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"Ich habe in mich hineingehorcht und entschieden, alle Freiheiten zurückzugeben und mich ganz unserem himmlichen Herrn zu unterwerfen." Katja Rothenberger, 30, kann sich nicht beklagen - sie hat eine glückliche Kinderladenkindheit, einen umsichtigen Freund, eine Berliner Wohnung mit Holzfußboden und eine gut gegliederte Doktorarbeit. Woher nur kommt ihre Unzufriedenheit? Katja reist in die ostsächsische Kleinstadt, in die Reinhardt, ihr Jugendpfarrer, nach der Wende strafversetzt worden ist - er war ihre erste große Liebe. Dort begegnet sie Gernot, einem Anhänger einer fundamentalchristlichen…mehr

Produktbeschreibung
"Ich habe in mich hineingehorcht und entschieden, alle Freiheiten zurückzugeben und mich ganz unserem himmlichen Herrn zu unterwerfen."
Katja Rothenberger, 30, kann sich nicht beklagen - sie hat eine glückliche Kinderladenkindheit, einen umsichtigen Freund, eine Berliner Wohnung mit Holzfußboden und eine gut gegliederte Doktorarbeit. Woher nur kommt ihre Unzufriedenheit?
Katja reist in die ostsächsische Kleinstadt, in die Reinhardt, ihr Jugendpfarrer, nach der Wende strafversetzt worden ist - er war ihre erste große Liebe. Dort begegnet sie Gernot, einem Anhänger einer fundamentalchristlichen Sekte, der Katja das bietet, was ihr offenbar in ihrem Leben gefehlt hat: Führung statt Freiheit, Gefolgschaft statt Sinnsuche. Selbstbestimmt wie sie ist, liefert sich Katja den neuen Regeln aus - und gerät in eine lebensbedrohliche Liebe zwischen totaler Hingabe und absoluter Abhängigkeit.
Autorenporträt
Anke Stelling, geboren 1971 in Ulm, aufgewachsen in Stuttgart und Berlin, studierte in Leipzig und lebt heute mit Mann und drei Kindern in Berlin. Sie arbeitet als Prosa- und Drehbuchautorin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2010

Echte Männer gibt es nur noch im Osten

Alt und Jung, Macho und Mauerblümchen: In "Horchen" lässt Anke Stelling zusammenwachsen, was nicht zusammengehört. Der Roman erzählt die Passionsgeschichte einer jungen Frau auf der Suche nach einem ganzen Kerl.

Der Osten Deutschlands ist offenbar eine Landschaft blühender Vaterkomplexe, ein fremder Kontinent, in dem die alte Ballade von der sexuellen Hörigkeit noch Erlösung von spätbürgerlicher Dekadenz und antiautoritärer Erziehung verspricht. In Katja Oskamps Roman "Hellersdorfer Perle" verlässt eine Schauspielerin aus der Latte-macchiato-Boheme über Nacht Kind, Mann und Freunde, um sich in einer versifften Kneipe im östlichsten Osten Berlins frag- und willenlos einem alten Mann mit Krückstock, Bauarbeiterhänden und groben Manieren hinzugeben. Noch tiefer sinkt nun eine Theaterwissenschaftlerin aus der schwäbischen Provinz in Anke Stellings Roman "Horchen". Im östlichen Sachsen, einem unwirklich leuchtenden Paradies am Rande der Welt, wirft sich die aufgeklärt agnostische Dreißigjährige aus linksalternativem Elternhaus einem Betbruder an den Hals.

Vielleicht ist es das Drama des begabten Kindes. In Ulla Lenzes "Archanu" verliebte sich kürzlich eine hochintelligente Gymnasiastin auf dem religiösen Selbsterfahrungstrip in einen einfühlsamen Sektenbeauftragten; er taugte weder als Vaterfigur noch als Liebhaber. Anke Stellings Katja, schon als Einserschülerin so klug, dass sie "kotzen" wollte, sucht nicht Gott oder Gurus, aber doch auch Halt, Sinn und Erlösung vom Denken. Sie findet einen - jungen und gutgebauten - Sektenapostel, der ihr die gelangweilte Seele und den lästigen Geist aus dem ungeliebten Leib prügelt und vögelt. "Du siehst müde aus, Mädchen": Ein einfaches Wort, ein Mann, der weiß, wo's langgeht, und schon ist es um die Kinder der kritischen Vernunft geschehen. "Was ihr uns mitgeben wolltet", schreibt Katja an ihre verständnisvollen Achtundsechziger-Eltern, "hat mich nicht glücklich gemacht. Ich habe in mich hineingehorcht und entschieden, alle Freiheiten, das Recht auf Selbstbestimmung und die Chancen der Gleichberechtigung an euch zurückzugeben und mich ganz dem himmlischen Herrn zu unterwerfen. Was ihr versucht habt, war ein Experiment, das in meinem Fall leider gescheitert ist."

Schon in ihrem Roman "Nimm mich mit" beschrieb Anke Stelling, damals noch zusammen mit Robby Dannenberg, eine unmögliche Amour fou zwischen einem Stuttgarter Studienrat und einer Leipziger Fixerin. Auch diesmal wächst, kaltblütig erzählt, zusammen, was nicht zusammengehört: Alt und Jung, Macho und Mauerblümchen, hypertropher Intellekt und bewusstloses, dumpfes Sein, das saturierte, linksliberale Bürgertum des Westens und die Randgruppen und Unterschichten im Osten. Ostdeutschland ist in "Horchen" ein Hort dunkel lockender Mythen und Märchen, vor deren roher Kraft und wütender Inbrunst eine hohle Konsum- und Therapiegesellschaft kapituliert. Die evangelikale Sekte ist nur ein Betkreis strenggläubiger Spießer, ihr Geruch der Heiligkeit ein Miasma aus Fünfziger-Jahre-Mief, Essensdünsten und ranzigen Blümchengardinen.

Gernot aber, ein Mann wie aus dem Feindbilderbuch der Frauenbewegung, ist der leibhaftige Versucher, eine Naturgewalt in Missionarsstellung: Er fordert Demut, Gehorsam und schweigende Hingabe, wenn er mit Katja schläft, sie als schmutzige Schlampe beschimpft und beim Baden wie ein falscher Täufer unter Wasser drückt. Selbst wenn er sie putzen, kochen und das Vaterunser aufsagen lässt, fühlt Katja sich noch wie Eva im Paradies, frei und leicht wie nie. Sie glaubt nicht, aber als Magd des Herrn sagt sie nicht nur nach dem Sex halleluja und amen. "Der Mann ist das Haupt der Frau" steht in der Bibel.

Der Gebetskreis, Gernots befremdliche Spielchen und gestelzte Predigten, seine Sozialarbeit mit gepiercten Himmelsbräuten und schmuddeligen Neonazis: Eigentlich, so ahnt der Leser noch vor der Protagonistin, ist alles nur ein "fürchterlicher Irrtum". Aber Gernot ist der Mann, den Katja immer gesucht hat: schön, stark, zupackend, von keinem Zweifel angekränkelt. Sie hingegen hadert schon lange mit ihrem Geist, ihrem Körper und ihrem Leben. Die "emanzipatorischen Kinderlieder" aus dem Kinderladen kommen ihr aus den Ohren heraus; vor der ironisch-unverbindlichen Toleranz und den handgemachten Maultaschen im perfekten Elternhaus floh sie nach Berlin, um "was mit Kunst" zu machen. Für das Glück war die frühreife Bescheidwisserin immer schon zu reflektiert. Pastor Reinhardt, ihre erste Liebe, war ein progressiver Jugendseelsorger, der ihr alles über Jean-Luc Godard und Heiner Müller beibrachte, aber das verliebte Pummelchen dann doch für seine nabel- und geistfreien Lolitas verriet und strafversetzt wurde. Lars, ihr Berliner Freund, ist ein netter Kerl, der ihr zwar Trostspaghetti und Verführungspudding kocht, aber partout kein Kind machen will. Ihr Doktorvater springt galant als Samenspender ein, aber er klammert und schnarcht obendrein. Katja sucht einen Mann, der sie mit- oder auch mal hernimmt, und so etwas gibt es eben nur noch im Osten.

Bei Kamenz findet Stellings Heldin das Gelobte Land. Reinhardt ist auch im ostdeutschen Exil noch der smarte Mädchenschänder, sein Vorgesetzter eine "fette Schwuchtel", der über die Verfehlungen seines Glaubensbruders hinwegsieht und eigene Schuldgefühle im Alkohol ertränkt. Aber der Dritte im Pfarrhaus-Bund ist Katjas Mann. Gernot ist die Sünde so verhasst wie protestantische Liberalität und postmoderne Wurstigkeit. Bescheiden, enthaltsam und altmodisch entschlossen sühnt er seine Vergangenheit als psychiatrisch auffälliger Künstler mit Beten und Fasten. Auch Gernots straffes Fleisch wird manchmal schwach. Aber wenn er schon, aus christlicher Barmherzigkeit, alttestamentarischer Grausamkeit oder altböser Lust, Katjas Flehen erhört, soll die Schlange wenigstens dafür büßen.

Katja empfindet sich als "Siebzigerjahreauslaufmodell" und ihre Erniedrigung als Gnade. Selbst wenn Gernot ein gefährlicher Irrer ist, bleibt er doch "ein Anführer, ein Aufrührer im Dienste des Herrn", in dessen Armen sie zur Ruhe kommt, und dafür nimmt sie sogar die alberne Engelssprache, die geschmacklosen Gardinen und seinen heiligen Zorn in Kauf. Er wiederum hat sein "Mäuschen" durchschaut und alles verziehen: Katja ist "ein bisschen schroff und vorlaut, aber im Grunde ein liebes Mädchen auf der Suche nach Führung".

So gibt sie alles emanzipatorische Eiapopeia von Individualität, Menschenwürde und Gleichberechtigung her, bis sie nur noch ein psychisches Wrack ist, willenlos bis zur Hörigkeit. Stelling beschreibt Katjas Passion mit schmerzhafter lakonischer Sachlichkeit; ohne psychologische Erklärungen, moralische Urteile und Hoffnung auf Rettung, aber auch ohne antiklerikale Affekte und Lust an der Provokation. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ein Kinderladenkind sich träumen lässt.

Anke Stelling, Jahrgang 1971 und selber dreifache Mutter, erzählt in "Horchen" eindrucksvoll von diesen Albträumen. Verglichen mit der Selbsterniedrigung ihrer übergewichtigen und intellektuell überzüchteten Schwäbin im Nahen Osten Deutschlands, ist die geborgte Authentizität oberschlauer Schwanzlurche im Club Berghain ein "Tabubruch" der harmloseren Sorte.

MARTIN HALTER

Anke Stelling: "Horchen". Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 224 S., geb., 18,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Geschichten über Frauen, die gar nicht dieses selbstbestimmte, aufgeklärte Leben wollen, das ihnen der Westen quasi aufzwingt, liegen ja derzeit im Trend. Und da Rezensent Martin Halter jedes Verständnis für Leute hat, die dem postmodernen Berliner Hauptstadtleben mit seinem "emanzipatorischen Eiapopeia" entkommen wollen, gefällt ihm auch diese Passionsgeschichte von Anke Stellings Roman "Horchen". In seinem Mittelpunkt steht die übergewichtige Exil-Schwäbin Katja, die von ihren 68-Eltern in einen Kinderladen gegeben worden war und auch mit 30 Jahren noch nicht die dort gelernten Rappelkisten-Lieder verwunden hat, ebenso wenig ihre Intellektualität und ihre Freiheit. Deswegen unterwirft sie sich dem fanatisch-sadistischen Gernot und lässt sich von ihm so lange durchvögeln und -prügeln, bis sie nur noch ein psychischen Wrack ist. Dass Stelling sich psychologische Erklärungen spart, beeindruckt Halter besodners, aber auch eine "schmerzhaft lakonische Sachlichkeit" kann er ihr attestieren. Und schließlich freut er sich, dass das Buch keine antiklerikalen Ressentiments schüre. Nur leichte Zweifel kommen ihm angesichts der Darstellung des Ostens als Hort geistloser Dumpfheit.

© Perlentaucher Medien GmbH