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Wo ist Deutschlands Raketenabwehr? Diese Frage rückte nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 in den Fokus der Presseberichterstattung. Für die Abwehr von ballistischen Raketen ist die Flugabwehrraketentruppe der Luftwaffe zuständig. Im Ost-West-Konflikt schützten rund 18.600 deutsche Soldaten im Rahmen der Integrierten NATO-Luftverteidigung die westliche Allianz vor Luftangriffen durch den Warschauer Pakt. Nach der Wiedervereinigung befand sich der Luftverteidigungsgürtel des Bündnisses nicht nur in einer geografisch wirkungslosen Position, sondern ihm fehlte auch…mehr

Produktbeschreibung
Wo ist Deutschlands Raketenabwehr? Diese Frage rückte nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 in den Fokus der Presseberichterstattung. Für die Abwehr von ballistischen Raketen ist die Flugabwehrraketentruppe der Luftwaffe zuständig. Im Ost-West-Konflikt schützten rund 18.600 deutsche Soldaten im Rahmen der Integrierten NATO-Luftverteidigung die westliche Allianz vor Luftangriffen durch den Warschauer Pakt. Nach der Wiedervereinigung befand sich der Luftverteidigungsgürtel des Bündnisses nicht nur in einer geografisch wirkungslosen Position, sondern ihm fehlte auch die Daseinsberechtigung. Mit seiner Auflösung ging ein erheblicher Abbau von Personal und Material der Flugabwehrraketenverbände einher. Nach der Neuausrichtung der Bundeswehr 2012 blieb diesem Dienstbereich der Luftwaffe nur noch ein Geschwader mit rund 2.300 Dienstposten. Der alte Feind war weg - und Deutschland nach 1989/90 umgeben von Freunden und Verbündeten. Warum also sollte die Regierung in eine Fähigkeit investieren, die Deutschland für sich selbst nicht brauchte?

Autorenporträt
Friederike C. Hartung, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, Deutschland.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2022

Deutsche Spiegelfechterei um die europäische Raketenabwehr

Bilanz jahrzehntelanger Symbolpolitik: Wie nach dem Ende des Kalten Krieges die Luftabwehr systematisch heruntergefahren wurde - und welche Folgen das bis heute hat.

Von Ralph Rotte

Ende August dieses Jahres hat Bundeskanzler Olaf Scholz bekanntlich in seiner Prager Rede vorgeschlagen, eine effektive gemeinsame europäische Luftabwehr gegen ballistische und andere Raketen aufzubauen, deren Ursprung im Zweifel in Russland zu suchen sein würde. Bislang haben sich zwölf ost-, südost- und westeuropäische Länder dieser Initiative, welche sich anscheinend in Richtung einer Beschaffung des israelischen Systems "Arrow 3" bewegt, angeschlossen, mit der bemerkenswerten Ausnahme Polens (das wohl einen Raketenschutzschirm in Kooperation mit den USA präferiert) und Frankreichs (das auf seine eigene nukleare Abschreckung setzt). Gedacht als Teil der "Zeitenwende" bundesdeutscher Sicherheitspolitik angesichts des Ukrainekrieges stellt sich natürlich die Frage, wie durchdacht, effektiv und nachhaltig diese Initiative tatsächlich ist. Aus einer längerfristigen Perspektive kommt es da zupass, dass Friederike Hartung in ihrer Dissertation ein umfangreiches und differenziertes Bild der Entwicklung der militärischen und politischen Positionen zur deutschen Raketenabwehr im europäischen Kontext vorgelegt hat, welches durchaus eine Reihe von Fragezeichen aufweist, was die Ernsthaftigkeit und Wirksamkeit der Scholz'schen Programmatik betrifft.

Nach dem Ende des Kalten Krieges reduzierten sich die Flugabwehrraketenverbände der Bundeswehr im Zuge der allgemeinen Reduktion der Streitkräfte maßgeblich, ganz sichtbar im Rückgang der Zahl von sechs Flugabwehrraketengeschwadern der Luftwaffe im Jahr 1994 (wie 1970) auf eins im Jahr 2014. Nach bescheidenen Ansätzen zum Aufbau eines gemeinsamen europäischen Luftverteidigungssystems, etwa zur Ergänzung der US-amerikanischen SDI-Pläne in der Mitte der 1980er-Jahre, resultierte die Veränderung der Bedrohungswahrnehmung durch (sowjetische beziehungsweise russische) ballistische Raketen in einer nurmehr weitgehend abstrakten Befassung mit der Frage der Raketenabwehr in der bundesdeutschen Sicherheitspolitik: "Die Debatten zur flächendeckenden Raketenabwehr unabhängig davon, ob sie in den USA, in der NATO oder in Deutschland geführt wurden, waren ausschließlich theoriegeleitet und basierten auf potenziellen Bedrohungsszenarien. Generalinspekteur Kujat sprach 2001 im Verteidigungsausschuss von einer 'politischen Konzeption', an deren technischer Realisierbarkeit zu zweifeln sei."

Die vor dem Ende des Ost-West-Konfliktes angesichts der sowjetischen Bedrohung trotz der zeitgenössischen technologischen Grenzen wenigstens noch halbwegs verfolgten Bemühungen um eine europäische Raketenabwehr machten, wie Friederike Hartung herausarbeitet, einer weitgehenden Symbolpolitik zur Aufrechterhaltung der NATO und eines guten Verhältnisses zu den USA mit ihren weitergehenden Anti-Raketen-Plänen gegen Proliferationsgefahren (zum Beispiel vonseiten des Irak und Irans) Platz, ohne dass die Bundesregierung sich wirklich ernsthaft für entsprechende Investitionen interessierte: "Die Bundesrepublik bemühte sich zwar, den internationalen Anforderungen, eine führende Rolle in Europa zu übernehmen, gerecht zu werden. Doch standen diese Bemühungen im Missverhältnis zur grundsätzlichen, historisch bedingten Abneigung, auch in militärischer Hinsicht Verantwortung zu tragen. Die Bundesregierung setzte sich immer wieder für Konsultationen der US-Raketenabwehrpläne im Bündnis und für eine gemeinsame Position der europäischen NATO-Staaten ein. Im Vordergrund stand dabei die Sorge vor der Entstehung unterschiedlicher Sicherheitszonen und die damit einhergehende Frage nach der Existenzberechtigung der NATO."

Ein Schlaglicht auf die vor allem diplomatische Funktion der noch weiter bestehenden restlichen deutschen Raketenabwehr wirft die Stationierung von Patriot-Systemen der Bundeswehr im Kontext der NATO-Operation "Active Fence Turkey" gegenüber Syrien in den Jahren 2012 bis 2015, insbesondere vor dem Hintergrund der seit den 1990er-Jahren (weitgehend ergebnislos) stattfindenden Diskussion um die Entwicklung und Anschaffung eines Nachfolgesystems für die Patriot-Raketen (TLVS/Taktisches Luftverteidigungssystem und MEADS/Medium Extended Air Defense System): "Wie in den Debatten um die territoriale Raketenabwehr handelte es sich bei der Stationierung der Patriot-Systeme während des syrischen Bürgerkrieges in der Türkei vorrangig um eine militärische Vorsorge. Dass die deutschen Patriot-Systeme selbst im aktuellen Konfigurationsstand nur eingeschränkt geeignet waren, den Einsatzauftrag im Rahmen von AF TUR zu erfüllen, davon war sowohl in der politischen Debatte um die deutsche Beteiligung als auch in der öffentlichen Berichterstattung nie die Rede. So wirkte es fast surreal, wenn man die 'politische Euphorie', einen öffentlichkeitswirksamen Beitrag im Bündnis leisten zu können, mit der Argumentation für die Beschaffung von TVLS/MEADS vergleicht."

Neben der angesichts von seit 1990 schrumpfenden Verteidigungsetats problematischen Finanzierung, welche unter anderem noch Anfang 2021 dazu führte, dass das Bundesverteidigungsministerium eine "Erstbefähigung des Luftverteidigungssystems für den Nah- und Nächstbereichsschutz (. . .) bis spätestens 2026" priorisierte, war die Frage nach der Wirkung eines etwaigen Ausbaus der Abwehrmöglichkeiten gegen ballistische Raketen auf das Verhältnis zu Russland für die Bundesrepublik - ebenso wie für die westeuropäischen Partner Frankreich, Italien und Spanien - von essenzieller Bedeutung für die deutsche Haltung. Denn für "Deutschland war es aufgrund seiner geostrategischen Lage und seiner Funktion als zentraleuropäische Mittelmacht der NATO stets sehr wichtig, dass die Politik zur flächendeckenden Raketenabwehr nicht zu Spannungen mit Russland führte. Die politische Debatte und die Argumentation für oder gegen eine deutsche Beteiligung an der Raketenabwehr bewegte sich primär zwischen der Sorge vor russischer Kritik auf der einen Seite und dem US-amerikanischen Druck auf der anderen." Damit demonstriert die materialreiche Untersuchung Friederike Hartungs augenfällig, wie die bundesdeutsche Sicherheitspolitik nach dem vermeintlichen Ende der unmittelbaren Bedrohung des Territoriums der Bundesrepublik 1989/90 einer Mischung aus Realisierung der "Friedensdividende", einem Vorrang kurzsichtiger nationaler Interessen und einer Gratwanderung zwischen Aufrechterhaltung der besonderen Beziehungen zu den USA und einer - im Nachhinein allzu naiven - Berücksichtigung russischer strategischer und ideologischer Interessen Platz machte.

Das Ergebnis war ein politisch-diplomatischer Pseudo-Aktionismus im Bereich der strategisch-operativen Raketenabwehr, welcher mit einer genuinen langfristigen Bedrohungsanalyse und Militärstrategie der Bundesrepublik kaum etwas zu tun hatte und quasi eine verteidigungspolitische Spiegelfechterei zur Überdeckung nationaler Egoismen veranstaltete. Ob sich dies durch die proklamierte "Zeitenwende" mit einem nunmehr robusteren Auftreten gegenüber Russland tatsächlich ändert, bleibt abzuwarten. Ohne dies im Kontext ihrer wissenschaftlichen Analyse zu kritisch-polemisch zu formulieren, verdeutlicht Friederike Hartungs Studie letztendlich allzu klar, dass Bundesregierungen jedweder Couleur im Feld der Verteidigungspolitik einen deutlichen Hang zu "mehr Schein als Sein" haben, solange es keine ganz unmittelbar wahrgenommene eigene Bedrohung gibt.

Friederike C. Hartung: Ein Dach über Europa. Politische Symbolik und militärische Relevanz der deutschen bodengebundenen Luftverteidigung 1990 bis 2014.

DeGruyter Oldenbourg Verlag, Berlin 2022. 340 S., 39,95 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Rezensent und Politikwissenschaftler Ralph Rotte rückt Friederike C. Hartungs Buch Olaf Scholz' in seiner Prager Rede im August geäußerte Zusage an eine europäische Luftabwehr ins rechte Licht. So zeigt ihm Hartungs "materialreiche" und differenzierte Studie, die sich mit der Entwicklung der deutschen Raketenabwehr seit Ende des Kalten Krieges befasst, deutlich, dass solche Lippenbekenntnisse vor dem Hintergrund dieser Entwicklung mit Vorsicht zu genießen sind. Denn nachdem nach Ende des Ost-West-Konflikts 1990 die unmittelbare Bedrohung durch ballistische Raketen beseitigt schien, habe die Bundesrepublik statt ernsthafter Bemühungen zur Beteiligung an einer gemeinsamen Luftabwehr eher eine "Spiegelfechterei" vollführt, geprägt von der egoistischen Sorge um die Beziehung zu Russland und zu den USA, wie Rotte lesen muss. Wie Hartung diese Tendenz im Grunde "jedweder Bundesregierung" herausarbeitet, ohne zu sehr zu polemisieren, findet der Kritiker eindrucksvoll und wichtig.

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