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"Eine faszinierende Jahrhundertchronik Russlands." BBC. Ein Mann erwacht in einem Krankenzimmer und kann sich an nichts erinnern Sein Arzt verrät ihm nur seinen Namen: Innokenti Platonow. Als die Erinnerung langsam zurückkommt, formt sich das Bild eines bewegten Lebens: Eine behütete Kindheit im Russland der Zarenzeit, der Sturm der Revolution, roter Terror und der Verlust einer ersten großen Liebe. Bald treibt ihn vor allem eine Frage um: Wie kann er sich an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern, wenn die Tabletten auf seinem Nachttisch aus dem Jahr 1999 stammen? In der Tradition…mehr

Produktbeschreibung
"Eine faszinierende Jahrhundertchronik Russlands." BBC. Ein Mann erwacht in einem Krankenzimmer und kann sich an nichts erinnern Sein Arzt verrät ihm nur seinen Namen: Innokenti Platonow. Als die Erinnerung langsam zurückkommt, formt sich das Bild eines bewegten Lebens: Eine behütete Kindheit im Russland der Zarenzeit, der Sturm der Revolution, roter Terror und der Verlust einer ersten großen Liebe. Bald treibt ihn vor allem eine Frage um: Wie kann er sich an den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erinnern, wenn die Tabletten auf seinem Nachttisch aus dem Jahr 1999 stammen? In der Tradition großer russischer Autoren wie Michail Bulgakow und Fjodor Dostojewski entfaltet Jewgeni Wodolaskin am Schicksal eines Einzelnen ein faszinierendes Panorama Russlands.
Autorenporträt
Jewgeni Wodolaskin, geboren 1964 in Kiew, arbeitet nach einem Philologiestudium und der Promotion seit 1990 in der Abteilung für Altrussische Literatur im Puschkinhaus (Institut für russische Literatur) in St. Petersburg. Sein Roman ¿Laurus¿, ein internationaler Bestseller, wurde bisher in 29 Sprachen übersetzt. ¿Luftgänger¿ wurde bisher in 14 Sprachen übersetzt und stand 2016 auf Platz 2 des renommiertesten russischen Buchpreises "Bolschaja kniga" (Großes Buch). Jewgeni Wodolaskin lebt mit seiner Familie in St. Petersburg. Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, studierte russische Sprache und Literatur in Woronesh (Russland), Lektorin, seit 1991 freiberufliche Übersetzerin. Sie übertrug u.a. Swetlana Alexijewitsch, Polina Daschkowa, Ljudmila Ulitzkaja und Boris Akunin ins Deutsche.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Jewgeni Wodolaskin ist ein geachteter Literaturwissenschaftler, vor allem aber ein erfolgreicher Geschichtenerzähler. Sein Roman „Luftgänger“ wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Innokenti Platonow wacht 1999 in einem Krankenhausbett auf. Sein Problem: Er ist nach der Oktoberrevolution unfreiwillig eingefroren worden. Biologisch ist er nun 30, und in seinem Land herrscht ein Mann, „der zu viel Alkohol trinkt“. Allmählich werden die historischen Details entfaltet, in tagebuchähnlichen Aufzeichnungen: Neben dem erfolgreich Aufgetauten schreiben auch sein Arzt und die Enkelin seiner großen Liebe,
die Innokentis Ehefrau wird. Erinnerung, so legt es der Roman nahe, ist wohl nur eine bestimmte Kombination von Neuronen, und der Kampf um das Glück bringe im Grunde nichts als Tragödien. Platonow ist in der neuen Zeit angekommen, als er Werbeträger für Tiefkühlgemüse wird. Sylvester Groth zieht den Hörer mit seiner magischen Stimme in den Bann. Gemeinsam mit Thomas Sarbacher, der gelegentlich etwas schnarrt, und Jennipher Antoni hätte man kaum ein besseres Ensemble finden können.

© BÜCHERmagazin, Friedel Bott

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019

Fürchte dich nicht vor kosmischer Kälte

Jewgeni Wodolaskin befreit im Roman "Luftgänger" den Menschen aus der Geiselhaft der Geschichte.

Von Kerstin Holm

Der Petersburger Schriftsteller und Sprachgelehrte Jewgeni Wodolaskin, der für seine ins Mittelalter verlegte Heiligenvita "Laurus" als russischer Umberto Eco gefeiert wurde, entwirft auch in seinem neuen Roman "Luftgänger" ein Heldenleben in mythisch gewordener Vergangenheit, hier der sowjetischen. Denn das zwanzigste Jahrhundert, das durch Geschichtspolitik geschminkt, aber auch von der Historiographie entpersönlicht wird, ist zumal den Jüngeren fast so ferngerückt wie die Antike. An seinem Helden, den der Leser als Krankenhauspatienten kennenlernt, der aus dem Nichts sein Gedächtnis wiedererlangen muss, exerziert Wodolaskin die individuelle Arbeit der Erinnerungsarchäologie vor. Die Figur mit dem sprechenden Namen Innokenti Platonow, dem sein Schöpfer das Geburtsjahr 1900 verpasst hat, ist ein nahezu Gerechter, der in bestialischer Zeit dem Guten und der Liebe treu bleibt, dann aber durch ein medizinisches Experiment für den größten Teil der Epoche eingefroren wurde. So macht der Autor ihn auch zum Symbol des "kurzen" sowjetischen Jahrhunderts.

Innokenti, apolitischer Kunststudent aus einer Bildungsfamilie, kann sein Leben bis etwa zum dreißigsten Jahr rekonstruieren - was danach in der Welt geschah, erklärt ihm sein Arzt aus der Sicht eines Liberalen der neunziger Jahre.

Eine appetitliche Krankenschwester wird für Innokenti zur Proust-Madeleine, die vor ihm Bilder seiner Mutter, einer behüteten Kindheit und des von ihm keusch geliebten Mädchens aufsteigen lässt. Die Revolution erlebt er nicht als Utopie oder als Nemesis für Ungerechtigkeiten, sondern wie sie in Individuen niedere und destruktive Kräfte freisetzt. Ein trunkener Mob erschlägt Innokentis Vater. Der Vater seines Mädchens wird von einem bei ihm einquartierten Fabrikarbeiter grundlos denunziert und in der Haft erschossen. Ebenso willkürlich wird auch Innokenti durch Folter ein Geständnis abgepresst. Er kommt ins Straflager, wo sadistische Exzesse eskalieren und sein geistig zurückgebliebener Cousin der Chef-Scherge ist.

Wodolaskin schreibt zugleich Retro-Science-Fiction. Er imaginiert ein fiktives Geheimlabor des Biologen Sergej Nikolajewitsch Muromzew (1898 bis 1960), der in den zwanziger Jahren tatsächlich Kleintiere einfror und wieder auftaute, später aber auch Giftstoffe an Strafgefangenen testete. Auf der Suche nach einer Technologie, das Leben sowjetischer Staatsführer zu verlängern, versetzt der Muromzew des Romans Häftlinge mit flüssigem Stickstoff in Tiefkühlstarre. Mit Hilfe einer zurückprojizierten Zukunftsmedizin wird dann am Ende des Jahrhunderts aber der Versuchsmensch wieder lebendig und findet sogar seine Braut, wenngleich in herzergreifender Umkehrung der Konstellation in Johann Peter Hebels "Bergwerk von Falun": Der jugendlich Auferstandene kann sich von der dementen Greisin, die er wäscht und dabei zum ersten Mal berührt, gerade noch verabschieden. Danach überträgt er seine Liebe zu ihr auf die Enkelin.

Wodolaskin, der das Buch als Mosaik von Tagebucheinträgen baut, die Erinnertes und Gegenwärtiges aneinanderstoßen lassen, ist ein Meister der sinnlich atmosphärischen Vergegenwärtigung dessen, was für ihn menschliche Wahrheit in der Geschichte ausmacht. Mit dem Raffinement eines Iwan Bunin schildert er die feldblumenduftschwangere Luft in der Sommerfrische, die hauchzart glühende Erotik des Schaukelns in der Hängematte, dann aber mit ebenso detailkundiger Tiefenschärfe die Misshandlungsmethoden, Leiden und Vertierung der Lagerhäftlinge, vor allem aber ihrer Aufseher. Zumal die Episode auf der vom Weißen Meer hin und her geworfenen Häftlingsfähre mit den seekranken, sich unkontrolliert entleerenden Gefangenen prägt sich - nicht zuletzt durch die kongeniale deutsche Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt - unvergesslich ein.

Welch ein Kontrast zum abgeklärten Pragmatismus der Epoche des Arztes und der Frau des Helden! Die Diktatur sei vom Chaos abgelöst worden, es werde geklaut wie nie, so bringt der Mediziner die Neunziger auf eine Formel. Innokenti hält wenig von einer solchen historischen Sicht der Dinge, bei dem der Einzelne zur Geisel sozialer Großprozesse wird, wie er sich ausdrückt. Heimisch wird er nicht in dieser mit dem Wortwitz eines Viktor Pelewin beschworenen Werbeclip-Welt, die ihn gierig vermarktet. Fatalistisch macht er Reklame für Tiefkühlkost und lässt sich vom postsowjetischen Staat, der ihn soeben rehabilitiert hat, als "Mann des Jahres" im Kreml feiern.

Der Buchtitel "Luftgänger" - im russischen Original "Aviator" - ist eine Hommage an Alexander Bloks gleichnamiges Gedicht von 1912 über einen Flugpionier, auf das der Text immer wieder anspielt und das mit einem Absturz endet. Auch der Roman ist ein gelehrtes poetisches, moralisches Wortkunstwerk über einen gefährlichen Weg auf fragilem Gefährt. Aus der Vogelperspektive des Jahres 1999 entwirft er ein Panorama in Einzelnahaufnahmen, die, je weiter zeitlich entrückt, mit umso größerer Zärtlichkeit geschrieben sind und noch im Horror Mikroinseln von Schönheit aufscheinen lassen, und sei es, dass Innokenti im Lager eine vergewaltigte Gefangene über Nacht im Arm hält. Am Ende kann er, der mit Berufung auf Dostojewski die Revolution ablehnte, sich noch ein Verbrechen eingestehen, das aus einem Dostojewski-Roman stammen könnte. Doch da verlässt die Lebenskraft den Zeitreisenden, der an der Schwelle zur Putin-Ära auf eine Bruchlandung zusteuert.

Jewgeni Wodolaskin: "Luftgänger". Roman.

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 422 S., geb., 24,- [Euro].

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»Eine berührende Geschichte aus den Zeiten des stalinistischen Terrors mit einer fantastischen Wendung.« Ganna-Maria Braungardt Brigitte 20190717