertlos machten. Sie schränkten den Spielraum der Gewaltakteure ein, andere Lösungen als die Vernichtung des Gegners zu finden, und eben darin lag die Bedeutung, die Nationalsozialisten wie Bolschewiki dem Vernichtungskrieg beimaßen. Denn Hitler und Stalin gefiel der Vernichtungskrieg, weil in ihm Feinde nicht besiegt, sondern ausgerottet wurden." Da die Wehrmacht einen Krieg gegen ein Regime führte, für das Vernichtungsgewalt ohnehin das zentrale Herrschaftsmittel war, konnte die Wehrmacht, so Baberowski, "auf Dauer nicht Sieger bleiben".

Man kann aus Baberowskis Buch viel lernen über die Dynamik von Gewalt als sozialem Handeln, auch darüber, wie totalitäre Gesellschaften funktionieren, indem sie Gewalt systematisch entgrenzen. Und darüber, wie Menschen in der Lage sind, Wirklichkeiten nicht nur zu phantasieren, sondern alle Kraft dafür einzusetzen, die Welt dieser Vorstellung von Wirklichkeit anzupassen. Wenn diese vorgestellte Wirklichkeit darin besteht, dass die Welt voller Feinde und Verschwörer sei, dann müssen alle bekämpft werden, die Feinde und Verschwörer sein oder werden könnten. Wenn man, wie Hannah Arendt einmal formuliert hat, behauptet, dass nur Moskau eine Untergrundbahn besitze, dann müssen folgerichtig alle Untergrundbahnen andernorts zerstört werden, um aus der Lüge eine Wahrheit zu machen.

Baberowskis Buch ist besonders darin erhellend, dass es zeigt, dass kein System idiotisch genug sein kann, um nicht eine beträchtliche Zeit funktionieren und physische und psychische Schäden anrichten zu können, die auch noch Jahrzehnte, im Fall des Stalinismus bis heute nachwirken. Und darin, dass es zeigt, dass für Menschen alles möglich ist. Kleinere Mängel hat es dort, wo die Aufzählung der Gewalthandlungen so umfassend wird, dass man als Leser selbst schon kein Ende mehr abzusehen befürchtet. Auch habe ich Seitenblicke darauf vermisst, wie es denn bei all der Dysfunktionalität, der vielfach sinnlosen Produktion, bei der grandiosen Verschwendung und Vernichtung von Arbeitskraft selbst im Stalinismus möglich gewesen ist, ein Mindestmaß an Industrieproduktion aufzubauen und, mehr noch, eine am Ende doch erfolgreiche Kriegswaffenproduktion zu ermöglichen. So bleibt der Eindruck von etwas Erratischem zurück, als würde nur mit dem Tod Stalins ein entsetzliches Großexperiment auf das Funktionieren von Menschen unter extremer Gewalt zu Ende gegangen sein.

Davon abgesehen ist Baberowski ein mehr als eindrucksvolles Buch gelungen, glänzend geschrieben, ein Schlüsselwerk über die Rolle, die Gewalt als soziale Praxis im 20. Jahrhundert gespielt hat.

HARALD WELZER

Jörg Baberowski: "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". C. H. Beck, 606 Seiten, 29,95 Euro

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Baberowskis packendes Buch liest sich wie ein Krimi, auch wenn der Verbrecher von vornherein bekannt ist. Ulrich M. Schmid Neue Zürcher Zeitung