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Der Doyen der Holocaust-Forschung zeigt an zahlreichen Beispielen, wie er mit den Quellen umgeht und sie zum Sprechen bringt. Er führt vor, wie aus einem kargen, in interessegeleiteter Tarnsprache formulierten Papier (Befehl, Anordnung, Anweisung, Bericht etc.) ein Dokument dessen wird, was der jeweilige Urheber eigentlich gemeint hat. Dokumente sprechen eben nie für sich, sondern erst dann, wenn sie sachkundig befragt und mit ausgefeilten quellenkritische Methoden bearbeitet werden.

Produktbeschreibung
Der Doyen der Holocaust-Forschung zeigt an zahlreichen Beispielen, wie er mit den Quellen umgeht und sie zum Sprechen bringt. Er führt vor, wie aus einem kargen, in interessegeleiteter Tarnsprache formulierten Papier (Befehl, Anordnung, Anweisung, Bericht etc.) ein Dokument dessen wird, was der jeweilige Urheber eigentlich gemeint hat. Dokumente sprechen eben nie für sich, sondern erst dann, wenn sie sachkundig befragt und mit ausgefeilten quellenkritische Methoden bearbeitet werden.
Autorenporträt
Raul Hilberg, geboren am 2. Juni 1926 in Wien, mußte 1939 über Kuba in die USA auswandern. Er studierte unter anderem bei Franz Neumann ("Behemoth") und gehörte zu den ersten Wissenschaftlern, die mit den in die USA überführten deutschen Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus arbeiten durften. Hilberg lehrte bis zu seiner Emeritierung Politische Wissenschaften an der Universität Burlington / Vermont. Mit seinem grundlegenden Werk "The Destruction of the European Jews" (Chicago 1961), das in viele Sprachen übersetzt wurde, ist Hilberg weltbekannt geworden. Um die Vernichtung der Juden in Europa vollständig verstehen zu können, untersuchte der Autor schließlich im Jahre 1976 in den Archiven der Bundesrepublik die bisher wenig beachteten Unterlagen über die Rolle der Reichsbahn im "Vernichtungsprozeß des Dritten Reiches". Die "Sonderzüge nach Auschwitz" (Mainz 1981) waren die erste deutschsprachige Veröffentlichung des Autors.
Rezensionen
Quellenstudium
Dies ist ein Leitfaden für Forscher des Nationalsozialismus durch das Labyrinth der Dokumente. Es ist kein Handbuch, sondern eine Analyse, eingeteilt in fünf Kapitel, die nacheinander den Typus des Quellenmaterials, seine Komposition, seinen Stil und die Nutzbarkeit behandeln. Ein Löffel, der von einem Lagerhäftling benutzt wurde, ist ebenso eine Quelle wie ein Schreiben auf amtlichem Papier oder das auf Tonband aufgenommene Zeugnis eines Überlebenden.
Sprache der Diktatoren
Der namhafte Holocaust-Forscher Raul Hilberg verweist auf spezielle Wörter und Symbole, prosaische Formulierungen und Ausschmückungen, drastische oder verschleiernde Sprache. So galt als "einfache Methode", Morde mit der Berufung auf das Recht zu bemänteln. Eine Formel, die von der 1. SS-Brigade für Massenerschießungen von Juden gebraucht wurde, lautete: "Aktionen nach Kriegsbrauch." Für die Ungeschminktheit und den Zynismus stehen zwei Sätze von Reichsführer Himmler 1943 vor SS-Gruppenführern: "Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei... anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht."
Detaillierte Studien
Der Forscher, so argumentiert der Autor, interessiert sich nicht nur für Befehlsgeber, Vollstrecker oder Profiteure, sondern auch für Vordenker, Förderer und Zuschauer. Nicht nur die Wirtschaftskonzerne, auch kleinere Firmen müssen betrachtet werden, die Zwangsarbeiter beschäftigt oder Konzentrationslager und Gaskammern gebaut haben. Die Ausdehnung dieser Forschungsbemühungen war erst nach dem Ende des kalten Krieges möglich, weil danach eine uneingeschränkte Freigabe der Quellen erfolgte. Sie ermöglichten detaillierte Studien wie dieses Buch, die das Bild vom Nationalsozialismus vervollständigen.
(Mathias Voigt, literaturtest.de)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Herrenmenschenwüten
Die Quellen zur Judenvernichtung / Von Klaus-Dietmar Henke

Meine wissenschaftlichen Arbeiten habe ich nie damit begonnen, die großen Fragen zu stellen; einfach in der Befürchtung, nur mit kleinen Antworten aufwarten zu können. Ich habe es deshalb vorgezogen, mich den signifikanten Kleinigkeiten oder Details zuzuwenden, um sie dann vielleicht in eine Gestalt bringen zu können, die das überlieferte Geschehen erklärt oder wenigstens umfassender beschreibt." So umriß Raul Hilberg, Autor des monumentalen Klassikers "Die Vernichtung der europäischen Juden" und Koryphäe auf diesem Forschungsfelde, einmal seinen Arbeitsstil als Historiker.

Da der deutsche Staatsmord an über fünf Millionen Menschen nur als politisch-bürokratischer Prozeß zu fassen ist, versetzt Hilberg sich vor allem über die erhalten gebliebenen Schriftstücke in die Handlungssituation der Bediensteten der gigantischen Definitions-, Enteignungs-, Konzentrations-, Deportations- und Ausrottungsmaschinerie. Kanzleien, Ämter und Stäbe sind aber kein abstraktes Räderwerk, sondern sie werden von arbeitsteilig und zweckrational vorgehenden Menschen "beseelt" - beim Judenmord an die zweihunderttausend -, für die bürokratische Tradition und Routine ebenso handlungsleitend sein können wie weltanschauliche Unbeirrbarkeit. Diese Kleinteiligkeit bei der "Realisierung des Utopischen" (Hans Mommsen) treibt Hilberg zur Decodierung noch der scheinbar nebensächlichsten Akten-Partikel. Dahinter steckt aber mehr als die Anwendung einer Methode, die der Struktur seines Gegenstandes angemessen ist, oder sein auch für die dritte Generation von Holocaust-Forschern geradezu stilbildendes Ethos der Gründlichkeit: Es ist Hilbergs Überzeugung, "daß auf jeder Seite einer Quelle die ganze Kultur einer Gesellschaft enthalten ist, in jeder Akte ihre herrschenden Gedanken".

In seinem - wie er sagt - "letzten Buch" vergewissert sich der 76 Jahre alte Zeithistoriker aus Vermont nun seiner Erkenntnisgrundlagen. Nachdem Hilberg sich mehr als fünfzig Jahre lang mit dem Vernichtungsprozeß selbst befaßt hat, lädt er die Leser seiner Bücher nun ein, mit ihm den Rohstoff seines Lebenswerkes zu mustern: die Quellen des Holocaust. Dabei bleibt er sich treu und ruft nicht die großen Fragen abstrakter Erkenntnistheorie auf, sondern erläutert völlig unprätentiös, was historische Quellen sind ("Fragmente einer größeren Konfiguration"), welche verschiedenartige Gestalt, welche Sprachstile, welche offenkundigen und verborgenen Inhalte sie haben und was die Nachwelt aus ihnen erfahren kann. Der Autor, der auffallend häufig von dem "Geschehen im vergangenen Jahrhundert" spricht, erläutert zunächst seine Systematisierung, in der er zwischen dreidimensionalen (bauliche Anlagen und Gegenstände) und zweidimensionalen Informationsquellen über den Holocaust unterscheidet. Letztere wiederum unterteilt er in seinerzeit frei zugängliche und interne "Dokumente" (zeitgenössische Schriftstücke) und nach 1945 entstandene "Zeugnisse".

In seiner alles durchdringenden Sachlichkeit, die auch um Proseminar-Stoff keinen Bogen macht, schildert er die unterschiedlichen Wege der mitunter odysseehaften Aktenüberlieferung und analysiert den zunehmenden Abstraktionsgrad des Berichtswesens auf dem Weg von den killing fields nach Berlin ebenso wie die zunehmende Wucht von Anordnungen auf dem Wege von oben zu den Opfern hinunter. Das meiste belegt er mit illustrierenden Mosaiksteinchen aus der Fülle seiner Kenntnis und erläutert ihre Anordnung oder Gewichtung im Zuge seines Erkenntnisprozesses - denn jeder Spur in den Quellen "entsprach einmal eine Handlung in dem ablaufenden Vernichtungsprozeß". Fast alle Entscheidungen zur Vorbereitung des Zivilisationsbruchs stehen für ihn in einer beschwichtigenden bürokratischen Tradition und verinnerlichten Ordnung. "Die Idee einer Problemlösung zieht sich wie ein roter Faden durch die Akten der Bürokratie. Die Juden behandelt man schon grundsätzlich als ein ,Problem', und die gegen sie ergriffenen Maßnahmen waren dementsprechend ,Lösungen'."

Raul Hilberg beschreibt die Überlieferung der Täter und der Opfer gleichermaßen. Dabei macht er keinen Hehl daraus, um wieviel höher er die Aussagekraft der zeitgenössischen Dokumente einstuft gegenüber den aus der Zeit nach dem Nationalsozialismus entstandenen Zeugnissen.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurden in den Regionen des hauptsächlichen Mordgeschehens riesige neue Vorkommen des Hilbergschen "Rohstoffs" zugänglich. Sie verdüstern das Bild vom Wüten des deutschen Herrenmenschen noch, weil man besser erkennt, wie reibungslos, erfinderisch und häufig eigeninitiativ es von den Beteiligten inszeniert wurde. Indem der Autor mit seinen Beispielen den Leser in das Warschauer Ghetto, in die Jüdische Kultusvereinigung zu Berlin, in das Arbeitszimmer des Ministerialbeamten Hans Globke oder in den Stab der 454. Sicherungs-Division in Schitomir/Ukraine führt, baut sich wie nebenher auch eine Vorstellung von der Multikausalität des Massenmordes auf.

Um die Gedankengänge der Autoren der überlieferten Akten zu ergründen, analysiert Hilberg ihre verschleiernden, ausweichenden oder drastischen Sprachformen. Außerdem untersucht er die Prämisse, die den Quellen zwischen 1933 und 1945 von vornherein ihre Form gab, den "Grundsatz, daß alle Juden aus dem deutschen Leben verschwinden mußten". Den Erläuterungen zum radikal unterschiedlichen Vorwissen des Benutzers und des Erzeugers von Quellen (der ja meist nur Ergänzungen zum damals Geläufigen vornimmt) folgen Beispiele für die indirekte Erschließung von Verschwiegenem aus Geschriebenem.

Gleichwohl, "die Wirklichkeit der Ereignisse entzieht sich jedem endgültigen Zugriff, und die unermüdliche Suche nach jedem kleinen Zugewinn geht weiter, und mag sie noch so aufwendig sein, damit nicht alles wieder preisgegeben werden muß und vergessen wird". Es ist, als ob ein Künstler - denn für Raul Hilberg ist die Historiographie eine Kunst - die tiefe Verwurzelung seines Schaffens in Realität und Rationalität unter allen Umständen so transparent wie irgend möglich machen möchte, weil er besorgt ist, es könnte einmal an der Wahrheit seiner Botschaft gezweifelt werden.

Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 256 Seiten, 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2003

Dechiffriert
Raul Hilbergs Überblick
über die Quellen des Holocaust
Der seit Jahren unaufhaltsam breiter werdende Forschungsstrom zur Geschichte der Judenvernichtung zeigt eines deutlich: Die schiere Fülle – nicht etwa der Mangel – an historischem Quellenmaterial stellt die Geschichtswissenschaft vor große Herausforderungen.
Dass die nationalsozialistische Vernichtungspolitik schon angesichts der Quellenmassen nicht auf einfache Formeln zu bringen ist, hat Raul Hilberg in vielen Studien anschaulich gezeigt. Nun legt der sechsundsiebzigjährige Pionier der empirischen Holocaustforschung, der kürzlich mit dem Geschwister- Scholl-Preis ausgezeichnet wurde, ein Kompendium über die Quellen des Holocaust vor. Das Buch ist ein Novum in der Historiographiegeschichte zum Judenmord. Es zeugt von Hilbergs stupender wissenschaftlicher Erfahrung und seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Planung und Realisierung der Massenvernichtung. Eindrucksvoll führt der emeritierte Professor der University of Vermont seine Arbeitsmethode vor Augen, die er im Gespräch mit Claude Lanzman, dem Regisseur von „Shoah”, einmal so beschrieben hat: Es gehe ihm nicht um Erklärungen, sondern um die Details, die er zu erfassen und zu einem Gesamtbild zu fügen suche, um dem unfassbaren Geschehen möglichst nahezukommen.
Besser und klarer könnte kaum ein anderer einen Leitfaden durch das Gestrüpp der Holocaust-Quellen verfassen. Dass manche Formulierung spröde ist, manche Feststellung überflüssig wirkt und einige Verweise auf das zu DDR Zeiten sogenannte „Zentralarchiv Potsdam”, das längst ins Bundesarchiv eingegliedert wurde, enthalten sind, kann den Wert des Buches kaum mindern.
Hilberg gelingt in fünf Kapiteln die Systematisierung der historischen Materialflut. Er untersucht die unterschiedlichen Quellentypen, wobei er die zeitgenössischen schriftlichen Quellen ernster nimmt als die oral history, deren Methoden er zweifelhaft findet. Hilberg studiert die Komposition schriftlicher Quellen, analysiert Sprache und Stil, deutet Inhalte und nimmt Auslassungen ebenso wichtig wie das Bezeugte.
Die Lektüre erschließt scheinbar beiläufig die Hierarchieebenen der NS-Bürokratie. Deutlich wird überdies, dass der Judenmord ein hochkomplexer, arbeitsteilig organisierter Prozess war, an dem die Zentralbehörden des Dritten Reiches ebenso teilhatten wie kommunale deutsche Dienststellen in den besetzten und eroberten Ländern. Wertvolle, da spärliche Zeugnisse von Überlebenden werden vorgestellt, die Tarnsprache und die Euphemismen des NS- Verwaltungsjargons werden sorgfältig dechiffriert.
„Jede Quelle kann von Bedeutung sein”, schreibt Raul Hilberg und verdeutlicht, was der Student im Proseminar ebenso beherzigen muss wie der erfahrene Wissenschaftler: Die Taxierung des Quellenwerts hängt von der Fragestellung des Forschenden ab. Die Zeitgeschichtsforschung, so Hilbergs Fazit, hat ihre Möglichkeiten zur Erschließung und differenzierten Interpretation der Quellen des Holocaust noch längst nicht ausgeschöpft. Die Suche nach dem Rohmaterial der Verbrechensgeschichte muss weitergehen, schon um jeglichen Zweifel am systematischen Massenmord zu zerstreuen.
SYBILLE
STEINBACHER
RAUL HILBERG: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 256 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Raul Hilbergs ganze Erfahrung als "Pionier der empirischen Holocaust-Forschung" fließt in dieses Buch, das Sybille Steinbacher als Novum bezeichnet. Um Hilbergs Methode und sein Arbeitsethos zu charakterisieren , zitiert ihn die Rezensentin aus einem Interview mit Claude Lanzmann, worin Hilberg verkündet hat, es gehe ihm nicht um Erklärungen, sondern um die Details, die er zu einem Gesamtbild zusammenfügen wolle, um dem Schrecklichen möglichst nahe zu kommen. Eine Erkenntnis dieses Kompendiums lautet für Steinbacher, dass jede Quelle von Bedeutung sein kann und dass noch längst nicht alle Quellen abgefragt oder ausgeschöpft sind. Wie man der Materialflut Herr werden kann, breitet Hilberg in fünf Kapiteln aus, berichtet Steinbacher. Er untersuche die verschiedenen Quellentypen, analysiere ihre Komposition und den Stil, deute Inhaltliches und nehme Auslassungen ebenso ernst wie das Gesagte. Nur von der Oral history scheint Hilberg nicht viel zu halten, so Steinbacher. Der Leser jedenfalls wird, folgt man Steinbachers Rezension, einerseits eingeführt in exemplarisches historisches Arbeiten, andererseits erfährt er eine Menge über die Hierarchieebene der NS-Bürokratie und die komplexe Organisation des Massenmords an den Juden.

© Perlentaucher Medien GmbH