Schonungslos, auch sich selbst gegenüber, rückhaltlos offen und bei allem Scharfblick immer heiter, erzählt die Schriftstellerin Lily Brett von den verschiedenen Stationen ihres Lebens. So lesen wir zum Beispiel, wie sie in Mexiko versuchte, einen Roman zu schreiben, während die Toilette explodierte, der Gärtner das Manuskript bewässerte und das Dienstmädchen sie über Schönheitschirurgie ausfragte. Sie berichtet, was sie beim Brand ihrer New Yorker Wohnung erleben musste und wie schwierig es war, sich nicht nur ein neues Leben, sondern auch eine neue Vergangenheit aufbauen zu müssen. Und mit viel Gefühl und Liebe spricht sie über New York, wo sie heute lebt - New York vor und nach dem 11. September.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2004Mit Kladde im Garten
Entspannungsübung: Lily Bretts „Von Mexiko nach Polen”
„Sin sal, sin grasso” beschwört die mexikanische Hausangestellte ihre Arbeitgeberin, die im bunten Chaos des lateinamerikanischen Laissezfaire Erholung vom New Yorker Alltag sucht, um sie zu überreden, von den liebevoll zubereiteten Speisen wenigstens zu kosten oder sie gar – welch verruchter Genuss! – aufzuessen. Das neurotische Verhalten der Großstädterin kommt vor dem Hintergrund einer anderen Kultur wahrhaft köstlich zur Geltung. Das frühmorgendliche Gejogge durch den Park – in amerikanischen und europäischen Metropolen ein Massenphänomen, das dem Selbstkasteier bestätigt, auf der richtigen Seite zu sein – wird plötzlich fragwürdig, wenn interessiert lächelnde Zeitgenossen freundlich ihr Unverständnis bekunden. Und wenn die Schriftstellerin mit gezücktem Stift vor ihrer Kladde im Garten sitzt und ihr ein paar Tropfen aus der Gießkanne des Gärtners wahre Verzweiflungsschreie entlocken, hat sie ein neues Problem und zugleich seine Lösung: Sie ist hysterisch – und kann darüber lachen. Was jahrelanger Psychoanalyse nicht gelang, scheint hier möglich: Entspannung.
Lily Brett ist keine gewöhnliche Zivilisationsgestresste. Sie wurde 1946 in Deutschland geboren, ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden in Auschwitz getrennt und fanden sich als KZ-Überlebende einige Jahre später wieder. 1948 zog die Familie nach Australien. Seit längerer Zeit lebt Lily Brett in New York, wo sie als Journalistin für ein Rockmagazin zum Schreiben kam. Inzwischen hat sie seit ihrem Debüt „Auschwitz Poems” eine stattliche Zahl literarischer Veröffentlichungen vorzuweisen. Ihre Bücher haben das Gewicht der Probleme der zweiten Generation, jener Nachfahren von Überlebenden, die schon als Kinder mit einem Leid konfrontiert sind, das ihre Vorstellungskraft übersteigt.
David Grossmans „Der Kindheitserfinder” ist dafür der nahezu klassische Text. Anders als ihr in Israel lebender Kollege aber, der sein großes Werk mit dem stilistischen Ernst der Moderne vorantreibt, schreibt Lily Brett betont leicht: kurze Sätze, klare Aussagen, knappe Dialoge, hohe Anschaulichkeit. Noch nie war die Autorin ihrem Stilideal so nahe wie in diesem Buch.
MEIKE FESSMANN
LILY BRETT: Von Mexiko nach Polen. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Deuticke Verlag, Wien und Frankfurt am Main 2003. 383 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Entspannungsübung: Lily Bretts „Von Mexiko nach Polen”
„Sin sal, sin grasso” beschwört die mexikanische Hausangestellte ihre Arbeitgeberin, die im bunten Chaos des lateinamerikanischen Laissezfaire Erholung vom New Yorker Alltag sucht, um sie zu überreden, von den liebevoll zubereiteten Speisen wenigstens zu kosten oder sie gar – welch verruchter Genuss! – aufzuessen. Das neurotische Verhalten der Großstädterin kommt vor dem Hintergrund einer anderen Kultur wahrhaft köstlich zur Geltung. Das frühmorgendliche Gejogge durch den Park – in amerikanischen und europäischen Metropolen ein Massenphänomen, das dem Selbstkasteier bestätigt, auf der richtigen Seite zu sein – wird plötzlich fragwürdig, wenn interessiert lächelnde Zeitgenossen freundlich ihr Unverständnis bekunden. Und wenn die Schriftstellerin mit gezücktem Stift vor ihrer Kladde im Garten sitzt und ihr ein paar Tropfen aus der Gießkanne des Gärtners wahre Verzweiflungsschreie entlocken, hat sie ein neues Problem und zugleich seine Lösung: Sie ist hysterisch – und kann darüber lachen. Was jahrelanger Psychoanalyse nicht gelang, scheint hier möglich: Entspannung.
Lily Brett ist keine gewöhnliche Zivilisationsgestresste. Sie wurde 1946 in Deutschland geboren, ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden in Auschwitz getrennt und fanden sich als KZ-Überlebende einige Jahre später wieder. 1948 zog die Familie nach Australien. Seit längerer Zeit lebt Lily Brett in New York, wo sie als Journalistin für ein Rockmagazin zum Schreiben kam. Inzwischen hat sie seit ihrem Debüt „Auschwitz Poems” eine stattliche Zahl literarischer Veröffentlichungen vorzuweisen. Ihre Bücher haben das Gewicht der Probleme der zweiten Generation, jener Nachfahren von Überlebenden, die schon als Kinder mit einem Leid konfrontiert sind, das ihre Vorstellungskraft übersteigt.
David Grossmans „Der Kindheitserfinder” ist dafür der nahezu klassische Text. Anders als ihr in Israel lebender Kollege aber, der sein großes Werk mit dem stilistischen Ernst der Moderne vorantreibt, schreibt Lily Brett betont leicht: kurze Sätze, klare Aussagen, knappe Dialoge, hohe Anschaulichkeit. Noch nie war die Autorin ihrem Stilideal so nahe wie in diesem Buch.
MEIKE FESSMANN
LILY BRETT: Von Mexiko nach Polen. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Deuticke Verlag, Wien und Frankfurt am Main 2003. 383 Seiten, 24,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wenn sich die Absurditäten des Großstadtlebens an einer anderen Kultur brechen, werden Allerweltsdinge - wie das "frühmorgendliche Gejogge durch den Park" - plötzlich fragwürdig, stellt Meike Fessmann amüsiert fest. Der neue Roman von Lily Brett entfaltet in einer "knappen", höchst anschaulichen Sprache dieses Szenario: Eine "zivilisationsgestresste" New Yorker Schriftstellerin sucht und findet im lateinamerikanischen "bunten Chaos" das, woran die Psychoanalyse scheiterte: "Entspannung", erzählt die Rezensentin. In den Bücher der in Deutschland geborenen Autorin, Tochter zweier KZ-Überlebender, wirke das Gewicht ihrer Kindheitserfahrung nach, berichtet Fessmann, jedoch unter einer Oberfläche "betonter" Leichtigkeit, die Brett mit diesem Roman zur Perfektion bringt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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